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Full text of "Die Parodie im Mittelalter"

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LEHMANN,   PARODIE  IM  MITTELALTER 


DIE  PARODIE 
IM  MITTELALTER 


PAUL"  UEHMANN 

PROFESSOR  AN  DER  UNIVERSITÄT  MÜNCHEN 


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1922 

DREI  MASKEN  VERLAG 
MÜNCHEN 


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ALLE  RECHTE  VORBEHALTEN 

COPYRIGHT  1922 

BY  DREI  MASKEN  VERLAG  A.»G. 

MÜNCHEN 


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KARL  VOSSLER 

ZUM  6.  SEPTEMBER  1922 


INHALTSÜBERSICHT 

Seite 
Einleitung 9 

Ursprung  und  Anfänge 19 

Entfaltung  der  Parodie  vom  elf  ten  bis  fünf  zehnten  Jahr- 
hundert ^"* 

I.  Die  kritisierende,  streitende  und  triumphierende  Parodie     .  43 — 135 

1.  Gegen  die  römische  Kurie  und  die  hohe  Geistlichkeit    ...    43 

2.  Gegen  Klöster,  Mönche  und  Mönchsorden 101 

3.  Gegen  die  übrige  Christenheit 111 

4.  Einzelne  Persönlichkeiten,  Ereignisse  und  Zustände  der  mittel- 
alterlichen  Welt  in  der  satirischen  Parodie 119 

II.  Die  heitere,  erh  eiternde,  unterhaltende  Parodie 136 — 246 

1.  Liebesleben    .    .        142 

2.  Zechen,  Schlemmen,  Spielen 174 

3.  Goliarden-  und  Studentenleben 208 

4.  Unterhaltende  Züge  und  Stücke  verschiedener  Art  ....      228 
Register 247 


EINLEITUNG 

Die  lateinische  Literatur  des  Mittelalters  ist  voller 
Entlehnungen  und  Nachahmungen.  Oft  bis  zum 
Überdruß  klingen  uns  aus  ihr  Gedanken,  Verse  und 
Sätze,  Phrasen,  Worte  und  Wörter  der  Antike,  der 
Bibel,  der  Kirchenväter,  okzidentaler  und  orientalischer 
Schriftstücke  verschiedener  Zeiten  und  Gattungen  ent- 
gegen. Bewußt  und  unbewußt  hat  man  die  Autoritäten 
von  Kirche  und  Schule  immer  wieder  sprechen  lassen. 
Der  Erforscher  der  mittellateinischen  Poesie  und  Prosa 
hat  nicht  allein  die  mühsame  Aufgabe,  die  Zitate,  die 
zahlreichen  Nachahmungen  und  Anklänge  auf  ihre  Quel- 
len zurückzuführen  und  taktvoll  —  wie  es  leider  oft 
nicht  geschehen  ist  —  zu  unterscheiden,  was  wirklich 
Entlehnung,  was  unbewußte  Herübernahme  im  ganzen 
oder  einzelnen  ist,  sondern  auch  zu  beurteilen,  das  Ur- 
teil darüber  vorzubereiten,  ob  und  inwieweit  das  Mittel- 
alter trotz  der  gewollten  und  ungewollten  Verkettung 
mit  der  Vergangenheitsliteratur  sich  in  den  Gefilden  der 
Gedanken,  des  Wortes  aufrecht  und  frei  bewegt  hat. 

Ist  auch  die  Verachtung  des  Mittellateins  nicht  mehr 
so  abgrundtief  und  allgemein  wie  im  18.  und  fast  im 
ganzen  19.  Jahrhundert,  haben  Männer  wie  L.  Traube, 
W.  Meyer,  P.  von  Winterfeld  nicht  vergebens  jahr- 
zehntelang ihre  Kräfte  angespannt,  ihre  Gesundheit  ge- 
opfert, um  Verständnis,  ja  Liebe  für  das  abendländische 
Schrifttum  in  der  lateinischen  Sprache  des  Mittelalters 
zu  gewinnen,  so  werden  wir  Schüler  und  Nachfolger 
jener  Bahnbrecher  doch  immer  noch  manch  Lächeln 
über  dife  bald  barbarisch  roh,  bald  epigonenhaft  und 
dekadent  scheinende  mittellateinische  Sprache  und  Lite- 
ratur ertragen  oder  verscheuchen  müssen,  verscheuchen 
nicht    durch    jene    Fanfaren    und    Reklameplakate,    die 


1 0  Literarische  Nachahmung 

heute  die  Mystik  und  Gotik,  morgen  die  primitive  Er- 
zälilungskunst  und  Anekdotenfülle  modern,  anziehend  zu 
machen  suchen,  verscheuchen  vielmehr  und  Achtung, 
Beachtung  uns  erringen  durch  wissenschaftlich  ehr- 
lichen Bericht,  wie  es  denn  eigentlich  gewesen  ist.  In 
diesem  Bericht  muß  stehen,  daß  die  sprachliche,  litera- 
rische Nachahmung  im  Mittelalter  außergewöhnlich 
groß  gewesen  ist,  soll  aber  ebenfalls  klar  und  eindring- 
lich gesagt  werden,  daß  trotz  der  Imitation  und  oftmals 
durch  sie  der  mittelalterliche  Schriftsteller  Großes  ge- 
leistet und  Schönes  gespendet  hat,  nicht  bloß  in  der 
temperamentvoll  erzählten,  parteiisch  gefärbten  Fran- 
kengeschichte Gregors  von  Tours,  in  Bedas  quellreiner 
Erzählung  von  den  Anfangsschicksalen  der  englischen 
Christenheit,  in  Einharts  stilvollem  Leben  Karls  des 
Großen,  in  Ekkeharts  fesselndem  Gesang  von  Walther 
und  in  sonstigen  Texten,  die  vornehmlich  für  die  natio- 
nale Geschichte  und  Sage  ergiebig  sind,  nicht  bloß  in 
weihevollen  H^^mnen  und  Sequenzen,  in  mächtig  empor- 
ragenden Gebäuden  von  Theologie  und  Philosophie, 
nein.  Herrliches,  Anmutiges  und  Ergreifendes  z.  B.  auch 
in  den  weltlichen  Liebesliedern,  Belustigendes  in  der 
komischen  Literatur,  Witziges  und  Eindrucksvolles  in 
der  Satire  und  so  noch  Wertvolles  in  vielem  anderen 
mehr.  Kaum  einer  hält  sich  frei  von  Zitieren  und  Imi- 
tieren. Die  Geschichte  aller  mittelalterlichen 
Literatur,  insbesondere  die  des  lateinischen  Schrift- 
tums im  Abendlande,  i  s  t  für  mehrere  Jahrhunderte  in 
hohem  Maße  eine  Geschichte  der  Aufnahme, 
Verarbeitung  und  Nachahmung  fremden 
Gutes. 

Die  gröbste  Form  der  Imitation  und  Entlehnung  ist 
der  Cento,  der  ganz  und  gar  aus  älteren  Versen  und 
Versteilen  eine  neue  Dichtung  zusammenstoppelt.  Er- 
freulicherweise hat  man  sie  —  ob  aus  künstlerischem 
Geschmack  und  Originalitätswillen  oder  aus  Scheu  vor 
der  Arbeit  des  Aneinanderflickens  sei  dahingestellt  — 
nicht  übermäßig  oft  für  größere  Werke  gebraucht.   Dem 


Begriffserklärung  und  Abgrenzung  1  1 

Ccnto  nahe  verwandt  ist  mehr  als  eines  der  Beispiele 
der  mittelalterlichen  Parodie,  die  ich  im  folgenden  zu 
mitersuchen  beginne.  Viele  Parodien  bringen  ganz  selten 
nur  ein  eigenes  Wort,  fast  alles  ist  gewaltsam  entlehnt, 
gestohlen.  Und  doch  steht  die  Parodie  hoch  über  dem 
Cento.  Mißbrauch  treiben  sie  beide:  der  Centonen- 
dichter  meist  für  einen  guten  Zweck,  der  Parodist  nicht 
selten  in  boshafter  Absicht.  Hier  wie  da  zeigt  sich  oft 
große  Geschicklichkeit.  Aber  Geist,  Witz  und  Laune 
offenbart  sich  nur  in  der  Parodie. 

Die  Parodie,  wie  ich  sie  auffasse,  ist  eine  besondere 
Art  literarischer  Nachahmung.  Damit  lehne  ich  gleich 
die  ältere  Auffassung  ab,  die  jede  Imitation,  jeden  Cento 
eine  Parodie  nennt,  i)  Nach  F.  W.  Genthe^)  wären  auch 
christliche  Hymnen,  die  in  der  Form  horazischer  Oden 
einhergehen,  parodistisch.  Dann  müßte  ich  also  bei- 
spielsweise die  Quirinalia  des  Metellus  von  Tegernsee 
mitbehandeln.  Umdichtungen  weltlicher  Lieder  zu  geist- 
lichen sind  trotz  Genthe,  trotz  F.  M.  Böhme ^)  u.  a.  nicht 
zu  den  Parodien  zu  rechnen.  Es  ist  m.  E.  zu  bedauern, 
daß  selbst  F.  Vogt  in  seinem  vielbenutzten  Überblick 
über  die  mittelhochdeutsche  Literatur^)  von  „geistlichen 
Parodien"  redet,  und  ganz  überflüssig,  daß  Gh.  A.  Cole^) 
zwei  geistliche  Anpassungen  des  'Te  Deum'  an  die  Ver- 
ehrung der  Jungfrau  Maria  'adaptions  or  parodies'  ge- 
heißen hat. 

Das  Wort  wird  nichtssagend,  wenn  es  all  und  jede 
Nachahmung  besagen  kann.  Geistliche  Anpassungen, 
umgestaltende  Nachahmungen  älterer  religiöser  Dich- 
tungen sind  etwas  ungemein  Häufiges  in  der  mittelalter- 
lichen Hymnenpoesie  und  verdienen  hellere  Beleuch- 
tung —  bei  anderer  Gelegenheit.  Sehr  oft  wiederholte 
man  in  den  Neuschöpfungen  nur  die  Anfangsverse 
anderer  Hymnen,   sei   es,   daß  man   sich  begnügte,   den 

')  Beachtenswerte  Bemerkungen  bei  C.  F.  Flögel,  Gesdiichte  der  komischen  Literatur. 
I.  (Liegnitz  u.  Leipzig  1784)  S.  84  ff.  und  349  ff. 

'■^)  Gesdiidite  der  macaronisdien  Poesie,  Halle  und  Leipzig  1829,  S.  33. 

3)  Ältdeutsdics  Liederbuch,  Leipzig  1877,  S.  XL\'  und  810  ff. 

*)  In  H.  Pauls  Grimdrift  der  germ.  Philologie  Ih'-  S.  304  und  310. 

^)  Memorials  of  Henry  the  fifth,  king  of  England,  London  1858,  p.  L\^HL 


12  Begriffserklärung  und  Abgrenzung 

Anfang  des  Ganzen  hervorzuheben  durch  die  Eingangs- 
zeile eines  allen  vertrauten  Gesanges,  sei  es,  daß  man 
Anfang  und  Schluß  aller  einzelnen  Strophen  mit  den 
Eingangszeilen  verschiedener  Hymnen  schmückte/)  In 
einigen  wenigen  Fällen  ist  diese  Mode  parodistisch,^) 
zumeist  bleibt  die  Nachahmung  auf  religiösem  Gebiete. 
Vollständig  imitierte  Hymnen,  denen  man  in  der  Nach- 
bildung trotz  engen  formalen  Anschlusses  an  die  Muster 
eine  andersartige  Bestimmung  gab,  sind  die  Kreuzlieder 
des  Venantius  Fortunatus  Tange,  lingua,  gloriosi'  und 
'Vexilla  regis  prodeunt'.  So  sang  Albert  von  Beham^) 
auf  die  Siege  der  Parmesen  über  das  Heer  Kaiser  Fried- 
richs n.  im  Jahre  1248:  Tange,  lingua,  gloriam  praelii 
felicis'  und  'Vexillum  victoriae,  Parma,  ferens  gaudia'. 
Und  als  1312  der  Favorit  Edwards  IL  von  England,  der 
gefürchtete  und  verhaßte  Peter  von  Gaveston  hingerichtet 
war,  erklang  aus  den  Reihen  seiner  triumphierenden 
Gegner:^) 

'Vexilla  regni  prodeunt 

füllet  cometa  comitum'  etc. 
und 

Tange,  lingua,  necem  Petri 

qui  turbavit  Angliam'  etc. 
Dagegen  beim  Tode  Richards  von  Pembroke^) 

Tlange,  lingua,  detestando 

praelium  Ybernie'  etc. 
Dieselben  alten  Hymnen  des  6.  Jahrhunderts  wur- 
den noch  im  15.  Jahrhundert  von  Hussiten  und  Anti- 
hussiten  variiert.^)  Wohl  klingt  uns  aus  den  englischen 
Triumphliedern  Spott  und  Hohn  entgegen,  aber  richtige 
Parodien  sind  sie  alle  nicht.  Ihre  Dichter  wollten  durch 
die  Nachahmung  keineswegs  komisch  wirken. 


^)  Außerordentlich  viele  Bestätigungen  obiger  Behauptung  gibt  eine  Durdisicht  der 
Analecta  hymnica  von  Blume  und  Dreves. 

2)  Vgl.  unten  II  Kap.  1  und  2. 

^)  Vgl.  C.  Höfler,  Albert  von  Beham,  Stuttgart  1847,  S.  123  ff.  und  MG.  SS.  XVIII  792  f. 

^)  Vgl.  Th.  Wright,  The  political  songs  of  England  etc.,  London  1839,  p.  258  sqq. 

")  Vgl.  Catalogue  of  manuscripts  in  the  British  Museum.  New  Series.  vol.  I.  The 
Arundel  Mss.  (1834)  p.  144  sq. 

^)  R.  Peiper  in  den  Forschungen  zur  deutsdien  Geschichte    XVIII  (1878)  S.  161  ff. 


Begriffserklärung  und  Abgrenzung  13 

Ich  verstehe  hier  unter  Parodien  nur  solche 
literarischen  Erzeugnisse,  die  irgendeinen 
als  bekannt  vorausgesetzten  Text  oder  — 
in  zweiter  Linie  —  Anschauungen,  Sitten 
und  Gebräuche,  Vorgänge  und  Personen 
scheinbar  wahrheitsgetreu,  tatsächlich  ver- 
zerrend, umkehrend  mit  bewußter,  beab- 
sichtigter und  bemerkbarer  Komik,  sei  es  im 
ganzen,  sei  es  im  einzelnen,  formal  nachahmen 
oder  anführen. 

An  Fällen,  w^o  man  zweifeln  kann,  ob  die  literarischen 
Entlehnungen,  die  leichten  Wortlautsänderungen,  die 
gewaltsamen  Umdeutungen  bestimmter  Werke,  Namen, 
Wörter  parodistisch  gedacht  sind,  fehlt  es  nicht,  da  uns 
manches  komisch  anmutet,  was  das  Mittelalter  ernst  ge- 
meint hat,  umgekehrt  der  mittelalterliche  Witz  nicht 
immer  leicht  verständlich  ist.  Auf  einiges  dieser  Art 
komme  ich  gelegentlich  zu  sprechen,  ebenso  wie  auf 
nichtparodistische  oder  halbparodistische  Nachahmun- 
gen und  Spielereien,  die  der  Parodie  nahegestanden 
haben  und  ihrer  Ausbildung  förderlich  gewesen  sind. 
Zumeist  wird  meine  Definition  eine  schnelle  Entschei- 
dung ermöglichen.  So  muß  man  jetzt  sagen:  Bethmann^) 
durfte  des  Jacobus  de  Theramo  liber  Belial  nicht  «ine 
Parodie  aus  dem  römischen  Prozeß  nennen;  denn  die 
dort  gewählte,  parodistisch  anmutende  Einkleidung 
sollte  durchaus  nicht  komisch  wirken.  In  meinen  Augen 
mißbraucht  W.  Meyer  2)  den  Terminus,  wenn  er  bei  der 
Imitation  von  Anal.  hymn.  II  no.  139  sagt:  „Die  Fröh- 
lichkeit der  Weihnachtszeit  zeigt  sich  in  der  Zeile  einer 
Parodie  des  daktylischen  Zehnsilbers  'Edite  corpore  vir- 
gineo'.  Dagegen  durften  H.  Schneegans  ^)  und  F.  Beh- 
rendt) das  Geldevangelium  nicht  aus  der  Reihe  der 
eigentlichen,  der  „reinen"  Parodien  ausscheiden,  da  der 
Verfasser  es  ja  nicht  auf  die  Verspottung  des  Evange- 

^)  Ardiiv  d.  Ges.  f.  ältere  deutsche  Gesdiiditskunde  XII  594. 

^)  Ges.  Abhandlungen  zur  mittellat.  Rythmik.    I  (Berlin  1905)  S.  228. 

^)  Geschichte  der  grotesken  Satire,  Straßburg  1894,  S.  76  f. 

*)  Archiv  für  Reformationsgeschichte.    XIV  51 . 


14  Begriffserklärung  und  Abgrenzung 

liums  abgesehen  hätte.  Die  formale  Nachahmung  und 
die  Absiclit  des  komischen  Effektes  sind  da  und  liegen 
zutage.  Ihr  Vorhandensein  ist  das  Wichtigste.  Verspot- 
tung, Beschmutzung  des  zugrunde  gelegten  Textes  ist 
gar  nicht  das  hauptsächliche,  ist  meist  gar  kein  Ziel 
unserer  Parodien.  Der  mittelalterliche  Mensch  konnte 
etwas  profanieren  und  sich  damit  amüsieren,  ohne  es 
zu  persifflieren.  Die  Parodisten  spielen  mehr  leichtfertig 
als  schändlich  mit  Hohem  und  Heiligem.  Wo  sie  Hohn 
anwenden,  und  sie  tun  das  oft  reichlich,  gilt  es  in  der 
Regel  nicht  dem  Literaturwerk,  sondern  dem  Menschen, 
der  Sache,  auf  die  sie  die  fremde  Form  angewandt,  um- 
geprägt haben.  Der  moderne  Beurteiler  möge  auch  nicht 
vergessen,  daß  die  Scherze  früher  vielfach  derber  waren 
als  in  der  neuzeitlichen  guten  Gesellschaft,  derber,  ohne 
darum  stets  als  unpassend  und  kränkend  empfunden  zu 
werden.  Gewiß  hat  auch  das  Mittelälter  in  den  Parodien 
vielfach  nicht  nur  ein  Überschäumen  hochentwickelter 
und  hochgetriebener  Geister  und  Gemüter  geduldet,  viel- 
mehr in  den  Parodisten  wohl  manchmal  auch  einen  Ab- 
schaum der  literarisch  gebildeten  Gesellschaft  gesehen. 
Seit  dem  13.  Jahrhundert  verboten  die  Synoden  wieder- 
holt, daß  Scholaren  oder  Goliarden  in  den  Kirchen 
leichtfertige  Lieder  sangen  und  Spiele  trieben,  ja  die 
Altäre  und  die  Namen  der  heiligen  Trinität  beim  Wür- 
feln entweihten.^)  Anderseits  wissen  wir  nicht,  in  wel- 
chem Umfange  es  parodistische  Vorträge  und  Aus- 
schweifungen gewesen  sind,  die  man  aus  den  heiligen 
Räumen  zu  verbannen  sich  bemühte;  wir  sehen  auch 
mehr  als  einen  sehr,  sehr  weltlichen  Text  in  geistlichen 
Codices  unbeanstandet  und  wissen,  daß  namentlich  die 
Prediger,  um  auf  die  Hörer  packend  zu  wirken,  sich 
grober  Spaße,  ja  frommer  Blasphemien  bedienten.  „Man 
hielt  vieles  für  erlaubt  und  unverfänglich,  was  unser 
Gefühl  tief  verletzt.  Darum  konnte  der  fromme  Hollen 
sich   erlauben,   eine   Spielermesse  vorzuführen,  um   die 

^)  Vgl.  N.  Spiegel,  Die  Vaganten  und  ihr  Orden,   Speyer  1892,  S.  58  f.;  Histoire  litt6raire 
de  la  France,    XXII  154  sqq.;  S.  Santangelo,  Studio  sulla  poesia  goliardica,  Palermo  1902. 


Begriffserklärung  und  Abgrenzung  15 

Spielwut  zu  bekämpfen.  Die  Spieler  bilden,  führt  er 
aus,  eine  Satanskirche.  Ihre  Kardinäle  sind  die  Spiel- 
dämonen und  die  Kartenhändler.  Ihre  Kirchen  sind  die 
Wirtshäuser,  die  voll  von  Schlemmern  und  Dirnen  sind; 
die  Wirte  sind  die  Pfarrer  und  die  Spieler  die  Gemeinde, 
Und  Luzifer  ruft:  Wir  müssen  sorgen,  daß  der  Zudrang 
des  Volkes  hierher  reicher  werde  als  zu  den  Kirchen 
Christi.  Wir  wollen  die  Geräte  ordnen:  der  Altar  sind 
die  Spieltische,  die  an  den  Seiten  frei  sein  müssen  zur 
Aufstellung  der  Reliquien  der  heiligen  Spieler.  Das  Mis- 
sale sind  die  Würfel  und  deren  Punkte  die  Noten.  Der 
Kelch  sind  die  vollen  Krüge  und  die  Patene  die  Gulden. 
Der  Introitus  ist  die  Aufforderung  zum  Spiel;  der 
Wechselgesang,  das  Kyrie,  der  Streit  um  die  Würfe,  das 
Gloria  die  Gotteslästerungen,  das  Dominus  vobiscum  die 
gegenseitige  Verfluchung.  Die  Epistel  beginnt:  'Titivillus^) 
apostolus,  princeps  tenebrarum,  ad«brios.  Fratres  estote 
ebrii.'  Das  Graduale  ist  das  immer  schlimmere  Ver- 
sinken in  Sünden.  Das  Evangelium  sind  die  Wehklagen 
über  Verlust,  worauf  respondiert  wird^  'Proficiat  tibi.' 
Das  Offertorium  ist  das  Geld.  'Et  sie  de  ceteris',  schließt 
der  x\ugustinereremit  seine  Parallele."^)  Ganz  Ähnliches 
wie  bei  dem  hier  zitierten  Gottschalk  Hollen  (f  1481) 
findet  sich  um  die  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  bei  dem 
Minoriten  Bernardino  von  Siena.  3)  Vermutlich  ist  der 
deutsche  Prediger  von  dem  italienischen  abhängig, 
hat  aber  Besonderheiten.  Für  unsern  Zweck  genügt 
einstweilen  die  Feststellung,  daß  man  sich  derartige  Bei- 
spiele auf  der  Kanzel  erlauben  durfte,  daß  der  Zweck 
die  Mittel  der  Parodie  heiligte.  Wer  mein  Buch  mit 
wohlwollendem  Verständnis  liest,  wird  dafür  manche 
andere,  neue  Bestätigung  finden. 

Ehe  ich  nun  einen  Überblick  über  die  lateinische  Pa- 
rodie des  Mittelalters  gebe  und  zu  ihrer  genaueren  Be- 
-  ,p_ — . — . -^ — 

M  über  diesen  Teufelsnamen  vgl.  Joh.  Bolte  in  der  Zeitschrift  für  vergleichende  Literaturs 
geschieht e.   N.F.  XI  (1897)  S.  262  ff. 

2)  Ä.  Franz,  Die  Messe  im  deutschen  Mittelalter,  Freiburg  1902,  S.  29. 

^)  F.  Novati,  La  parodia  sacra  p.  300  sqq.  ohne  Hollen  zu  kennen,  während  Franz  den 
Sienesen  unerwähnt  läßt. 


16  Vorgänger  und  Vorarbeiten 

trachtung  und  Erforschung  auffordere,  versäume  ich 
nicht  zu  bemerken,  daß  ich  Vorgänger,  Vorarbei- 
ter gehabt  habe.  Viel  Material  trug  W.  Wattenbach 
mit  bewundernswertem  Forscherfleiß  herbei  und  legte 
es  in  verschiedenen  Zeitschriften  vor;  eine  Verarbeitung 
versuchte  F.  Novati  in  einer  wie  es  scheint  in  Deutsch- 
land nicht  genügend  bekannten  recht  anregenden  Ab- 
handlung 'La  parodia  sacra  nelle  letterature  moderne'.^) 
Die  Darstellungen  von  Th.  Wright2)und  O.  Dele- 
pierre^)  blieben  meist  an  der  Oberfläche  haften  und 
beschränkten  sich  auf  die  allerbekanntesten  Texte,  ob- 
wohl Wright  in  anderen  seiner  vielen  Bücher  Parodien 
und  Parodistisches  in  Fülle  veröffentlicht  hatte.  Der 
treffliche  F.  Aug.  E  c  k  s  t  e  i  n^)  weiß  in  seinem  Artikel 
„Parodie"  übers  Mittelalter  nichts  zu  sagen.  Wertvolle 
Bemerkungen  und  Mitteilungen  findet  man  bei  O.  H  u  - 
batsch,5)  A.  Straccali,«)  Ph.  S.  Allen^)  und  J.  J. 
A.  Frantzen,^)  während  Holm  Süßmilch ^)  in  diesem 
Falle  versagt  und  enttäuscht.  Eero  1 1  v  o  n  e  n^^)  gibt 
eine  brauchbare,  aber  unzulängliche  Übersicht  über  die 
mittellateinischen  Parodien,  behandelt  im  Hauptteil  fast 
ausschließlich  die  alten  Gedichte,  die  Lateinisches  und 
Französisches  mit  komischer  Wirkung  mischen,  also 
nur  einen  Nebenzweig  der  mittelalterlichen  Parodie, 
und  subsumiert  unter  „Parodie"  zuviel,  da  er  zu  ihr 
profane  Nachahmungen  kirchlicher  Poesien  zählt,  wo 
die  Imitation  mehr  oder  weniger  nur  als  Eselsbrücke 
beschritten  ist.  Habe  ich  den  einen  und  anderen  Ge- 
lehrten, aus  dessen  Schriften  ich  für  meine  Forschungen 

M  In  Novatis  Studi  critici  e  letterari,  Turin  1889,  p.  177—310. 

^)  On  the  history  of  comic  litterature  during  the  middle  ages:  Th.  Wj.,  Essays  on 
archaeological  subiects  etc.  II  (London  1861)  p.  230  sqq. ;  Histolre  de  la  caricature  et  du 
grotesque  dans  la  litterature  et  dans  l'art.  2  e  6d.,  Paris  1875. 

^)  La  Parodie  chez  les  Grecs,  chez  les  Romains  et  chez  les  modernes,  London  1870. 

")  Ersdi  u.  Gruber,  Ällgem.  Encyklopädie  3.  Sect.  XII  (1839)  S.  266  ff. 

^)  Die  lat.  Vagantenlieder  des  Mittelalters,  Görlitz  1870. 

")  I  goliardi  owcro  i  clerici  vagantes  delle  universitä  mcdievali,  Florenz  1880.  (Erwei» 
tcrter  Aufsatz  der  Rivista  Europea.  XVI  u,  XVII. 

'^)  Mediaeval  lyrics:  Modern  philology.  V  (Chicago  1908)  448  sq.,  456  sq.,  VI  134  sqq. 
«)  Neophilologus  V  (1919/20)  p.  66,  73  f. 

®)  Die  lat.  Vagantenpoesie  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  als  Kulturersdieinung.  Leipzig  1917. 
'")  Parodics  de  themes  pieux  dans  la  po6sie  Fran^aise  du  moyen  age,  Hclsingfors  1914. 


Vorbemerkungen  1 7 


etwas  lernte,  im  vorhergehenden  zu  erwähnen  unter- 
lassen, so  bitte  ich  das  mit  der  gebotenen  Raumspar- 
samkeit zu  entschuldigen  und  sich  aus  meinen  sonsti- 
gen Literaturangaben  zu  überzeugen,  daß  ich  viel  habe 
lesen  müssen.  In  starkem  Maße  bin  ich  von  keinem 
Werke  abhängig.  Sie  haben  mir  alle  nicht  genügt  und 
eine  neue  Untersuchung  meinerseits  nicht  überflüssig 
gemacht:  W.  Wattenbach  hat  seine  zahlreichen  Funde 
und  die  der  anderen  nie  summiert,  F.  Novati  vieles  zu- 
fällig übersehen,  vieles  absichtlich  beiseite  gelassen,  die 
anderen,  die  ich  nannte,  bestenfalls  einzelne  gute  Ge- 
danken ausgesprochen.  Behaupte  auch  ich,  nur  Stück- 
werk zu  bieten,  so  ist  das  keine  rhetorische  Phrase  ge- 
machter Bescheidenheit.  Als  mir  der  Plan  kam,  er- 
innerte ich  mich  keiner  Arbeit  eines  anderen  über  das 
Thema,  und  als  ich  mich  besser  unterrichtete,  sah  ich 
halb  mit  Schrecken  halb  mit  Freude,  daß  ich  nicht 
einfach  fortsetzen  und  ergänzen  konnte,  sondern  einen 
neuen  Bau  beginnen  mußte.  Der  zu  bewältigende  Stoff 
würde  immer  größer,  je  mehr  ich  mich  in  Handschrif- 
ten und  Drucken  umsah  und  eingrub.  Während  ich 
von  Anfang  an  mich  weder  der  Parodie  in  der  bilden- 
den noch  in  der  mimischen  Kunst  ,widmen^  wollte,  mußte 
ich  wohl  oder  übel  bald  auch  darauf  verzichten,  jden 
Texten  in  germanischen  und  romanischen  Sprachen  den 
gebührenden  Platz  in  meiner  Darstellung  einzuräumen, 
verzichtete  in  Abschätzung  meiner  Kräfte,  meiner  Zeit 
und  des  mir  vom  Verlage  zur  Verfügung  gestellten  Rau- 
mes, tat  es  in  der  ruhigen  Überzeugung,  daß  die  latei- 
nische Parodie  des  Mittelalters,  auf  die  ich 
mich  konzentrierte,  am  schlechtesten  bekannt  ist  und 
doch  die  größte  Bedeutung  für  die  ganze  Entwicklung 
gehabt  hat.  Bis  zu  dem  Zeitpunkt  zu  warten,  wo  ich 
Vollständigkeit  und  einen  höheren  Grad  von  Richtig- 
keit erreicKt  zu  haben  behaupten  könnte,  hielt  ich  nach 
fast  dreijährigem  Forschen  für  falsch.  Die  wenigen  Ver- 
treter der  lateinischen  Philologie  des  Mittelalters,  denen 
man  es  bisher  nie  leicht  gemacht,  müssen  schaffen,  so^ 

Lehmann  /  Pdrodie  im  Mittelalter         ^  2 


18 

lange  es  noch  Tag  ist.  Besserwisser  würden  an  dem 
Buch  selbst  nach  dreimal  so  langem  Feilen  und  Füllen 
etwas  auszusetzen  haben.  Ich  schreibe  für  die,  die  sich 
von  mir  und  mit  mir  im  Glauben  an  die  wissenschaft- 
liche Notwendigkeit  der  mittelalterlichen  Studien  be- 
lehren lassen  wollen,  schreibe  dem  hochstrebenden  und 
doch  nie  hochmütigen  Forschungsführer  zu  Ehren  und 
hoffentlich  zur  Freude,  dessen  Namen  ich  voraus- 
geschickt habe,  Karl  Voßler,  dessen  Freundschaft 
mir  in  schweren  Jahren  ein  Hort  und  Quell  des  Trostes, 
der  Hoffnung,  der  Anregung  geworden  ist. 


URSPRUNG   UND    ANFÄNGE 

Woher  kam,  wie  und  wann  beginnt  die  mittelalter- 
liche Parodie?  Auf  diese  Fragen  ist  schwer  in 
der  Kürze  und  mit  der  Zuverlässigkeit,  die  ich  beide  er- 
strebe, zu  antworten.  Der  Ursprung  ist  problematisch 
und  wird  es  fürs  erste  noch  bleiben;  diese  Einsicht  darf 
ich  meinem  Leser  nicht  ersparen. 

Die  griechisch-römische  Welt  hat  dem  abendländi- 
schen Mittelalter  zwar  den  Namen,  aber  kein  zugkräf- 
tiges Reispiel  der  Parodie  hinterlassen.  Es  gehörte  die 
Phantasie  und  Kombinationskühnheit  eines  Hermann 
Reich  dazu,  wollte  man  bestimmen,  inwieweit  etwa  der 
Mimus  zur  Erhaltung  der  antiken  Parodie  beigetragen 
habe.  Daß  Schauspieler,  Jahrmarktskünstler  und  der- 
gleichen Leute  immer  gern  persiffliert  und  parodiert 
haben,  braucht  nicht  erst  bewiesen  zu  werden.  Ohne 
Reichs  gedankliche  Sprünge  und  Flüge  alle  mitzumachen, 
die  in  seinen  letzten  Jahren  sogar  Paul  von  Winterfeld, 
den  schmerzlich  Vermißten,  in  die  Irre  geführt  haben, 
kann  und  muß  man  zugeben,  daß  vielleicht  dank  dem 
Mimus  Reste  parodistischen  Gebrauches  ins  frühe  Mittel- 
alter hinübergeführt  worden  sind.  Jedoch  hängt  die 
überwiegende  Mehrheit  der  erhaltenen  mittellateinischen 
Parodien  keineswegs  mit  dem  Mimus  des  Altertumes  zu- 
sammen. Die  einzige  Verbindung  zwischen  Altertum  und 
Mittelalter,  die  ich  mir  auf  diesem  Gebiete  vorstellen, 
aber  in  den  Texten  selbst  nur  tastend  und  schwankend 
bei  der  Cena  Cypriani  verfolgen  kann,  haben  wohl  die 
Saturnalien  hergestellt,  die  trotz  offizieller  Bekämpfung 
durch  die  kirchlichen  Obrigkeiten  in  der  schon  christ- 
lich gewordenen  oder  gerade  christlich  werdenden  Welt, 
wiewohl  in  veränderten  Formen,  fortlebten. 

Das  ganze  Mittelalter  hindurch  haben  um  Weihnach- 
ten und  Neujahr  herum  namentlich  die  Schulkinder  und 

2* 


20  Kinder»  und  Narrenfeste 

die  niedere  Geistlichkeit  mit  den  kirchlichen  Riten  ihren 
Scherz  getrieben,  geistliche  Gebräuche  parodiert  und 
sakrale  Texte,  die  sie  sonst  höchstens  anhören  durften, 
selbst  gesungen  und  verlesen.  Aus  den  Kinder-  und 
Narrenfesten  die  parodistische  Literatur  des  lateinischen 
Mittelalters  abzuleiten,  wäre  bequem,  hieße  aber  meiner 
Meinung  nach  zumal  für  die  älteste  Entwicklung  der 
komischen  Literatur  im  Mittelalter  die  Bedeutung  jener 
vergnügten  Tage  übertreiben  und  übersehen,  daß  der 
Personalwechsel,  die  Vermummungen  und  Umzüge  die 
Hauptsache  waren,  daß  die  lateinischen  Gebete  und 
Gesänge  aber  häufig  nur  eine  heitere  Note  erhielten, 
ohne  eigentlich  parodistisch  umgestaltet  zu  werden.  In 
fast  allen  Fällen  haben  gerade  die  älteren  Texte,  die  wir 
im  folgenden  zu  betrachten  haben,  mit  den  rituellen 
Fröhlichkeiten  an  Tagen  wie  dem  des  heiligen  Nikolaus 
gewiß  nichts  zu  tun.  Ebenso  wie  sie  gewöhnlich  nicht 
die  Repertoirestücke  der  Komödianten  und  Gaukler  von 
Beruf  gewesen  sind,  so  auch  im  Anfange  selten  die  von 
den  Klosterbrüdern,  den  Subdiakonen  u.  a.  vorgetrage- 
nen Spässe  und  Frivolitäten  der  kirchlichen  Feste.  Viele 
mittelalterliche  Parodien  sind  überhaupt  in  der  Stu- 
dierstube entstanden  und  immer  nur  gelesen,  nicht  auf- 
geführt worden;  die  Vortragsstücke  in  der  parodisti- 
schen  Literatur  verdanken  beliebigen  Festen,  Banketten, 
Gelagen  ihr  Dasein,  viele  sind  für  die  Kneipen  verfaßt 
und  höchstens  ausnahmsweise  und  wider  Recht  und 
Sitte  hier  und  da  in  die  Kirchen  gedrungen.  Immerhin 
ist  es  wichtig  für  das  Wiederauftauchen  der  pärodisti- 
schen  Machtwerke  gewesen,  ist  es  wichtig  für  unser 
Verständnis  der  Parodie,  daß  es  ein  mehr  oder  weniger 
gern  erlaubter  Brauch  war,  ab  und  an  im  Kirchenjahr 
das  Oberste  zu  unterst  zu  kehren.  Weltliches  mit  Geist- 
lichem zu  vermengen. 

Ob  man  nun  die  Nachwirkung  ider  Antike  auf  dem 
Gebiet  der  mittelalterlichen  Komik  für  stärker  oder  für 
noch  schwächer  hält  als  ich  es  tue,  ob  man  die  Parodie- 
literatur fester  mit  den  kirchlichen  Kinder-  und  Narren- 


Anlässe  und  Anfänge  21 


festen  verknüpft,  der  Selbstverständlichkeit  liat  man 
sich  immer  zu  erinnern,  daß  Nachahmen,  Nachäffen  zu 
Unterhaltung  und  Verspottung  einfach  menschlich  sind 
und  die  Parodie  überall  da  Boden  faßt,  wo  vv^itzige  und 
kritische  Menschen  es  lernen,  ihre  Umgebung,  ihre  Bü- 
cher, die  irdischen  Einrichtungen  und  vieles  sonst  mit 
offenen  Augen  zu  beschauen.  Das  Mittelalter  hat  häu- 
figer und  zuweilen  auch  früher  als  man  wohl  meint,  die 
Scheuklappen  abzustreifen  verstanden,  mit  den  Zügeln 
gespielt,  an  ihnen  gezerrt,  sich  losgerissen. 

Ich  lehne  es  ab,  die  mittelalterliche  Parodie  insgesamt 
und  vornehmlich  auf  den  Mimus  oder  andere  künst- 
lerische Vorbilder  und  Vertreter  des  Altertums  zurück- 
zuführen, trage  starke  Bedenken,  sie  in  ihren  Ur- 
sprüngen fest  mit  klerikalen  Belustigungen  zu  verbinden. 
Die  Anlässe  und  Möglichkeiten  zur  Parodie  sind  von 
jeher  mannigfaltig  gewesen,  die  Schauplätze  bald  Kirche 
oder  Straße,  bald  Wirtshaus  und  Bühne  oder  Studier- 
stube und  Schule.  Ja:  Schule.  Wenn  ich  von  den  An- 
fängen und  Ansätzen  der  Parodie  im  Mittelalter  spreche, 
darf  ich  die  Schule  am  allerwenigsten  vergessen.  Be- 
gegnet uns  Menschen  des  19. /20.  Jahrhunderts  Parodie 
und  Travestie  nicht  zuerst  in  der  Schule,  wo  wir  mit 
kindlicher  Scharfäugigkeit  die  tatsächlichen  oder  angeb- 
hchen  Mängel,  die  komischen  Eigentümlichkeiten  eines 
Lehrers  oder  Lehrbuches  erkennen  und  uns  an  ihrer 
Karikierung  mit  Wort  und  Geste  ergötzen?  Auch  in  der 
mittelalterlichen  Schule  ist  trotz  strengster  Zucht  sicher- 
lich oft  parodiert  worden.  Nur  hat  uns  die  Überliefe- 
rung nicht  eben  viel  von  den  Proben  jugendlichen 
Witzes  und  Übermutes  gerettet.  Nach  der  Schule 
schmeckt  aber  manches. 

Vielleicht  ist  eine  etwa  im  7.  Jahrhundert  entstandene 
Grammatik  eine  Schulparodie,  freilich  nicht  eines  Schü- 
lers, sondern  eines  sehr  gelehrten  Mannes.  Ich  meine 
den     noch     immer  i)   rätselhaften     Virgilius     Maro 


^)  Trotz  H.  Zimmers  (t)  Aufsatz   in   den  Sitz.=Ber.   der    Kgl.  Preufs.  Akademie  d.  Wiss. 
Berlin.  1910.  S.  1031  ff. 


22  Virgilius  gramm. ;  Joca  mbnadiorum 


gramma  ticus/)  bei  dessen  Lektüre  man  sich  schon 
oft  gefragt  hat:  ist  er  ein  Schwindler,  der  mit  Gelehr- 
samkeit protzt,  oder  ein  gelehrter  Narr,  der  seine  Schrif- 
ten ernst  gemeint  hat?  Möglicherweise  war  er  keines 
von  beiden,  sondern  ein  arger  Schalk.  Ich  stelle  zur 
Diskussion,  ob  Virgil  mit  seiner  nach  altem  Muster  ein- 
gerichteten und  dennoch  so  ganz  neuartigen  Grammatik 
nicht  über  die  Spitzfindigkeiten,  das  Prunken  mit  Er- 
klärungen und  Zitaten,  über  all  die  Auswüchse  des 
sprachlichen  Unterrichts  sich  lustig  machen  wollte,  die 
namentlich  am  Ende  des  Altertums  in  Gallien  und 
anderswo  die  seltsamsten  Blüten  trieben.  Mich  mutet  es 
wie  eine  Parodie  an,  wenn  er  12  Arten  Latein,  4  Wort- 
geschlechter, 50  Verba  ohne  Singular  unterscheidet, 
wenn  er  von  Grammatikerfehden  über  den  Inchoativ 
berichtet,  die  15  Tage  und  Nächte  gedauert  hätten,  von 
der  zweiwöchigen  Disputation  über  den  Vokativ  von 
'ego'  etc.  Gato,  Terenz,  Cicero,  Horaz,  Properz,"  Quinti- 
lian,  mindestens  drei  Lucane  und  andere  bekannte  wie 
unbekannte  Schriftsteller  werden  angeführt,  ohne  daß 
die  Zitate  sich  in  den  erhaltenen  Werken  finden  ließen. 
Wir  gehen  nicht  näher  auf  Virgilius  Maro  grammaticus 
ein,  da  er  halb  noch  in  der  Antike  steckt  und  da  er 
jedenfalls  auf  die  mittelalterliche  Nachwelt  nicht  paro- 
distisch  gewirkt,  nein  wie  ein  lauterer  Gewährsmann  für 
die  Sprache  benutzt  worden  ist.  Aber  mahnen  möchte 
ich  an  die  Möglichkeit,  daß  er  hauptsächlich  spitz- 
findige, zitatenfrohe  Grammatiker  parodieren,  nicht  mit 
Wissen,  an  das  er  glaubte,  paradieren  wollte. 

Im  Lehrhaften  ans  Komische,  Parodistische  streifend, 
erscheinen  uns  die  Joca  monachorum,^)  was  man 
besser  durch  Mönchsunterhaltungen  als  durch  Kloster- 
witze übersetzen  sollte.  Es  sind  das  uralte  Gesprächs- 
büchlein, die  dem  Abendlande  im  6./7.  Jahrhundert  aus 
dem   griechisch-byzantinischen    Osten   übermittelt   sind, 

^)  Ausgabe  der  Werke  in  der  Teubneriana  durdi  J.  Huemer,  Leipzig  1886.  Nachträge 
bei  Stangl,  Virgiliana,  München  1891. 

^)  Möditc  die  Veröffentlidiung,  die  W.  Suchier  (Göttingen)  1914  mir  in  Äussidit  gestellt 
hat,  so  daß  ich  einen  eigenen  Plan  fallen  ließ,  bald  erscheinen!  Bisher  sind  wir  auf  ver» 
streute  ungenügende  Wiedergaben  angewiesen. 


Gesprädisbücher  23 


ZU  Anfang  des  8.  Jahrhunderts  im  Frankenreiche  be- 
reits in  verschiedenen  lateinischen  Fassungen  existieren 
und  in  der  Hauptsache  biblische  Katechismen  zum  Ge- 
brauch für  Erholungsstunden  vorstellen.  Den  mo- 
dernen Menschen  muten  die  Fragen  und  Antworten  oft 
paradoxer  und  scherzhafter  an,  als  sie  gewollt  sind. 
Aber  unbestreitbar  belehren  sie  unterhaltend,  unter- 
halten sie  lehrend,  ebenso  wie  die  ihnen  verwandten 
Dialoge  zwischen  dem  Kaiser  Hadrian  und  dem  klugen 
Kinde  Epitus.^)  Unbestreitbar  zeigen  Fragen  wie  die  fol- 
genden ein  fast  parodistisches  Spielen  mit  der  Bibel: 
'Wer  ist  gestorben,  ohne  jemals  geboren  zu  sein?  Adam.' 
'Welche  Menschen  waren  an  den  Pforten  des  Para- 
dieses, als  Adam  daraus  vertrieben  war?  Adam  und 
Eva.'  Und  es  liegt  ferner  auf  der  Hand,  daß  die  seit 
dem  Frühmittelalter  in  griechischen,  Jateinischen,  syri- 
schen, koptischen,  slawischen,  romanischen,  irischen, 
altenglischen  Gewändern  auftretenden  Joca  monacho- 
rum  den  Anreiz  zu  den  noch  heute  beliebten  biblischen 
Scherzfragen:  'Wer  war  der  früheste  schlechteste  Kauf- 
mann? Simson.  Denn  Gott  nahm  seine  Stärke  von  ihm, 
und  Gott  gab  sie  ihm  auch  wieder.'  'Quomodo  vocaba- 
tur  canis  Tobiae?  Quippe.  Quippe  movebat  caudam 
suam'  gegeben  und  beigetragen  haben,  die  mittelalter- 
lichen Menschen  an  den  parodistischen  Gebrauch  von 
Bibelworten  zu  gewöhnen. 

Klarer  und  stärker  als  bei  den  Joca  monachorum  ist 
die  Parodie  in  den  Gesprächen  von  Salomo  und 
M  a  r  c  o  1  f ,  wo  die  Bibel  geradezu  frech  behandelt  wird. 
Leider  kennen  wir  Alter  und  Urform  dieses  merkwürdi- 
gen Erzeugnisses  nicht.  Ob  —  was  wahrscheinlich  zu 
bejahen  ist  —  und  in  welcher  Weise  die  schon  im 
Decretum  Gelasianum  de  libris  recipiendis  et  non  reci- 
piendis  verbotene  'Scriptura  quae  appellatur  Contra- 
dictio  Salomonis'  eine  Parodie  der  Weisheit  Salomonis 
gewesen  ist,  läßt  sich  schwer  oder  gar  nicht  sagen.  Die 
uns   überlieferten   lateinischen   Dialoge   und  Anekdoten 

^)  Vgl.  Walter  Suchier,  L'Enfant  sage,  Dresden  1910. 


24  Spottrhythmen;  Abt  von  Angers 


'Salomon  et  Marcolfus'  dürften  in  den  vorliegenden  Fas- 
sungen nachkarolingisch  sein  und  werden,  zumal  da  sie 
erst  seit  etwa  1000  sichtbar  eine  Rolle  in  der  Literatur 
spielen,  in  einem  späteren  Kapitel  von  uns  behandelt 
werden. 

Einen  starken  parodistischen  Schimmer  hatten  bereits 
die  im  7.  Jahrhundert  verfaßten  Spottrhythmen 
auf  die  Bischöfe  Importunus  von  Paris  und 
Chrodebert  von  Tours. ^)  Schimpft  und  spottet  der 
eine  über  das  schlechte  Brotkorn,  das  ihm  der  Kollege 
geliefert  hat,  und  wünscht  er  ihm  in  einem  Atem  Gutes 
und  Böses,  so  rächt  sich  der  andere,  indem  er  dem  Pa- 
riser Bischof  in  ähnlichem  Ton  Unkeuschheit  vorwirft. 
Die  Schmähbriefe  sind  gewissermaßen  Parodien  bischöf- 
licher Korrespondenz,  wobei  die.  Schreiber  die  in  den 
Kanzleien  üblichen  Formeln  und  die  im  geistlichen  Ver- 
kehr gebräuchlichen  Formen  möglichst  wahren,  aller- 
dings satirisch  verwenden  und  verändern.  In  die  früh- 
karolingische  Zeit  versetzt  uns  das  Gedicht  über  den 
Abt  von  Angers.^)  Mit  scheinbarer  Ernsthaftigkeit 
wird  sozusagen  ein  Panegyricus,  ein  Grabgedicht  auf 
den  trinkfesten  Abt  Adam  parodiert. 

Zu  Angers,  hört'  ich,  soll  ein  Pfäfflein  leben, 
sein  Name  der  des  ersten  Menschen  ist; 
das  trinke,  munkeln  sie,  vom  Saft  der  Reben 
so  viel,  wie  nimmer  Jud  noch  Christ. 

Man  sagt,  daß  niemals  Tag  und  Stund'  erscheine, 
da  Pfaff  und  Fläschchen  nicht  zusammen  sind, 
da  er  nicht  trunken  schwankt  von  süßem  Weine, 
als  wie  das  Bäumchen  schwankt  im  Wind. 

Nie  wird  in  Ewigkeit  sein  Leib  vergehen, 
zu  gut  hat  er  ihn  innen  ausgepicht, 
fürwahr,  ein  Wunder  ist  es  anzusehen: 
so  balsamiert  kein  Balsam  nicht. 

^)  Herausgeg.   von  K.  Zeumer   in  den  MG.  Formulae  p.  220-,   freie  Überse^ung   bei  P. 
V.  Winterfeld,  Deutsche  Dichter  des  lat.  Mittelalters,  Mündien  1913,  S.  136  ff. 
2)  MG.  Poetae  IV  591. 


Cena  Cypriani  25 

Ein  Weinfaß  selber,  legt  er  nicht  mit  Bechern 
wie  andre  Menschenkinder  schüchtern  los; 
er  ist  ein  Zecher  hoch  ob  allen  Zechern 
und  schlürft  aus  Kannen  extragroß. 

Stirbt  er,   so  werden  viele  Tränen  fließen, 
und  nie  verwindet  Angers  seinen  Schmerz: 
Kein  zweiter  wird  so  viel  hinuntergießen. 
Sein  Ruhm  lebt  fort  in  Stein  und  Erz! 

Diese  flotte  Verdeutschung  P.  von  Winterfelds ^)  hat 
den  Refrain  fortgelassen,  der  das  Epitaph  deutlich  zu 
einem  Trinklied  macht: 

'Eia,  eia,  eia  laudes 

eia  laudes  dicamus  Libero.' 

Der    Kehrreim    ist    nach    meiner    Auffassung    paro- 
distisch.    Es  wird  darin  die  Aufforderung  verkehrt,  die 
in  christlichen  Hymnen  nicht  selten  ist:  ^) 
'Landes  dicamus  Domino.' 

Tatsächlich  also  ist  Witz,  Wort-  und  Gedankenspiel, 
parodierender  Zeitvertreib  und  parodierende  Satire  selbst 
der  vielfach  rohen  Zeit  des  7.  und  8.  Jahrhunderts  nicht 
fremd  geblieben. 

Eine  alte  christliche  Parodie  großen  Umfanges  hat 
das  9.  Jahrhundert  geerbt  und  fröhlich  erneuert.  Das 
ist  die  'Cena  Cypriani'.  'Es  war  einmal  ein  König 
im  Osten  namens  Johel,  der  zu  Chana  in  Galilaea  ein 
großes  Gastmahl  geben  wollte.'  Die  Anfangsworte  er- 
innern gleich  an  die  Hochzeit  von  Chana,  auf  der  Jesus 
Christus  Wasser  zu  Wein  verwandelte.  Dieser  Anklang 
an  die  Bibel  ist  bewußt  hervorgerufen,  ja  er  ist  nicht 
der  einzige:  es  tönen  noch  einige  Evangelienstellen  hin- 
ein, wo  auch  von  irgendwelchen  Festen  berichtet  ist. 
Und  derartige  Bibelmischungen  durchziehen  die  ganze 
Prosaschrift.  Von  überallher  sind  aus  dem  Alten  wie 
Neuen   Testament    Worte    und    Züge   hervorgeholt   und 

M  a.  a.  O.  S.  147. 

^)  Z.  B.  Änalecta  hymnica  XLIII  10;  U.  Chevalier,  Repertorium  hymnol.  II  30. 


26  Ccna  Cypriani 

ZU  einem  wunderlichen  Ganzen  zusammengeleimt,  das 
durch  Entlehnung  und  Nachahmung  wirken  will  und 
wirkt.  —  Alle  möglichen  Personen  strömen  zusammen. 
Jeder  wählt  sich  einen  Platz,  den  die  Bibel  vorzuschrei- 
ben schien.  Vater  Adam  plaziert  sich  in  die  Mitte, 
Mutter  Eva  auf  ihr  ominöses  Feigenblatt,  Kain  auf 
seinen  Pflug,  Abel  auf  einen  Milchkübel,  Noali  auf  die 
Arche,  Ruth  die  Ährenleserin  auf  Werg,  Susanna  in  den 
Garten,  Absalon  auf  die  Zweige,  an  denen  er  seinen  Tod 
gefunden,  Judas  Ischarioth  auf  seinen  Geldkasten,  Sim- 
son  auf  die  Palastsäulen  usw.  Und  nun  wird  ein  Fest- 
mahl gerüstet  und  gefeiert,  das  es  niemals  gegeben  hat. 
Wie  die  Speisen  sind  die  Getränke  jedem  nach  der 
Heiligen  Schrift  angepaßt.  Jesus  erquickt  sich  an  Sekt, 
da  Wein  aus  getrockneten  Trauben  'Passus'  hieß  und 
er  die  'Passio'  erlitt.  Mannigfaltig  sind  die  Wirkungen 
der  Schwelgerei.  Adam  und  andere  legen  sich  schlafen, 
Noah  bekommt  natürlich  einen  Rausch,  den  Apostel 
Petrus  läßt  der  krähende  Hahn  nicht  lange  ruhen.  Nach 
der  Tafel  bringt  Pilatus,  der  bekanntlich  seine  Hände 
in  Unschuld  wusch,  Wasser  zum  Spülen  der  Hände. 
Martha  eilt  dienend  näher,  andere  spielen,  singen  und 
tanzen.  David  greift  zur  Zither,  Judas  und  Herodias 
tanzen,  Mambres  zeigt  Zauberkünste,  Judas,  der  den 
Herrn  mit  einem  Kuß  verriet,  teilt  Küsse  aus,  Pharao 
eilt  dem  Volke  nach  und  fällt  ins  Wasser.  Schließlich 
entläßt  der  König  die  Gäste,  und  diese  gehen  verschie- 
denen, durch  die  Bibel  vorgeschriebenen  Beschäfti- 
gungen nach.  Am  anderen  Tage  müssen  alle  dem  Johel 
Geschenke  bringen:  Erzvater  Abraham,  der  Hirt,  einen 
Hammel,  Rebekka  ein  Kamel,  Simson  einen  Löwen, 
der  Jäger  Esau  einen  Hirsch,  Jesus  Christus  ein  Lamm, 
Moses  zwei  Tafeln  usw.  Doch  nun  kommt  ein  Konflikt: 
Der  König  hat  bemerkt,  daß  am  vorigen  Tage  allerlei 
gestohlen  ist.  Da  werden  die  Gäste  gemartert,  bis  Agar 
zur  Sühne  aller  getötet  und  feierlich  beerdigt  wird. 

Lachen,  unbändige  Lustigkeit  und  Derbheit  klingt  uns 
aus  biblischem  Material  entgegen,  so  daß  man  die  Ernst- 


Cena  Cypriani  27 

haftigkcit  der  bewußten  Stellen  einmal  vergißt.  Uns 
mutet  das  Werk  komisch  an.  Wollte  der  Verfasser 
von  Anfang  an  bei  seinen  Hörern  und  Lesern  Heiter- 
keitserfolge erzielen?  Wie  andere  vor  ihm  behauptete 
der  gelehrte  Jesuit  H.  Brewer  noch  1904:  Nein;  die 
Cena  Cypriani  hätte  ursprünglich  Dinge,  Namen,  Per- 
sonen der  Bibel  dem  Gedächtnis  einprägen  wollen,  da- 
für die  seltsame  Form  gewählt,  und  er  wies  des  wei- 
teren —  was  1^2  Jahrhunderte  vor  ihm  bereits  die  Ge- 
brüder Ballerini  getan  hatten  —  auf  einen  Traktat  »Zenos 
von  Verona  hin.  Dann  suchte  Lapötre  die  Cena  als  eine 
groteske  Satire  des  Spaniers  Bachiarius  auf  ein  Bankett 
des  Kaisers  Julianus  Apostata  zu  Ehren  der  Göttin  Ceres 
hinzustellen.  Geistvoll  und  anregend  der  eine  wie  der 
andere,  dürfte  doch  keiner  von  beiden  eine  vollbefrie- 
digende Erklärung  gefunden  haben.  Die  Annahme  des 
Lehrhaften  Hauptzweckes  war  nach  K.  Streckers  und 
meiner  Auffassung  ebenso  grundfalsch  wie  die  Beziehung 
auf  Julian  höchst  zweifelhafter  Natur.  Der  Zusammen- 
hang mit  Zeno  besteht  dagegen  in  der  Tat.  Der  Vero-t 
neser  Bischof  hatte  in  einer  Osterpredigt  die  Mahnung 
ergehen  lassen,  das  übliche,  oftmals  übermäßig  fröh- 
liche Taufmahl  nach  der  Feier  von  Christi  Auferstehung 
nicht  in  weltlich  ausgelassener  Weise  zu  begehen,  da- 
für sich  an  der  Bibel  zu  sättigen,  und  hatte  das  Bild 
von  der  biblischen  Kost  ausgemalt  mit  Hilfe  von  Stel- 
len des  Alten  und  Neuen  Testaments,  wo  heilige  Männer 
und  Frauen  mit  Essen  und  Trinken  in  Verbindung  ge- 
bracht werden.  Ein  witziger  Kopf,  mag  es  nun  irgend 
ein  Cyprianus  —  nicht  der  bekannte  Kirchenvater  — 
oder  sonst  wer  gewesen  sein,  griff  Zenos  Worte  auf  und 
parodierte  sie,  nicht  etwa  um  die  Heilige  Schrift,  son- 
dern höchstens  um  ihre  Verwertung  durch  Zeno  ins 
Lächerliche  zu  ziehen.  Vielleicht  benutzte  er  nur  zur 
Belustigung  ohne  satirisch-polemische  Hintergedanken 
die  sich  ihm  aufdrängende  Gelegenheit,  aus  der  Bibel 
eine  erheiternde  Gastmahlbeschreibung  zusammenzu- 
klittern.      Gewiß     ist,     daß     die     Entstehungsumstände 


28  Ccna  Cypriani 

und  die  etwa  einst  vorhandene  satirische  Tendenz  der 
parodistischen  Cena  Cypriani  allmählich  vergessen 
wurde,  und  dann  auch  das  Werk  selbst,  bis  es  im 
9.  Jahrhundert  wieder  entdeckt  ward.  Charakterisli- 
scherweise  haben  die  karolingischen  Gelehrten  das  Werk 
weder  für  töricht  gehalten,  was  moderne  Forscher  taten, 
noch  für  blasphematorisch,  was  nicht  überraschen  würde. 
Selbst  Hrabanus  Maurus,  der  ein  dogmentreuer  streng- 
kirchlicher Mann  war,  hat  sich  dem  humoristischen 
Reiz  des  alten  Textes  nicht  entziehen  können.  Um  855  gab 
er  die  Cena  verkürzt  heraus^)  und  widmete  diese  Be- 
arbeitung mit  einem  erhaltenen  Briefe  2)  König  Lothar  IL 
Daß  er  irgend  etwas  religiös  Anstößiges  darin  gefunden 
hätte,  sagt  er  nicht.  Er  unterstreicht  das  Lehrhafte, 
Nützliche  des  Stoffes,  ohne  den  Ausdruck  der  Hoffnung 
zu  vergessen,  daß  die  Lektüre  dem  Herrscher  'ad  iocun- 
ditatem'  zur  Kurzweil  dienen  möge.  Während  Hrabans 
Text  bis  zum  15.  Jahrhundert  in  einem  Dutzend  Hand- 
schriften kopiert  wurde,  fand  die  alte  Cena  eine  wenig- 
stens fünfmal  so  große  Verbreitung,  —  schwerlich  als 
praktisches  Hilfsmittel  zur  Erwerbung  und  Befestigung 
von  Bibelkenntnissen,  vielmehr  der  absonderlichen, 
unterhaltenden  Zusammenstellung  wegen.  Wie  der  fran- 
zösische Mönch  Herveus  in  der  Mitte  des  12.  Jahr- 
hunderts das  Gastmahl  aufgefaßt  hat,  kann  ich  noch 
nicht  sagen,  da  von  seinem  handschriftlich  erhaltenen 
Kommentar  bisher  allzuwenig  veröffentlicht  ist.  Klar 
ist  seit  den  Untersuchungen  von  F.  Novati  (in  seiner 
Parodiestudie),  von  Lapötre  und  namentlich  seit  der 
gut  eingeleiteten  und  gut  fundierten  kritischen  Ausgabe, 
die  vor  einigen  Jahren  Karl  Strecker  geliefert  hat,  3)  daß 
in  der  zweiten  Hälfte  des  9.  Jahrhunderts  ein  römischer 
Diakon  Johannes  den  alten  Volltext  zu  einer  aus- 
gesprochen heiteren  Parodie  umgedichtet  hat. 

Deutlicher    noch    als    in    der   Prosavorlage    erscheint 

')  Im  Drude  veröffentlidit  durch  H.  Hagen  in  der  Zeitschrift  für  wissenschaftliche  Theo» 
logie    XXVII  164  ff.  mit  Nachträgen  von  Rönsch  S.  344  ff. 

2)  MG.  Epp.  y  506. 

3)  MG.  Poetae  IV  857  sqq. 


Cena  Cypriani  29 

in  dieser  rhythmischen  Cena  die  Parodie  als  burleskes 
Unterhalfungsstück.  Prolog  und  Epilog,  so  dunkel  sie 
in  einzelnem  sind,  überheben  uns  hinsichtlich  der  ko- 
mischen Absicht  und  der  Wirkung  über  jeden  Zweifel. 
Der  Dichter  tritt  als  Bajazzo  vor  das  Publikum: 

'Quique  cupitis   saltantem  me  Johannem  cernere, 
nunc  cantantem   auditote,   iocantem  attendite: 
satiram  ludam  percurrens  divino   sub  plasmate, 
quo  Codri  findatur  venter.    Vos,  amici,  plaudite. 

Riserat  qua    Cyprianus  post  Felicem  Mineum, 
talamum  logiae  Septem  qui  dotavit  artibus, 
sub   pampineis  vinetis,   sub   racemis  mollibus, 
vetera  novis  commiscens  scriba  prudentissimus. 

Hac  ludat  papa  Romanus  in  albis  pascalibus, 
quando  venit  coronatus  scolae  prior  cornibus, 
ut  Silenus  cum  asello  derisus  cantantibus, 
quo   sacerdotalis  lusus  designet  misterium. 

Hanc  exhibeat  convivis  Imperator  Karolus, 
in  miraculis  gavisus,  prodigus  in  vestibus, 
quando  victor  coronatur  triumphatis  gentibus, 
ut  imperialis   locus  instruat   exercitum. 

Video    ridere,    certet   quam    scurra    Grescentius, 
ut  cachinnis  dissolvatur,  torqueatur  rictibus; 
sed  prius  pedens  crepabit  tussiendo  vetulus, 
quam  regat  linguam  condensis  balbus  in  nominibus. 

Ad  cenam  venite  cuncti  Cypriani  martiris, 
rhetoris  et  papae  clari  Libicae  Carthaginis, 
quam  sophista  verax  lusit  divinis  miraculis, 
non   satiricis   commentis,   non   comoedi  fabulis.' 

Während  Lapötre  glaubte,  das  Gedicht  wäre  wirklich 
876  in  Gegenwart  Karls  des  Kahlen  und  des  Papstes  zu 


30  Cena;  Theodulf;  Sedulius  Scottus 

Rom  beim  Schülerfeste  rezitiert  worden,  scheint  mir 
K.  Strecker  mit  Recht  betont  zu  haben,  daß  davon  in 
den  Versen  nicht  die  Rede  sei.  Der  Dichter  wünscht 
nur,  daß  der  Papst  es  sich  vortragen  lasse,  vergegen- 
wärtigt sich,  wie  die  Cena  bei  einer  Cena  des  Kaisers 
verlesen  werden  und  Karl  fast  vor  Lachen  platzen 
werde,  wenn  vielleicht  ein  Mann  wie  Grescentius  sich 
stotternd  abquäle,  die  vielen  fremdartigen  Namen  her- 
auszubringen. Der  leider  unvollständig  überlieferte  Epi- 
log scheint  von  dem  großen  Reifall  zu  sprechen,  den  die 
alte  Cena  an  Karls  des  Kahlen  Hoftafel  gefunden  hatte. 

Das  tolle  Spiel,  das  in  der  alten  Cena  mit  der  Ribel 
getrieben  ward,  ist  hier  wiederholt  und  durch  die 
Rhythmen  außerordentlich  belebt.  Ganz  begreifen  läßt 
es  sich  allein,  w^enn  man  Zeile  für  Zeile  mit  den  Ribel- 
stellen  vergleicht.  Dringt  man  erst  einmal  etwas  in  das 
Textverständnis  ein,  dann  merkt  man,  daß  hier  ein  guter 
Ribelkenner  gewandt  und  witzig  ein  unterhaltendes  Lite- 
raturstück aufgefrischt  hat,  eine  trotz  aller  Kühnheiten, 
ja  Obszönitäten  und  scheinbaren  Rlasphemien  im  Grunde 
harmlose  Parodie.  Mehrfach  abgeschrieben,  ist  sie 
später  gelegentlich,  z.  R.  von  dem  Reimser  Azelinus, 
umgearbeitet  worden.  Daß  man  in  den  folgenden  Jahr- 
hunderten an  solchem  komischen  Mißbrauch  der  Ribel 
Gefallen  fand,  nimmt  den  Kenner  der  geistigen  Entwick- 
lung weniger  wunder  als  bei  flüchtigem  Retrachten  die 
Tatsache,  daß  schon  im  9.  Jahrhundert  eine  derartige 
Umdichtung  entstand.  Und  man  muß  sagen:  Ohne  die 
Wiederentdeckung  der  vormittelalterlichen  Cena  Cypri- 
ani  wäre  Johannes  Diaconus  kaum  zu  einer,  großzügi- 
gen Parodie  angeregt  und  ermächtigt  worden.  Wohin 
man  sonst  blickt,  sieht  man  in  der  karolingischen  Zeit 
hur  schüchterne  Ansätze  zur  Parodie. 

Ansätze  erblicke  ich  in  der  Tierfabeldichtung,  wo  man 
zwar  einstweilen  fast  immer  beim  Erzählenden  und 
Frommallegorischen  bleibt,  Theodulf  von  Orleans 
aber  schon  satirische  Töne  anschlägt.  Ansätze  in  den 
ironischen  und  humoristischen  Epitaphien:  Sedulius 


Mico;  Johannes  Scottus;  Ermenridi  31 

Scott  US  schließt  sein  scherzhaft  vorgetragenes  Gedicht 
von  dem  armen  Hammel,  den  die  Hmide  zerrissen,  mit 
der  komisch-ernsten  Grabschrift:  ^) 

'Tu,  bone  multo,  vale,  nivei  gregis  inclite  ductor, 

heu,  quia  nee  vivum  te  meus  hortus  habet. 

Forsan,    amice,    tibi   fieret    calidumque  lavacrum, 

non  alia  causa,  iure  sed  hospitii; 

ipse  ministrassem  de  voto  pectore  limphas 

cornigero  capiti,  calcibus  atque  tuis. 

Te,  fateor,  cupii:  viduam  matremque  cupisco, 

fratres  atque  tuos  semper  amabo.    Vale.' 

Mico  von  St.  Riquier^)  schreibt  ein  Scherzepitaph 
auf  einen  Ostiarius,  der  die  Kirchengewänder  und  -ge- 
rate aufbewahrt.  Der  kühne  Ire  Johannes  Scottus 
findet  den  Mut  und  den  Witz,  seinem  damals  noch  leben- 
den Gegner,  dem  mächtigen  Hincmar  von  Reims,  die 
Verse  3) 

'Hie   iacet   Hincmarus    cleptes   vehementer   avarus: 

Hoc  solum  gessit  nobile,  quod  periit' 
zu  widmen. 

Echte  Parodien  antiker  Literaturwerke  sind  von  den 
höfischen,  geistlichen  Schriftstellern  dieser  Epoche  nicht 
oder  höchst  selten  und  zaghaft  gewagt.  Zu  einer  Ge- 
lehrten- und  Schülerwelt,  die  trotz  der  Weltanschau- 
ungsunterschiede voll  scheuer  Bewunderung  zu  den 
großen  Alten  als  den  unübertroffenen  Formvorbildern, 
den  unerschöpflichen  Stoff  quellen  aufsah,  würden  leicht- 
fertige, humoristische  Verwendungen  und  Verwand- 
lungen der  Klassiker  schlecht  gepaßt  haben.  Ermen- 
rich  von  Ellwangen  liefert  keine  vollständige  Aus- 
nahme von  der  Regel,  wiewohl  er  etwas  eigenbrötlerisch 
ist.  Ich  wiederhole,  aber  unterschreibe  nicht  vorbehalt- 
los, was  P.  von  Winterfeld  über  Ermenrichs  Brief  an 
Grimald  ge*sagt  hat:*)  „Einmal  wenigstens,  am  Schlüsse, 
erhebt  sich  der  trockene  Pedant  über  seine  gramma- 
tischen und  philosophischen  Tüfteleien  zu  einer  über- 
mütigtollen Parodie,    die  wohl  geeignet  ist,    den  Leser 

')  MG.  Poetae  III  207.    2)  j.  c.  365.    ^)  1,  c.  553.    ")  Deutsche  Dichter  S.  407  f. 


32  Ermcnrich  von  Ellwangen 

für  die  trostlos  öden  Deduktionen  zu  entschädigen,  die 
er  über  sich  hat  ergehen  lassen  müssen.  Dem  Vater 
Homer  ist  sein  Vegetariertum  übel  bekommen:  ein  arges 
Leibgrimmen  zwackt  ihn  und  gemahnt  ihn  an  die  Ver- 
gänglichkeit alles  Irdischen;  so  macht  er  sich  auf  zu 
seinem  Kollegen  Virgil,  um  ihn  zum  Erben  einzusetzen, 
damit  die  Tradition  nicht  abreiße  in  der  ehrsamen 
Dichterzunft.  Aber  unterwegs  schon  ereilt  ihn  sein 
Schicksal:  Orcus  tritt  ihm  entgegen,  auf  seines  Drei- 
zacks Spitze  ein  Läuslein  gespießt,  und  ruft  ihm  ent- 
gegen sein  schnödes:  'Bis  hierher  und  nicht  weiter!' 
Dieser  possierliche  Anblick  kuriert  den  Patienten  mit 
einem  Schlage:  er  bricht  in  Lachen  aus,  macht  kehrt 
und  schlägt  ein  Kreuz  ob  solchem  Teufelsspuk;  rasch 
entschlossen  wirft  er  seinen  ganzen  mytliologischen 
Ballast  über  Bord,  die  Ilias,  wie  sich's  gebührt,  vor- 
an, um  nur  noch  von  (ialhis  zu  singen,  dem  hei- 
ligen natürlich,  und  nicht  wie  Silen  in  Virgil s  sechster 
Ecloge,  die  Ermenrich  hier  im  ganzen  und  im  ein- 
zelnen parodiert  hat,  dem  augusteischen  Dichter." 
Eine  Vergilparodie  anzunehmen,  ist  mehr  als  gewagt. 
Es  ist  richtig,  daß  Ermenricii  Vergil  nachahmt,  in- 
dem er  wie  in  der  sechslen  Ecloge  Sagen-  und  Dich- 
tungsstoffe aulzählt,  V.  41  f.,  Gl  f.,  64,  oriensichllich 
imitiert  und  am  Ende  i\cn  Dichter  von  (iallus  singen 
läßt.  Aber  ich  bezweifle  und  bestreite,  daß  der  Schwal)e 
eben  durch  die  Nachahmung  eines  bestimmten  Werkes 
des  verehrten  Klassikers  den  komischen  hlrlolg  erreichen 
wollte.  Dazu  ist  die  Imilalion  zu  sporadisch  und  ober- 
flächlich. Was  man  parodistisch  neinien  kann,  ist  nicht 
durch  das  Vorbild  der  iu'loge  gegeben,  das  ist  vielmehr 
die  selbständige  burleske  BehandUnig  antiker  Vorstel- 
lungen und  besonders  des  Dichtert'ürslen  Homer.  Eben- 
so geht  mir  V.  Winterfeld,  (Wn  ich  wahrlich  hoch- 
schätze, zu  weit,  wenn  er  Notkers  (?)  Schwankdichtung 
vom  Wunschbock  als  Parodie  bezeichnet.^)  Eine  lustige 
Geschichic  wird  glcicli   einer  ernsthaften  in  getragenem 

')  Deutsche  Dichter  S.  487. 


Schwanke  des  10.  und  1 1 .  Jahrhunderts  33 

Tone  vorgebracht.  Das  hat  jenes  Gedicht  mit  einer 
Parodie  gemein,  genügt  jedoch  schwerlich.  Sonst  müß- 
ten wir  zahllose  Schwanke  und  Possen  zu  den  Parodien 
rechnen. 

Parodistische  Töne  erklingen  hier  von  ferne,  er- 
klingen desgleichen  in  einigen  Poesien  der  anekdoten- 
freudigeren Zeit,  die  auf  die  karolingische  Renaissance 
folgte. 

In  der  berühmten  Cambridger  Liederhandschrift 
haben  wir  das  köstliche  Scherzgedicht,  i)  wie  vor  dem 
Erzbischof  H  e  r  i  g  e  r  von  Mainz  (913 — 927)  einer  er- 
scheint, der  sich  brüstet,  in  Hölle  und  Himmel  gewesen 
zu  sein.  Christus  beim  Mahl,  von  Johannes  dem  Täufer 
als  Mundschenk,  von  Petrus  als  Koch  bedient,  will  der 
Schelm  gesehen  und  selbst  im  Himmel  ein  Stück  Lunge 
gestohlen  und  verzehrt  haben,  wofür  ihn  Heriger 
bestraft.  Trotz  der  Züchtigung  und  Moralpauke  am 
Schluß  denke  ich  nicht  mit  Ehrismann  2)  an  einen  mo- 
ralistischen Charakter  des  Gedichtes.  Für  die  Geschichte 
der  Parodie  ist  mir  das  Poem  bedeutungsvoll,  weil  die 
Erzählung  von  Christi  Mahl  im  Himm.el  ans  heilige 
Abendmahl  und  die  parodistische  Cena  Cypriani  er- 
innert, w^eil  sie  einen  weiteren  Beweis  dafür  gibt,  daß 
man  vor  lustiger  Behandlung  des  Himmlischen  und 
Heiligen  nicht  zurückschreckte.  Vielleicht  liegt  in  dem 
Herigerliedchen  sogar  eine  Parodie  der  sich  häufenden 
ernstgemeinten  Visionen  vor.  Die  Ausdrücke  Ver- 
höhnen, Verspottung  des  Wunders  u.  dgl.  kann  ich 
im  Gegensatz  zu  F.  v.  d.  Leyen^)  auf  die  Geschichte 
von  Heriger  und  den  Schwank  vom  Schnee- 
kind nicht  anwenden.  Im  Humor  verwandt  ist 
das  Fulbert  von  Chartres  (f  1029)  zugeschriebene  lau- 
nige Gedicht  vom  Vater  Johann  dem  Kleinen,*) 
in   derselben    Sammlung    und    einigen    anderen   Hand- 

')  The  Cambridge  songs,  edited  by  Karl  Breul,  Cambridge  1915,  p.  59  u.  85  sq. 

^)  Geschichte  der  deutschen  Literatur  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters.  I  (München  1918), 
S.  360. 

')  German. «Roman.  Monatsschrift.    X  (1922)  S.  132. 

■*)  The  Cambridge  songs  p.  60  u.  86  sq.  Einen  Aufsaß  über  das  Gedicht  veröffentliche 
ich  demnächst  im  holländischen  Ncophilologus. 

Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  3 


34  Ansätze  zur  Parodie 


Schriften  überliefert,  das  gegen  die  Übertreibung  mo- 
nastischer  Askese  sich  wendet  und  im  Zeitalter  der 
Cluniacenser  besonderen  Anklang  gefunden  haben  mag. 
Sieht  man  von  der  Cena  Cypriani  ab,  wird  bis  zum 
11.  Jahrhundert  das  Parodistische  immer  nur  angedeutet 
und  gestreift.  Die  Vergeistlichung  der  Literatur  war 
übermächtig  gewesen.  Das  freilich  hatte  sie  nicht  zu 
verhindern  vermocht,  daß  die  Kritik  sich  hervorwagte, 
und  daß  man  zu  Scherzen  an  ernsten  und  heiligen  Wer- 
ken, Personen  oder  Stoffen  sich  erkühnte  und  so  den 
Boden  befruchtete  für  die  Blüte  und  Beife  der  mittel- 
alterlichen  Parodie. 


ENTFALTUNG  DER  PARODIE  VOM  ELF=^ 
TEN  BIS  FÜNFZEHNTEN  JAHRHUNDERT 

Die  allgemeinen  Kräfte,  die  den  allzeit  vorhan- 
denen, im  Mittelalter  sich  literarisch  besonders  stark 
ausprägenden  Nachahmungstrieb  zur  Parodie 
beflügeln,  sind  Übermut  und  Unmut,  Lust  und  Spott, 
Spiel  und  Scherz,  Sehnsucht  nach  den  Genüssen  des 
Lebens  und  jubelndes  Erinnern  an  sie,  sind  der  Ein- 
blick in  die  Schwächen  der  Menschen  und  (menschlichen 
Einrichtungen,  Entsetzen,  Empörung  über  Fehler,  Laster 
und  Verbrechen,  ist  die  triumphierende  Schaden- 
freude. Nun  hat  es  Haß  und  Liebe,  Verachtung  wie 
Bewunderung,  jauchzendes  Verlangen  und  Genießen 
stets  im  mittelalterlichen  Menschen  gegeben.  Dehnt  und 
füllt  sich  die  lateinische  Parodie  erst  seit  dem  11. /12. 
Jahrhundert  wieder  tüchtig  aus,  so  entspricht  das  dem, 
daß  in  den  damals  das  Abendland  durchwühlenden 
Streitigkeiten  zwischen  geistlicher  und 
weltlicher  Gewalt,  zumal  im  Kampfe  gegen 
und  um  die  Vorherrschaft  des  päpstlichen  Roms,  bei 
der  erstarkenden  Rivalität  zwischen  Welt- 
klerus und  Ordensklerus  und  den  Orden 
untereinander  Zwang  und  Lust  zu  geistigen  Fehden 
auch  in  den  gelehrten  und  lernenden  Kreisen,  die  sich 
in  der  karolingischen  Epoche  vorwiegend  ruhiger 
wissenschaftlicher  Arbeit  gewidmet  hatten,  außerordent- 
lich gefördert,  daß  der  Widerspruchsgeist  geweckt 
und  angestachelt  wurde,  daß  neben  dem  Streben  und 
Lechzen  nach  dem  himmlischen  Jerusalem,  neben  den 
Verzückungen  der  Mystik,  neben  der  weitabgewandten 
Grübelei  und  Askese  eine  ungebundene  Daseins- 
freude bei  den  Laien  und  den  Geistlichen  sich  mächtig 
kundgab. 

3* 


36  Vaganten  oder  Goliarden 

Man  könnte  es  wagen  und  hat  es  getan,  die  Entfaltung 
der  Parodie  mit  den  Vaganten  oder  Goliarden 
in  Verbindung  zu  bringen.  Es  ist  historisch  bezeugt, 
daß  namentlich  seit  dem  12.  Jahrhundert  die  Universi- 
täten Frankreichs  und  Italiens  einen  hohen  Aufschwung 
nahmen,  und  daß  Tausende  von  jungen  Leuten  aller 
Nationen  zu  ihnen  hinströmten.  Wir  wissen  von  dem 
Fleiß  dieser  Jugend,  wissen  aber  auch,  daß  die  Studen- 
ten, die  jungen  Glerici,  nicht  nur  arbeiteten,  sondern 
gern  das  Leben  mit  vollen  Zügen  genossen.  Wie  die 
Universitätsstädte,  waren  die  Landstraßen  voll  von  Stu- 
dierenden, die  auf  die  hohen  Schulen  zogen.  Daß  es 
da  auf  der  Wanderung  oft  derb  und  lustig  zuging,  daß 
mancher  die  in  den  Schulen  gelernte  lateinische  Vers- 
kunst nach  seinem  Gutdünken  ausübte  und  auf  dem 
Marsche  oder  bei  der  Rast  am  Waldesrande,  in  den 
Schenken  frohe  und  freche  wie  ernste  Lieder,  die  ihm 
selbst  gelungen  waren  oder  die  er  gehört,  gelesen  hatte, 
erschallen  ließ,  das  ist  etwas  schier  Selbstverständliches. 
Zu  der  in  jedem  Menschen  steckenden,  im  Genuß  der 
Natur,  im  Beschauen  und  Bewundern  fremder  Länder 
und  Sitten  genährten  Weltlust  kam  oftmals  als  Antrieb 
zu  poetischen  und  prosaischen  Vorführungen  der  bittere 
Zwang,  das  Nachtquartier,  ein  Kleidungsstück,  die  Mahl- 
zeit, die  Reisezehrung  und  insbesondere  einen  Schoppen 
Wein  sich  irgendwie,  doch  möglichst  angenehm  zu  ver- 
dienen. Mehr  als  einer,  dem  das  Versemachen  und  De- 
klamieren leicht  wurde  und  das  Herumziehen  wohl- 
behagte,  der  verlor  auf  dem  Wege  von  einer  Hochschule 
zur  anderen  die  Lust  am  Studium  ganz,  schlug  sich  sin- 
gend und  schmarotzernd  durch  die  Welt,  mancher  nahm 
ein  ruhmloses  Ende,  zumal  es  viel  weniger  freie  Stellen 
und  Pfründen  als  begehrliche  Studenten  gab.  Die  Vagi 
oder  Vagantes  wurden  schließlich  eine  Landplage,  gegen 
die  die  Kirche  streng  einzuschreiten  suchte  wie  gegen 
ehrlose  Leute,  gegen  gefährliches  Gesindel.  Das  ist  ganz 
begreiflich.  Aber  es  wäre  falsch,  in  allen  Vaganten 
Lumpen  und  Landstreicher  zu  sehen.   Viele  fanden  den 


Vaganten  oder  Goliarden  37 

richtigen  Weg,  wurden  sehr  gescheite  und  hochachtbare 
Herren  von  Rang  und  Würden.  Es  wäre  falsch,  in  den 
Vagantendichtern  ausnahmslos  verluderte  und  versoffene 
Genies  zu  sehen.  Viele  Lieder  und  Traktate  sind  trotz 
ihrer  Bosheiten,  Zoten  u.  dgl.  nicht  allzu  ernst  zu  neh- 
mende, nicht  überstreng  zu  beurteilende  Erzeugnisse 
ausgelassener  Augenblicksstimmungen.  Und  vor  allem 
die  sog.  Vagantendichtungen  sind  durchaus  nicht  nur 
von  vagierenden  Klerikern  verfaßt,  sondern  nicht  selten 
bloß  in  Stil  und  Laune  der  fahrenden  Schüler  gehalten. 
Wie  man  sich  im  biedern  Kloster  Benediktbeuern  nicht 
scheute,  eine  Sammlung  solcher  Texte  aufzubewahren, 
die  von  Lebenslust  strotzten,  unter  fernem  Himmel,  in 
welschen  und  deutschen  Kneipen  bei  Spiel  und  Wein 
und  Weib  gesungen  waren,  auch  Rügelieder  enthielt,  die 
mit  zündenden  Worten  den  Niedergang  Roms  malten,  so 
hat  gar  oft  ein  braver  Klostermann,  ein  kirchentreuer 
Pfarrer,  ein  wohlbestallter  Domherr,  ein  strenger  und 
gelahrter  Professor  im  Zorne  oder  in  froher  Stunde  zum 
eigenen  Vergnügen,  zur  Freude  und  im  Auftrage  seiner 
Fürsten,  Vorgesetzten  und  Genossen  Poeme  verfaßt,  die 
man  getrost  zur  Vagantenpoesie  zählen  kann.  —  Der 
Name  Goliarden  erfordert  weniger,  daß  man  die  Begriffs- 
grenzen erweitert,  aber  er  bedarf  mehr  der  Erklärung. 
Man  schwankt,^)  ob  man  ihn  von  'Gula',  von  der  Gierig- 
keit, ob  von  Goliath,  dem  riesenhaften  Philister  ableiten 
soll.  Sehr  gefördert  hat  die  neueste  Untersuchung. 
Filippo  Ermini  zeigt  in  ihr,  daß  bereits  die  alten 
Kirchenväter  (Augustin  u.  a.),  dann  Beda  und  andere 
mittelalterliche  Kirchenschriftsteller  in  Goliath  den  Geg- 
ner Christi  kat'  exochen,  den  Teufel  gesehen  und  von  ^en 
'falsi  fratres'  als  den  Söhnen  des  Teufels  gesprochen 
haben.  Die  Goliarden  sind  Satanskerle,  die  dem  Heili- 
gen, Wahren  und  Rechten  widersprechen  und  entgegen- 
arbeiten.   So   paßt   der   Ausdruck  nicht   übel   für   viele 

')  Vgl.  außer  den  älteren  Erörterungen  F.  Neri,  La  famiglia  di  Golia :  Attl  dclla  Reale 
accademia  delle  sclenze  di  Torino.  (Rom  1922)  p.  169  sqq.  (1914/15);  V.  Crescini,  Äppunti 
SU  l'etimologia  di  goliardo:  Atti  del  Reale  Istituto  Veneto  di  scienze,  lettere  ed  arti 
LXXIX  (1920);  Fil.  Ermini,  II  Golia  dei  goliardi:  La  cultura     I  (Rom  1922)  p.  169  sqq. 


38  Textliche  Rahmen :  die  Bibel 

Parodisten,  die  immer  spotteten  mid  opponierten,  die 
aus  Scherz  oder  mit  einem  gewissen  Ernst  statt  der 
Kirche  Christi  die  Teufelskirche  vertraten.  Wer  die 
Goliarden  eigentlich  waren,  sagt  der  Name  nicht.  Ob 
man  sie  so,  ob  man  sie  Vaganten  nennt,  die  Satiriker 
und  Polemiker,  die  Spaßmacher,  die  Sänger  von  Lenz 
und  Liebe,  von  Becherfreuden  und  Würfelspiel  bilden 
eine  Masse  verschieden  gerichteter,  verschieden  ge- 
stimmter Menschen  von  mannigfacher  Herkunft.  So 
wird  mit  der  Festlegung  auf  einen  Titel  nichts  als 
eine  Bequemlichkeit  für  den  Augenblick  gewonnen.  Be- 
dienen wir  uns  bei  unserem  Streifzuge  durch  die  Paro- 
dien gelegentlich  der  einen  oder  der  anderen  Bezeich- 
nung, so  bleiben  wir  uns  ihrer  Mängel  bewußt. 

Um  Ordnung  in  die  Parodien  und  das  Parodistische 
zu  bringen,  könnten  wir  die  verschiedenen  Texte,  die 
man  verwandt  und  verwandelt  hat,  zu  Ausgangspunkten 
nehmen.  In  der  Hauptsache  hat  die  Bibel  die-  Form 
geliefert.  Voran  stehen  die  Evangelien.  Otto  von  Frei- 
sing in  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  ereifert  sich^) 
darüber,  daß  die  Mohammedaner  ein  Tnicium  evangelii 
Mahmet  filii  Dei  prophetae  altissimi  "Lavamini,  mundi 
estote" '  geschrieben  hätten.  Der  letzte  Herausgeber 
A.  Hofmeister  (1912)  hat  angemerkt,  daß  der  Beginn  aus 
Isaias  I  16  stammt  und  der  Text  nicht  in  der  lateini- 
schen Koranübersetzung  Peters  von  Cluny  steht.  Eine 
mohammedanische  Evangelienperikope  mit  lateinischer 
Überschrift  und  Anfangsworten  aus  der  lateinischen 
Vulgata  ist  etwas  sehr  Auffälliges.  Es  ist  möglich,'  daß 
ein  der  Kirchensprache  und  der  Kirchentexte  kundiger 
Mohammedaner  absichtlich  ein  mohammedanisches 
Evangelium  in  lateinischer  Sprache  zusammengestellt 
hatte,  um  die  Christen  zu  ärgern.  Oder  sollte  Otto  auf 
den  vielleicht  nur  scherzhaft  gemeinten  Versuch  eines 
Christen  hereingefallen  sein,  der  zeigen  wollte,  daß  die 
Lehren  Mohammeds  zum  größten  Teile  in  der  Bibel 
enthalten  wären.    Auf  jeden  Fall  scheint  Mißbrauch  der 

^)  Chron.  lib.  VII  cap.  7. 


AI 


Textliche  Rahmen:  Liturgisdies  39 

Bibel  und  der  gottesdienstlichen  Formen  vorzuliegen,  i) 
Wie  aber  dem  auch  sei,  man  erzählt,  mindestens  seit 
dem  12.  Jährhundert,  sehr  gern  im  Stile  der  Evangelien. 
Gewöhnlich  ist  nicht  ein  bestimmtes  Evangelium  für  die 
lustigen  oder  boshaften  Geschichten  frisiert,  sondern  der 
Rahmen  irgendeines  Kapitels,  vornehmlich  der  Passion 
Christi,  ist  angefüllt  mit  allen  möglichen  Bibelzitaten, 
die  wenig  oder  gar  nicht  im  Wortlaut,  aber  durch  die 
Gruppierung  und  leichtscheinende  Eingriffe  im  Sinne 
ganz  geändert  sind.  Außer  in  den  buntscheckigen  bibel- 
parodierenden Passiones  werden  Sprüche  der  Psalmen, 
der  Bücher  Salomos,  der  paulinischen  Briefe  mit  Vor- 
liebe parodistisch  gebraucht.  Die  Ausbeutung  der  Bibel 
zu  Spaß  und  Spott  beschränkt  sich  nicht  auf  die  eigent- 
lichen Vollparodien.  Es  ließe  sich  mancher  interessante 
Beleg  dafür  bringen,  daß  man  trotz  der  großen  Autori- 
tät, über  die  im  Mittelalter  die  Bibel  verfügte,  viele 
biblische  Sätze  in  einer  Weise  anzuführen  liebte,  die 
dem  ursprünglichen  Zusammenhange  und  der  kirch- 
lichen Lehre  widersprach.  Absichtlichen  Mißbrauch  be- 
zeugen außer  den  von  uns  zu  besprechenden  parodisti- 
schen  Stücken  Walter  Map  De  nugis  curialium,  Salim- 
benes  Chronik  und  viele  andere.  Über  die  unabsicht- 
lichen Mißverständnisse  hat  man  seit  dem  Zeitalter  von 
Humanismus  und  Reformation  herzhaft  gelacht.  Man 
denke  nur  daran,  wie  die  Dunkelmännerbriefe  den  Un- 
sinn auf  sinnvolle  Spitzen  getrieben  haben. 

Die  Parodie  der  Bibel  erfaßt  diese  als  literarischen 
Text,  erfaßt  sie  ferner  als  Einlage  und  Grundlage  des 
kirchlichen  Gottesdienstes.  Da  ist  wohl  das  Auffälligste 
und  Bezeichnendste,  daß  man  nicht  vor  Gebeten, 
Hymnen,  Litaneien,  ja  nicht  einmal  vor  den  hei- 
ligen Handlungen  der  Messe  haltmachte.  Marienlieder 
sind  zu  wilden  Kneipgesängen  geworden,  die  Termino- 
logie der  himmlischen  Liebe  muß  zur  Schilderung  und 
Begrüßung  der  irdischen  Geliebten  herhalten.  Spiel-  und 
Saufmessen  sind  auf  uns  gekommen.    Der  Geistlichkeit 

^)  In  der  Literatur  habe  idi  keine  Erklärung  der  seltsamen  Stelle  getroffen. 


40  Textliche  Rahmen:  Kirche  und  Schule 

der  ganzen  frommen  Welt  müssen  solche  Parodien  ein 
Greuel  gewesen  sein,  zumal  wenn  sie  in  geistlichen  Ge- 
wändern und  auf  geweihtem  Boden  vorgetragen  wurden. 
Anderseits  hat  der  strenggläubige  Klerus  sich  selbst  der 
Meßparodien  als  Kampfmittel  z.  B.  gegen  die  Hussiten 
und  zur  Abschreckung  in  Ermahnungen  bedient.  Pre- 
digten und  geistliche  Lesestücke  lieferten  die 
Form  namentlich  für  scherzende  Stücke,  die  bis  in  den 
Bereich  des  blühenden  Blödsinns  gingen. 

Von  den  Kirchenvätern  sind  ab  und  an  einzelne 
Sätze  parodiert  worden.  Walter  Maps  Worte :^)  "In  tem- 
pore sum  et  de  tempore  loquor,"  ait  Augustinus  et 
adiecit  "nescio  quid  sit  tempus".  Ego  simili  possum  ad- 
miracione  dicere  quod  in  curia  sum  et  de  curia  loquor 
et  nescio  —  Dens  seit  —  quid  sit  curia'  nennt  James 
Hinton  ^)  eine  'parody  on  St.  Augustine',  wie  ich  glaube, 
etwas  übertreibend,  da  der  humoristische  Anstrich  der 
Imitation  sehr  dünn  ist. 

Nachahmungen  der  Ordensregeln  spielen  in  der 
Tierdichtung  und  in  der  Vagantenpoesie  eine  Bolle. 
Ebenda  werden  auch  kirchliche  Dekrete,  päpstliche 
Bullen  parodiert,  bald  in  heiterem  Kommerston,  bald 
um  über  die  unselige  Macht  des  Geldes  und  über  die 
Simonie  im  besonderen  herzuziehen.  Desgleichen  bieten 
königliche  und  überhaupt  weltliche  Urkunden  und 
Briefe  den  Stil  für  Pamphlete  gegen  Kurie  und  Kirche, 
gegen  weltliche  Machthaber,  für  Ausgelassenheiten  man- 
cherlei Art.  Diese  Stücke  gehören  in  die  umfangreiche 
Literatur  der  fingierten  Briefe,  von  denen  ein  Teil  — 
nicht  alle  —  humoristisch  oder  satirisch  ist. 

Parodien  aus  dem  Schulunterricht  und  Schul- 
leben  sind  mir  wider  Erwarten  selten  begegnet.  Ob 
der  spätmittelalterliche  Novus  Cornutus  Ottos  von 
Lüneburg  den  Cornutus  Johanns  von  Garlandia  und 
die  ganze  Unterrichtsmethode  ins  Lächerliche  ziehen 
wollte,^)  ist  bisher  noch  zweifelhaft.  Öfter  als  die  Schule 

*)  De  nugis  curialium,  ed.  James  p.  1. 

^)  Publications  of  the  modern  language  association  of  America   XXXII  no.  1  (1917)  p.  94. 

«)  Vgl.  E.  Habel,  Der  deutsche  Cornutus.    II  (Berlin  1909)  S,  9. 


Textlidie  Rahmen:  Rezepte,  Grabsdiriften  u.a.  41 

im  Lichte  der  Parodie  sieht  man  beliebiges  anderes  — 
Mönchtum,  Bauern,  Liebe  etc.  —  parodistisch  durch 
Texte    und    Termini    der    Schule   beleuchtet. 

Berühmte  Stücke  der  weltlichen  Poesie  sind 
namentlich  in  den  Zech-  und  Spielliedern  verdreht 
worden. 

R  e  z  e  p  t  e  wurden  entweder  zu  witziger  Unterhaltung 
oder  um  die  Geldgier  der  römischen  Beamten  zu  geißeln 
parodiert.  Es  wird  an  Rezeptparodien  gegen  die  Ärzte 
und  Apotheker  und  ihre  Methoden  nicht  gefehlt  haben. 

Unter  den  vielen  Epitaphien,  die  uns  das  Mittel- 
alter in  Büchern  hinterlassen  hat,  befinden  sich  nicht 
wenige  scherzhafte,  nicht  wenige  ironische  und  sati- 
rische, die  durch  die  komische  Handhabung  der  Sprache 
und  Versform  echter  ernster  Grabschriften  wirken. 

Epitaphien  solcher  Art  sind  beliebte  parodistische 
Einlagen  der  Tierdichtung.  Es  gibt  in  dieser  noch  mehr 
Parodistisches  und  Halbparodistisches,  Nachahmungen, 
zumal  von  Gebeten,  Benediktionen,  Litaneien,  Gesängen 
u.  dgl.  Ja,  man  kann  sagen:  die  Tierdichtungen  des 
Mittelalters  sind  Parodien  der  Helden-  und  Abenteuer- 
dichtung,^)  sind  Parodien  auf  das  ganze  menschliche 
Leben,  indem  die  Tiere  wie  Menschen  sprechen  und 
schreiben,  sich  kleiden,  handeln  und  behandelt  werden. 
Wir  wollen  jedoch  nicht  übers  Ziel  hinausschießen, 
müssen  unterscheiden  zwischen  rein  parodistischen 
Einzelheiten,  den  parodistischen  Einlagen,  wo  Text- 
liches, Sachliches,  Menschliches  wirklich  komisch  ver- 
zerrt ist,  und  denjenigen  Stücken,  die  allein  durch  die 
Zuweisung  an  die  Tiere  parodieähnlich  sind,  und  vor 
allem,  wir  müssen  uns  bescheiden.  Wie  in  der  Tier- 
poesie teils  in  lehrhafter  und  satirischer,  teils  in  rein 
humoristischer,    unterhaltender    Absicht    Worte,    Sitten 

und  Gebräuche  der  weltlichen  und  geistlichen  Stände. 

« - 

')  K.  Burdachs  Kennzeidinung  des  Brunellus  als  einer  „satirischen  Allegorie,  die  sich 
nicht  bloß  gegen  kii-chlidie  und  soziale  Zustände  richtet,  sondern  audi  die  biographisdien 
Romane  vom  Schlage  des  Ruodlieb  parodiert"  (Vom  Mittelalter  zur  Reformation.  III  i , 
Berlin  1917,  S.  282),  ist  in  ihrem  letzten  Teile  wenig  glüdclich,  da  gerade  der  köstlidie 
Ruodlieb  überaus  geringe  oder  gar  keine  Verbreitung  im  Mittelalter  gefunden  hat,  also 
kein  Beispiel  wirksamer  biographisciier  Romane  ist. 


42  Textliche  Rahmen:  Ordnungsprinzipien 

talsächliche  und  erdachte,  typische  und  besondere  Vor- 
gänge und  Leute  mit  komischem  Effekt  wiedergegeben 
oder  geschildert  sind,  das  kann  hier  nicht  durch  die 
sämtlichen  Werke  der  mittellateinischen  Literatur  Ver- 
folgt werden;  wir  hätten  denn  weit  mehr  Platz  oder 
schrieben  eine  Geschichte  der  bis  ins  Altertum  zurück- 
reichenden, in  die  verschiedensten  Literaturen  Europas 
und  Asiens  führenden  Tierfabeln,  Tierdichtungen,  Tier- 
briefe. Ganz  durften  diese  Vorbemerkungen  eines  Hin- 
weises auf  das  Parodistische  der  Tierpoesie  nicht  ent- 
behren, zumal  da  in  der  alten  Gewohnheit,  kleine  und 
kleinliche  Dinge  des  Alltags  der  Tiere  im  Pathos  des 
heroischen  Lebens  zu  berichten  und  Tiere  Wahrheiten, 
oft  bittere,  sprechen  und  zeigen  zu  lassen,  eine  —  nicht 
die  einzige  —  Erklärung  dafür  liegt,  daß  der  mittelalter- 
liche Schriftsteller  tendenziös  und  zur  Unterhaltung  zu 
parodieren  wagte,  ohne  große  Furcht  vor  dem  Vor- 
wurfe der  Entwürdigung,  Entheiligung  verehrter  Lite- 
raturwerke, Menschen,  Institutionen  und  Gewohnheiten. 

Die  Parodien,  die  nicht  eine  bestimmte  Literatur- 
gattung nachahmen  oder  bestimmten  Texten  folgen, 
karikieren  verschiedenartig  Personen,  Verliältnisse,  Er- 
eignisse, Einrichtungen,  besonders  des  kirchlich  poli- 
tischen Lebens.  Z.  B.  werden  Konzilien  und  P r o - 
V  i  n  z  i  a  1  s  y  n  o  d  e  n  erfunden  und  in  freier  Form,  sei 
es  innerhalb  der  Tierepen,  sei  es  in  Texten  für  sich 
lustig  und  spottend  dargestellt. 

Die  Einteilung  und  Behandlung  meines  Stoffes  nach 
den  Formen  (Evangelium,  Messe,  Hymnus  usw.)  habe 
ich  verworfen,  da  sie  leicht  zu  langweiligen  Wieder- 
holungen geführt  hätte  und  die  Parodien  mit  den  glei- 
chen oder  verwandten  Formen  im  Inhalt  z.  T.  grund- 
verschieden sind.  So  ging  es  auch  nicht  an,  nach  No- 
valis Vorbilde  die  Parodia  sacra  und  etwa  die  Parodia 
mundana  für  sich  zu  erörtern.  Nur  äußerlich  ist  die 
Parodie  vielfach  geistlich,  innerlich  geht  Kirchliches 
und  Weltliches  häufig  durcheinander.  Ich  zog  es  vor, 
Tendenz    und    Inhalt    der    Parodien    zu   Ord- 


Gegen  die  römisdie  Kurie  und  die  Geistlichkeit  43 


nungsprinzipien  zu  wählen  und  erst  einmal  die  strei- 
tende und  triumphierende  Parodie,  bei  der  die  Satire 
der  Hauptzweck,  das  Komische  Mittel  zum  Zweck  ist, 
von  der  humoristischen,  der  heiteren  und  erheiternden 
Parodie  zu  sondern,  wobei  ich  wohl  weiß,  daß  auch  sie 
Satire  enthält  und  daß  man  bei  der  Unterscheidung 
zwischen  satirischer  und  humoristischer  Parodie  zu- 
weilen  schwanken  kann. 


1.  DIE  KRITISIERENDE,  STREITENDE 

UND  TRIUMPHIERENDE  PARODIE 

1.  Gegen  die  römische  Kurie  und 
die  hohe  Geistlichkeit 

Radix  Omnium  Malorum  Avaritia. 

Eragt  man  Kenner  nach  einer  mittellateinischen  Paro- 
die, so  wird  man  in  der  Antwort  gewöhnlich  zuerst  das 
aus  Schmellers  Veröffentlichung  der  Carmina  Rurana 
bekannte 'Evangelium  secundum  marcas  argenti'  verneh- 
men. Ja,  das  ist  ein  bezeichnendes,  ein  besonders  ein- 
flußreiches und  ein  recht  altes  Stück.  Das  Silbermarken- 
evangelium führt  uns  mitten  hinein  in  die  Streit-  und 
Spottliteratur,  die  üppig  um  Rom  emporgewuchert  ist. 
Wider  die  Restechlichkeit  der  Kurialen,  wider  die  Si- 
monie, wider  die  Herrschaft  des  Geldes  ist  es  gerichtet. 
Wir  wissen  nicht,  wann  und  wo  das  Evangelium  ent- 
standen ist  und  verschieben  die  Erörterung  der  Da- 
tierungsmöglichkeiten noch  etwas.  Fest  steht  schon 
jetzt,  daß  man  sich  parodierender  Satiren  in  der  von 
glühendem  Haß  und  kaltem  Hohn  erfüllten,  die  sprach- 
lichen literarischen  Formen  außerordentlich  meistern- 
den kirchenpolitischen  Publizistik  seit  dem  Investitur- 
streit mit  leidenschaftlicher  Erregung  und  Reweglichkeit 
zu  bedienen  gewußt  hat. 

Als  Motto  jener  Evangelienparodie  und  anderer  Pam- 
phlete des  11. /l 2,  Jahrhunderts  könnte  man  an  Stelle 
des  Romakrostichons  ein  Distichon  voransetzen,  das  uns 


44  Die  Märtyrer  Albinus  und  Rufinus 


bald  einzeln  in  Handschriften,  bald  in  Chroniken  ein- 
gefügt, bald  in  Moralkompendien  (so  bei  dem  des  Gere- 
mia  da  Montagnone,  saec.  XIV  in.)  im  Mittelalter  gar  oft 
begegnet:  ^) 

Martyris  A 1  b  i  n  i  seu  martyris  ossa  R  u  f  i  n  i 
Romae  si  quis  habet,  vertere  cuncta  valet. 
Schon  zum  Jahre  1076  sagt  Landulf  in  seiner  Mai- 
länder Chronik  von  der  Markgräfin  Mathilde,  Gregor  VII. 
ihren  Parteigängern: 2)  'Haec  enim  cum  totius  fere  Tus- 
ciae  et  usque  Romam  comitatus  sui  potestatem  sola 
exerceret,  pacto  secretissimo  cum  Oldeprando  qui  tunc 
diaconi  apicem  Romanae  ecclesiae  regebat  necnon  qui 
plurimis  Romanis  ossibus  Albini  et  Rufini  spar- 
s  i  s ,  quatenus  sine  consensu  imperatoris  in  pontificatu 
Romano  eligeretur  et  consecraretur,  operam  dedit,'  und 
zum  Jahre  1084  von  Robert  Guiscard:  'Igitur  gente 
coadunata  inmensa  et  Saracenis  omnibus  quos  habere 
potuit  in  paucis  diebus  Romam  veterem,  Romanis  sese 
ac  filios  ac  uxores  minime  tuentibus,  Rufini  et  Al- 
bini reliquiis  deficientibus  armata  manu  Ro- 
bertus  intravit/  Sehr  bald  sind  Albinus  und  Rufinus 
ständige  Figuren,  namentlich  der  antisimonistischen, 
antikurialen  Satire  gewesen.  Das  'Evangelium  de  num- 
mo  ubi  idem  sancti  citantur  tanquam  Romae  efficacis- 
simi'  kenne  ich  allerdings  nicht,  3)  kann  jedoch  außer 
auf  die  weite  Verbreitung  des  obigen  Distichons  auf  die 
Verse  ^) 

quidam    colunt   Albinum 
et  diligunt  Rufinum 

des  Gedichtes  'In  huius  mundi  patria',  auf  die  bisher 
übersehene  Stelle  in  der  'Hierapigra  ad  purgandos  prae- 

*)  Vgl.  neben  anderen  Stellen:  Anzeiger  f.  Kunde  der  deutschen  Vorzeit  XX  101 ;  Neues 
Archiv  XVIII 518,  XXIII 205-,  Notices  et  cxtraits.  XXXI  1  q.  122;  Sitz.=Ber.  d.  Kaiserl. 
Akad.  d.  Wiss.  zu  Wien.  Philos.»hist.  Kl.  Bd.  LIV  (1866)  S.  314;  Haur6au,  Notices  et 
extraits  II  354;  Sigebotos  Vitae  Paulinae,  ed.  P.  Mitzschke,  Gotha  1889,  S.  94;  MG.  SS.  X  119; 
XXXII  227 ;  Libelli  de  lite  II  424  u.  702.  Die  Textvarianten  der  Verse  zu  notieren,  würde 
hier  zu  weit  führen. 

2)  MG.  SS.  VIII  98  u.  100. 

^)  Wattenbadi  und  Bethmann  in  MG.  SS.  VIII  98  n.  38  geben  bedauerlicher  Weise  ihre 
Quelle  niciit  an. 

^)  Carmina  Burana  p.  15. 


Albinus  und  Rufinus.    Garsias  -45 

latos'    des    Acgidius    von    Gorbeil   (1140—1224)    lib.    III 

37  sqq. :  ') 

quod   si   Rufinus  vultu   rutilante  peroret 
assit   et   Albini   presentia,    primo   rebellis 
dura,  severa,  rudis,  non  exorabilis  ante 
laxatur   facies,    iacet    et   tranquilla   quiescit, 

auf  die  Verse  von  Nigelli  Speculum  stultorum :  2) 

Praesul  enim  victus  precibus  meritisque 
Rufini  Vota  censuit  esse  rata, 

und  andere  Anführungen  verweisen. 

Selbstverständlich  meinte  man  mit  Albinus  und  Rufi- 
nus keine  echten  Blutzeugen  des  Christentums,  deren 
Gebeine  wunderkräftig  gewesen  wären,  sondern  das  be- 
sonders im  mittelalterlichen  Rom  allmächtige  Gold  und 
Silber. 

1099  entsteht  der  merkwürdige  Tractatus  Garsiae 
Toletani,^)  worin  die  Völlerei,  die  Geldgier,  die  Käuf- 
lichkeit der  Umgebung  Urbans  II.  an  den  Pranger  ge- 
stellt wird.  Angriffe  auf  die  Kurie  wegen  ihrer  Ver- 
derbtheit hatte  es  schon  vorher  gegeben.  Hier  kam  eine 
Polemik  besonderer  Art  zum  Vorschein.  Der  spanische 
Verfasser  bereicherte  die  Hagiographie  und  Wunder- 
literatur durch  einen  Bericht  von  der  Reise  des  Erz- 
bischofs Bernhard  von  Toledo,  der  angeblich  dem 
Papste  Reliquien  des  Albinus  und  des  Rufinus  bringen, 
in  Wahrheit  durch  Geld  die  Verleihung  der  Legatio 
Aquitaniae    erkaufen    will. 

'Damals,  als  Papst  Urban  in  Rom  Pontifex  war,  fand 
Grimoardus,  der  Erzbischof  von  Toledo,  einige  Reliquien 
der  herrlichen  Märtyrer  Albinus  und  Rufinus,  und  ge- 
wiß, daß  sie  dem  Papste  gefallen  würden  —  denn  er 
kannte    die    Zerknirschung,     die     Seelenstimmung    des 

Mannes  — ,  machte  er  sich  mit  ihnen  nach  Rom  auf. 

- — „ ■ . — ■ 

*^  C.  Vicillard,  Gilles  de  Corbeil,  Paris  1909.  p.  397. 

2)  ed.  Wright  p.  56. 

3)  her.  von  E.  Sackur  in  MG.  Libelli  de  lite.  II  424  sqq.  Vgl.  dazu  C.  Mirbt,  Die 
Publizistik  im  Zeitalter  Gregors  VII.,  Leipzig  1894,  S.  69;  Sdineegans,  Geschichte  der 
grotesken  Satire,  S.  69  ff. ;  G.  Meyer  von  Knonau,  Jahrbücher  des  Deutschen  Reiches  unter 
Heinrich  IV.  und  V.,  Bd.  V  85  ff. 


4-6  Das  Garsiaspamphlet 


Der  Toletaner  lechzte  nämlich  nach  der  aquitanischen 
Legatschaft,  die  auf  Grund  der  Verleihung  Gregors  des 
Großen  und  dank  der  Bestätigung  durch  Privilegien  von 
alters  her  dem  Metropoliten  von  Toledo  zugefallen  war. 
Deshalb  hielt  er  es  für  Schwäche,  Schmach  und  Schande, 
wenn  solch  gewichtige,  fette  und  runde,  solch  delikate 
Person  wie  er  der  Würde  seiner  Vorgänger  beraubt 
wäre.  Übrigens,  wenn  er  auch  Behagen  an  vollen 
Bechern  fand  —  er  war  nämlich  ein  starker  Weintrinker 
und  sein  Bauch  mächtig  aufgedunsen,  wie  er  ja  einen 
ganzen  Salm  bei  einem  Frühstück  in  sich  zu  begraben 
pflegte',  so  beginnt  die  eine  Handschrift  des  'Tractatus 
Garsie  Tholetane  ecclesie  canonici  de  reliquiis  precio- 
sorum  martirum  Albini  atque  Bufini,  ideoque  de  nomine 
eins  intitulatur  libellus  iste  et  vocatur  Garsuinus'.  Die 
andere  zeigt  schon  in  den  ersten  Zeilen  gewisse  Ab- 
weichungen und  sie  schildert  den  Erzbischof  mit  größe- 
rer Ausführlichkeit  folgendermaßen:  'Übrigens  wenn  er 
auch  Gefallen  an  vollen  Bechern  fand  —  er  war  näm- 
lich ein  starker  Weintrinker  — ,  wenn  er  auch  Tag  und 
Nacht  schnarchte  —  denn  wachen  konnte  er  nicht  — , 
wenn  er  auch  einen  Bauch  wie  der  Papst  hatte  —  er 
war  nämlich  mächtig  aufgedunsen,  wie  er  ja  einen  gan- 
zen Salm  bei  einem  Frühstück  in  sich  zu  begraben 
pflegte  — ,  wenn  er  auch  den  Unschuldigen  ächtete,  den 
Gerechten  verfolgte,  den  Armen  betrog,  die  Waisen  um 
ihr  Erbe  prellte,  in  allen  Lügen  ein  Meister  war,  so 
daß  er  sich  schämte,  falls  er  einmal  die  Wahrheit  sagte, 
wenn  er  auch  in  den  vorgenannten  und  anderen  Tugen- 
den sich  hervortat,  durch  die  derzeit  die  feistesten 
Bischöfe  in  die  Höhe  kamen,  würde  er  dennoch  nicht 
Legat  der  römischen  Kirche  werden,  wenn  er  nicht  die 
wertvollen  Beliquien  jener  Märtyrer  dem  römischen 
Pontifex  darbot'  Nun  geht  die  Erzählung  in  beiden 
Zweigen  der  Überlieferung  ziemlich  gleichmäßig  vor: 
Der  Bischof  zieht  mit  seinen  Beliquien  nach  Bom,  betet 
in  der  Kirche  des  Apostelfürsten  Petrus,  klopft  an  den 
Pforten   des   Lateran   an   und  empfängt  vom   Türhüter 


Das  Garsiaspamphlet  47 


die  Antwort:  „Wer  zum  Papst  eintreten  will,  kann  es 
getrost,  wenn  Albinus  ihn  geleitet."  So  kommt  Grimo- 
ard  hinein  und  erblickt  das  Oberhaupt  der  Kirche  beim 
Gelage.  'Vier  feiste  Kardinäle  geben  dem  Papste,  der  in 
Purpur  eingehüllt  auf  einem  marmornen  Sessel  thront, 
aus  einem  schweren  goldenen  Pokal,  der  vom  besten 
Weine  übersprudelt,  zu  trinken.  Seine  Heiligkeit  ist  un- 
geheuer durstig. So  trinkt  er  denn  auf  die  Los- 
kaufung der  Seelen,  auf  die  Kranken,  auf  eine  gute 
Ernte,  auf  den  Frieden,  auf  die  Wanderer,  auf  die  See- 
fahrer, auf  das  Heil  der  römischen  Kirche,  und  wenn 
auch  sein  Magen  kaum  noch  etwas  zu  fassen  vermag,  so 
ermahnen  ihn  die  Kardinäle,  es  doch  immer  wieder  zu 
versuchen,  und  erst  als  es  ihm  ganz  unmöglich  ist,  da 

leeren  die  Kardinäle  selber  den  Pokal. Gregor 

von  Pavia  sitzt  zu  den  Füßen  des  Papstes  und  hält  in  der 
Hand  ein  Buch  —  den  Anticato  — ,  aus  dem  er  eine  be- 
geisterte Lobrede  auf  die  Heiligen  Albinus  und  Rufinus 
vorliest  —  —  — :  Die  herrlichen  Märtyrer  Rufinus  und 
Albinus  vermögen  alles  und  jedes.  Wer  ihre  Reliquien 
besitzt,  dem  werden  alle  Sünden  vergeben;   ist  er  auch 

noch  so  gottlos,  er  wird  doch  unschuldig. —  Wer 

nur  etwas  auf  dem  Gewissen  hat,  wird  sofort  freige- 
sprochen, wenn  er  dem  Papst  die  Reliquien  bringt;  denn 
diese  Märtyrer  sind  die  mächtigsten  Herren  der  Welt. 
Keiner  kann  Widerstand  leisten,  wo  Albinus  eingreift; 
keiner  kann  widersprechen,  wo  Albinus  bittet;  keiner 
kann  etwas  verweigern,  wo  Rufinus  befiehlt.  Sie  sind 
die  Herren  der  Könige,  der  Kaiser,  der  Herzöge,  der 
Fürsten,  der  Regenten,  der  Bischöfe,  der  Kardinäle,« 
Erzbischöfe,  Äbte,  Dekane,  Prioren,  Leviten,  Priester, 
Unterdiakone,  ja  sogar  des  Papstes.  Sie  haben  die  größ- 
ten Heldentaten  vollbracht;  sie  sind  die  Herren  der 
ganzen  Welt.  Ihnen  verschließt  sich  nichts,  vielmehr 
öffnet  sich*alles  vor  ihnen;  sie  haben  die  Macht,  zu  bin- 
den und  zu  lösen.  Und  nun  wird  die  Satire  persönlich 
und  fällt  über  den  Papst  Urban  her,  den  frömmsten 
Papst,  den  wärmsten  und  begeistertsten  Anhänger  dieser 


48  Das  Garsiaspamphlet 


Heiligen,  ihn,  der  in  Gold  und  Purpur  lebt,  in  Reichtum 
und  Piuhmsucht,  der  nur  Sinn  hat  für  gute  Weine  und 

gutes  Essen.  —  ■ In  beredter  Sprache  wird  der  nie 

versiegende  Durst  des  Papstes  nach  Erlangung  dieser 
Mäi'tyrer  geschildert.  —  —  —  Bringt  mir  her,  was  ihr 
findet-  'de  renibus  Albini,  de  visceribus  Rufini,  deventre, 
de  stomachi,  de  lumbis,  de  ungue,  de  humeris,  de  pec- 
tore,  de  costis,  de  cervice,  de  cruribus,  de  bracchiis,  de 
collo,  quid  plura?  De  omnibus  membris  duorum  mar- 
tirum!'  Erst  dann  werde  ich  erkennen,  ob  ihr  meine 
Söhne  seid,  wenn  ihr  mir  kostbare  Reliquien  gebt. 
Bringt  alles,  was  ihr  habt,  und  behaltet  nichts  für  euch; 
denn  diesen  Reliquien  verdankt  Urbanus  alle  seine  poli- 
tischen Erfolge.  Besser  ist  es,  ihnen  zu  vertrauen,  als 
den  Menschen;  denn  sie  vermögen  die  großartigsten  und 
w^underbarsten  Dinge  zu  vollführen,  sie,  denen  das 
Reich  und  die  Herrlichkeit  gehört  in  aller  Ewig- 
keit. Ein  solches  Lob  der  Heiligen  Rufinus  uncj  Albinus 
kann  natürlich  für  den  Erzbischof  von  Toledo,  der  ilire 
Reliquien  bringt,  nur  ermunternd  sein,  und  so  bricht  er 
denn  sofort  in  die  Rufe  aus:  „Heiliger  Albinus,  bet  für 
uns!  Heiliger  Rufinus,  bet  für  uns!"  Und  sogleich  ist 
die  ganze  Versammlung  Feuer  und  Flamme  für  den  An- 
kömmling. „Das  war  ein  guter  Anfang;  das  ist  ein 
wahrer  Sohn  der  römischen  Kirche;  Christus  spricht 
aus  seinem  Munde."  Und  die  Kardinäle  erheben  sich 
und  gehen  auf  ihn  zu,  und  der  Papst  steht  auf  und  küßt 
ihn,  und  als  er  die  Reliquien,  die  der  Erzbischof  ihm 
bringt,  in  Empfang  genommen  hat,  und  unter  großen 
"Zeremonien  im  römischen  Schatze  niedergelegt  hat,  da 
kennt  sich   der  gute   Urbanus  nicht  mehr  vor  Freude. 

—  Urbanus  berauscht  sich  immer  mehr  in  seinen 

eigenen  Worten.  Seine  Macht  ersteigt  in  seiner  Ein- 
bildungskraft schon  ganz  gewaltige  Höhen.  Er  erhebt 
sich  über  alles,  was  kanonisch,  was  himmlisch,  was 
katholisch,  was  gesetzlich  ist.  Schon  sieht  er,  wie  er  die 
Finsternis  in  Licht  verwandelt,  wie  er  das  Schlechte 
zum  Guten  kehrt .    „Vorbei,  vorbei  ist  der  Tag 


Das  Garsiaspamphlct  49 


des  Zornes,  der  Bitterkeit,  des  Sturmes  und  der  Schmer- 
zen, als  uns  zu  trauern  oblag,  als  der  römische  Stuhl 
Urban  verweigert  wurde,  als  der  Senat  nicht  unser  war, 
als  wir  vor  Heinrich  flohen,  als  der  Ketzer  Guibert 
glücklich  auf  dem  Petersstuhle  saß.  Nun  gelangten  wir 
durch  die  Gunst  der  heiligen  Märtyrer  Albinus  und  Ru- 
finus  vom  Schiffbruch  in  den  Hafen,  von  der  Ver- 
bannung ins  Vaterland.  Und  darum,  meine  Kardinäle, 
laßl  uns  diese  Tage  in  Freude  und  Lust  verbringen; 
denn  nun  sind  wir  gesichert,  nun  sind  wir  im  Hafen! 
Die  ganze  Welt  lächelt  uns  zu!  Drum  wollen  wir  trin- 
ken, den  sinnlichen  Lüsten  nachgehen,  für  unser  Fleisch 

und  Blut  sorgen. "   Der  Erzbischof  von  Toledo, 

welcher  dem  römischen  Stuhle  soviel  Gutes  getan,  ver- 
dient belohnt  zu  werden.  Der  Papst  läßt  ihn  deshalb  zu 
seiner  Rechten  sitzen;  „denn  diejenigen,  die  seinen  Wil- 
len tun,  das  sind  seine  Freunde,  die  sieht  er  als  Bruder, 
Schwester  und  Mutter  an."  Aber  bei  solchen  platoni- 
schen Liebesbezeugungen  bleibt  man  am  päpstlichen 
Hofe  nicht  stehen.  Schon  das  äußere  Aussehen  des  Erz- 
bischof es  verlangt  kräftigere  Liebesbezeugungen.  Ge- 
nügen doch  kaum  die  Epitheta,  um  sein  feistes  Aussehen 
zu  beschreiben.  Als  Johannes  von  Cadix  ihn  sieht  — , 
da  erhebt  er  sich  sofort  vor  Papst  und  Kardinälen  und 
bricht  in  den  Ruf  aus:  „Der  da  verdient  wohl  drei  Po- 
kale!" Und  der  Bischof  zeiöt  sich  den  Kardinälen  f^e- 
wachsen.  Im  Nu  hat  er  die  drei  Pokale  bis  auf  den 
Grund  ausgeleert  und  zur  größten  Verwunderung  der 
Kardinäle,  die  doch  auch  ihren  Mann  zu  stehen  wis- 
sen   ,  trinkt  er  hernach  sogar  noch  einen  vierten 

Pokal  aus.  Nach  einer  solchen  Leistung  ist  alles  für 
ihn  gewonnen.  Er  wird  von  allen  hochgeachtet,  und  nun 
darf  er  auch  Legat  von  Aquitanien  werden;  denn  'per 
rauitas  potationes  intrandum  est  in  legationem  Aqui- 
taniae'. 

Ich  habe  von  Seite  45  an  einen  Auszug  aus  der  Para- 
phrase von  Schneegans  gegeben.  Man  kann  sie  ver- 
bessern,  kann   die   Satire  auch  übersetzen.    Aber   wäre 


Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter 


50  Das  Garsiaspamphlet 


die  Paraphrase  oder  die  Übertragung  noch  so  gut,  ver- 
miede sie  es  überall,  die  besten  Pointen  zu  töten,  alles, 
was  man  geben  kann,  ist  nur  ein  kümmerlicher  Ersatz 
des  lateinischen  Originals,  das  ein  Meister  der  Satire 
geschrieben  hat.  Der  guten  Ausgabe  E.  Sackurs  sind 
recht  viele  Leser  zu  wünschen.  Was  sie  dabei  beob- 
achten müssen,  ist,  daß  die  große  Satire  parodistisch 
ist,  insofern  sie  ironisch  von  der  Übertragung  und  der 
Wunderkraft  der  'Reliquien'  berichtet,  parodistisch,  in- 
sofern sehr  viele  ihrer  Sätze  komische  Verdrehungen 
der  Bibel,  liturgischer  Formeln  u.  a.  sind,  parodistisch, 
indem  sie  die  Personen  und  Zeremonien,  das  Leben 
der  Kurie  komisch  darstellt.  Weder  Schneegans  noch 
Sackur  haben  den  Nachahmungscharakter  genügend 
aufgedeckt.  Ob  ein  bestimmter  Translationsbericht  der 
Hagiographie  zum  Muster  genommen  ist  oder  nicht, 
sicher  ist  mir,  daß  der  Versuch  gemacht  und  gelungen 
ist,  den  hagiographischen  Erzählungsstil  und  <  in  der 
Sententia  des  Gregor  von  Pavia  eine  Heiligenhomilie 
zu  imitieren.  Im  einzelnen  hat  der  schlaue  und  gelehrte 
Pa rodist  sehr  viel  mehr  Schriftstellen  um-  und  ein- 
geflochten als  von  Sackur  u.  a.  erkannt  sind.  Unter 
Benutzung  der  Konkordanzen  und  in  gemeinsamer  Lek- 
türe mit  Herrn  P.  Robert  von  Nostitz  -  Rieneck,  S.  J. 
(Regensburg)  habe  ich  noch  viele  dem  letzten  Heraus- 
geber entgangene  Bibelparodien  im  Garsiastraktat  fest- 
stellen können. 

Garsias  kann  ein  Pseudonym,  kann  der  wahre  Name 
des  Verfassers  sein.  Mirbt  und  Sackur  glaubten  das 
Werk  von  einem  Spanier  aus  dem  Bekanntenkreise  des 
Erzbischofs  von  Toledo  geschrieben.  Wiederum  nur 
eine  Vermutung,  eine  Möglichkeit,  keine  Gewißheit.  In 
den  sachlichen  und  literarischen  Kenntnissen,  die  der 
Satiriker  verrät,  kann  ich  keine  Stützen  für  jene  An- 
nahme sehen.  So  außerordentlich  ist  weder  die  Sach- 
kenntnis noch  die  Belesenheit,  daß  wir  sie  nicht  z.  B. 
auch  einem  deutschen,  einem  belgischen  oder  sonst 
einem  Gegner  Urbans  zutrauen  dürften. 


Die  päpstlichen  Türhüter  51 

..Eine  so  witzige  Satire  konnte  natürlich  nicht  ver- 
fehlen, großen  Eindruck  zu  machen  und  Nachahmungen 
hervorzurufen.  Eine  solche,  wenn  auch  sehr  abgeblaßte 
und  an  Grotesken  lange  nicht  so  reiche  Satire  ist  das 
sog.  Silbermarkenevangelium."  Über  den  mit  diesen 
Worten  von  Schneegans  behaupteten  starken  Eindruck 
weiß  man  recht  wenig.  Es  sind  nur  zwei  mittelalterliche 
Handschriften  (saec.  XII  und  XIII)  bekannt  geworden, 
die  freilich  dadurch,  daß  sie  verschiedene  Textformen 
repräsentieren,  Beschäftigung  mit  dem  Traktat  bekun- 
den. Nachahmungen?  Es  ist  sehr  fraglich,  ob  man 
das  Geldevangelium  als  Nachahmung  anführen  darf.  Die 
Tendenz  ist  ja  dieselbe  wie  bei  Garsias:  Bloßstellung 
der  Kurie,  Schilderung  ihrer  Habsucht  und  Üppigkeit. 
Beide  malen  mit  grellen  Farben,  beide  schildern,  wie  ein 
Reicher  wegen  seiner  Geschenke  Zutritt  und  Gehör  beim 
Papste  findet,  beide  berühren  sich  gelegentlich  auch  in 
Einzelheiten  der  Wortgebung.  Auf  der  anderen  Seite  fehlt 
es  nicht  an  Trennendem,  und  das  Gemeinsame  findet 
man  bei  vielen,  die  in  ähnlicher  Stimmung  tausendfach 
und  laut  in  Poesie  und  Prosa  gegen  die  Kirche  und  vor- 
nehmlich gegen  die  kirchlichen  Spitzen  gewettert  haben. 

Die  folgenden  Seiten  werden  es  hinlänglich  belegen, 
daß  Satiren  auf  das  geldgierige  Rom  vom  11.  Jahrhun- 
dert an  etwas  Gebräuchliches  sind  und  sich  oftmals 
dieselben  Gedanken,  nicht  selten  ähnliche  Worte  wieder- 
holen. Und  diese  Belege  wären  leicht  zu  verdoppeln 
und  zu  verdreifachen.  Vorerst  sei  nur  in  Anknüpfung  an 
den  Satz  des  Tractatus  Garsiae  (p.  426):  'Cum  vero  cla- 
maret  ad  hostium,  hoc  a  ianitore  responsum  accepit' 
und  'Si  quis  ingredi  habet  ad  papam  Albino  introducente 
securus  adest'  durch  einige  Zitate  gezeigt,  daß  die  un- 
würdige Rolle,  die  das  Silbermarkenevangelium  d  i  e 
päpstlichen  Türhüter  spielen  läßt,  daß  der  mit 
Geld  gepflasterte  Weg  zu  Papst  und  Kardinälen  mit  Vor- 
liebe von  manchen  behandelt  ist,  ohne  daß  man  deshalb 
textliche  Abhängigkeit  des  einen  vom  anderen  annehmen 
dürfte. 


52  Die  päpstlidien  Türhüter 


Der  um  1100  lebende  Dichter  von  'Gens  Romanorum 
subdola'  bringt  die  Verse  i^) 

"Non  intras,  si  nil  dederis. 
Uli  firmatur  ianua 
qui  venit  manu  vacua," 
Clamat  avarus  ianitor. 
Et  porte   clause  venditor: 
"Qui  vult  intrare  cameram, 
non  agat  mecum  perperam, 
det  mihi  prius  munera, 
et  mox  patebit  camera. 
Si  das,  intrabis  protinus, 
si  non  das,  stabis  eminus." 
Aus  derselben  Zeit  stammen  die  'Versus  de  Romana 
avaricia':^) 

'Ecclesiastica  Roma  negotia  cum  moderetur, 
questio  partibus  omnis  ab  omnibus  hie  recitetur. 
Sola  pecunia  perficit  omnia,  nee  tibi  claudit 
ianitor    ostia,    dona    sequentia    si    prius    audit' 
Wir  hören  :^) 

'Mos  est  Romanis  in  causis  cottidianis: 
Si  sonat  ante  fores  bona  vita,  scientia,  mores 
non  exauditur.    Si  nummus,  mox  aperitur. 
Audito  nummo,  quasi  viso  principe  sunmio, 
dissiliunt  valvae,  nihil  auditur  nisi  'Salve'. 
Accurrunt  turbae,  tota  fit  plausus  in  urbe, 
papa  simul  plaudit,  quia  nemo  libencius  audit. 
Nummus  procedit,  loquitur,  pater  audit,  oboedit, 
omnia  concedit,  sine  testibus  omnia  credit, " 
quicquid  vult  praestat'  etc. 
In  dem  berühmten  Klage-  und  Anklageliede  'Propter 
Sion  non  tacebo'  heißt  es  in  Str.  19:^) 

'Qui  sunt  cautes?   Janitores, 
per  quos,  licet  saeviores 

')  MG.  Libelli  de  lite  III  706. 

2)  L.  c.  III  701. 

•^)  Vgl.  Jakob  Werner   im  Neuen   Archiv  XV  409,   vgl.  audi  XXIII  205  f.   und  Zeitsdir. 
für  deutsdies  Altertum  VI  302. 

^)  Carmina  Burana  p.  18. 


Die  päpstlichen  Türhüter  53 


tigribus  et  beluis, 
intrat  dives  auro  plenus ; 
pauper  autem  et  egenus 
pellitur  a  ianuis.' 
Ein  anderes   Gedicht  nennt  die  'Pape  ianitores,   Cer- 
bero  surdiores';  selbst  Orpheus  würde  sie  nicht  rühren, 
mit  silbernem  Hammer  müsse  man  an  die  Pforten  schla- 
gen.^)  Nicht  nur,  aber  doch  besonders  auf  Rom  sind  die 
Verse  bezogen: 2) 

'Cum  ante  divitem  pauper  ingreditur, 
eins  petitio  nuUa  recipitur, 
si  moram  fecerit,  foras  expellitur 
et  ei  ianua  post  tergum  clauditur. 
Si  pauper  veniat  ad  aulam  divitum, 
crudelis  Cerberus  negat  introitum. 
Si  talem  crederem  Plutonis  aditum, 
nimis  accederem  tutus  ad  obitum. 
Cum  videt  pauperem  venire  ianitor 
et  intus  residet  sacrorum  venditor, 
quasi  cur  veniat  praesagus  cognitor. 
"En",  inquit,  "optimus  venit  hie  instiLor'\ 
Hoc  nequam  Cerberus  dicit  ironice 
et  tracto  ianuam  obfirmat  obice; 
si  pauper  aditum  temptat  vel  modice, 
percusso   saucius  recedit  vertice.' 
Sprichwörtlich  geworden  ist: 
'Curia  Romana  non  petit  ovem  sine  lana, 
nam  dantes  exaudit,  non  dantibus  ostia  claudit/ 
Noch    das    'Onus    ecclesiae'    des    Chiemseer    Bischofs 
Berthold  Pürstinger  (f  1543)  führt  es  (cap.  19  §  13)  an. 
'Nullus   quasi   pauper   hodie   ad  papam   intrare   potest; 
clamat  et  non  auditur,  quia  non  habet  quid  solvat',  ruft 
zweihundert  Jahre  vorher  Alvarus  Pelagius,  De  planctu 
ecclesiae  lib.  H  art.  XV  aus.   Schließlich  noch  das  kurze 
Zwiegespräch  'Janitor':^)   'Intus  quis  "Tu  quis?"    "Ego 

•)  L.  c.  p,  52. 

'^)  The  Latin  pocms  commonly  attributed  to  Walter  Mapes,  cd.  Th.  Wright,  London 
1841,  p.  168  sq. 

^)  Vgl..  H.  Hagen,  Carmina  medii  aevi,  Bern  1877,  S.  213;  F.  Novati,  Carmina  medii 
aevi,  Florenz  1883,  S.  -46;  Joh.  Hus,  De  antichristo  cap.  43. 


54  Geldevangelium 


siim."  "Quid  queris?"  "Ut  intrem."  "Fers  aliquid?'' 
"Nori."   "Esto  foris!"   "Fero,"   "Quid?"  "Satis."  "Intra!"' 

Auf  die  Scliilderungen  in  dem  großen  'Carmen  de 
statu  curiae  Romanae'  des  Meisters  Heinricli  vom  Würz- 
burger Neumünsterstift  und  auf  Abschnitte  der  satiri- 
sclien  Dichtung  eines  Petrus  kommen  wir  später  zu 
sprechen.  Als  sie  in  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahr- 
hunderts verfaßt  wurden,  lag  das  Geldevangelium 
bereits  vor:  die  Benediktbeurer  Handschrift,  jetzt  als 
cod.  lat.  4660  ein  Juwel  der  Staatsbibliothek  zu  Mün- 
chen, ist  etwa  50  Jahre  älter  als  das  letztgenannte  Poem. 

Der  Benediktbeuern-Münchener  Text  hat  wohl  am 
meisten  die  Augen  der  Forscher  auf  sich  gezogen,  seit 
1803  Freiherr  Chr.  von  Aretin^)  1843  E.  Du  MeriP)  und 
vor  allem  seit  1847  J.  A.  Schmeller  in  seiner  wieder- 
holt nachgedruckten,  aber  nie  im  ganzen  überholten  Aus- 
gabe der  Carmina  Burana ^)  ihn  veröffentlicht  hatten. 
Doch  war  die  Parodie  aus  einem  Leipziger  Codex  schon 
1697  durch  H.  von  der  Hardt,^)  1788  aus  einem  nun- 
mehr verschollenen  Breslauer  Manuskript  abgedruckt.^) 
Die  Erstausgabe  liegt  aber  noch  viel  weiter  zurück: 
1544  erschienen  zu  Freiburg  i.  B.  zwei  von  dem  Ita- 
liener Caelius  Secundus  Curio  zusammengestellte  Bänd- 
chen Pasquillen  und  darin *^)  ein  'Evangelium  Pasquilli 
olim  Romani  iam  peregrini',  das  nichts  anderes  als  das 
Geldevangelium  ist.  Eine  Übersetzung  ins  Deutsche 
folgte  alsbald.  '^)  Einen  modernen  deutschen  Text  haben 
wir  in  Paul  von  Winterfelds  Deutschen  Dichtern  des 
lateinischen  Mittelalters.^)  Den  einzigen  nennenswerten 
Versuch  einer  kritischen  Ausgabe  der  lateinischen  Texte 
verdankt    man     E.    Dümmler.  ^)      Er    hat    drei    Hand- 

')  Beiträge  zur  Geschichte  und  Literatur  usw.  I  (München  1803)  5.  Stück  S.  78  f. 
^)  Po6sies  populaires  latines  ant6rieures  au  douzieme  siecle,  Paris  1843,  p.  407  sq. 
=')  no.  XXI. 

*)  Magnum  concilium  Constantiense  I.  498  sq. 

^)  Von  Sdilesien  vor  und  nadi  dem  Jahr  1740.   II  (Freiburg  1788)  S.  483  ff. 
*)  tom.  II  302  sqq. 

')  Wiederholt  bei  O.  Schade,  Satiren  und  Pasquille  aus  der  Reformationszeit.  II  (Han« 
novcr  1856)  p.  105—107,  der  lat.  Text  S.  310  ff. 
«)  S.  224  ff. 
8)  Neues  Archiv.  XXIII  (1898)  S.  208  ff. 


Geldevangelium  S3 


schrifteil  herangezogen,  W.  Guncllach^)  bei  seinem  Ab- 
druck den  Breslauer  Wortlaut  zugrunde  gelegt.  Von 
einer  genügenden  Verarbeitung,  ja  von  der  bloßen  Dar- 
bietung des  Materials  zu  erschöpfender  Behandlung  ist 
selbst  E.  Dümmler  noch  weit  entfernt.  Die  Überliefe- 
rung ist  sehr  reichhaltig:  ich  kenne  den  Text  von  zehn 
erhaltenen  Handschriften  in  Besancon,  Leipzig,  London, 
Lübeck^  München,  Paris,  Rom,  Schlägt  und  Wien,  weiß 
von  weiteren  drei  in  Ivrea  und  Venedig  und  suche  noch 
drei^  nämlich  die  Vorlage  des  Freiburger  Druckes,  ein 
Breslauer  und  ein  Frankfurter^)  Manuskript.  Daß  im 
Laufe  der  Zeit  noch  andere  Textzeugen  bekannt  werden, 
ist  höchstwahrscheinlich,  da  die  Parodie  manchmal 
ziemlich  versteckt  in  den  Handschriften  steht.  Ob  die 
sehr  zu  wünschende  Vermehrung  der  Zeugen  Klarheit 
über  den  zeitlichen  und  örtlichen  Ursprung  sowie  über 
den  Originaltext  bringen  wird,  halte  ich  für  sehr  zwei- 
felhaft. Bisher  hat  mir  jeder  neuauftauchende  neue  be- 
achtenswerte Lesarten  geliefert,  neue  Schwierigkeiten 
geschaffen.  Einen  durchweg  glaubwürdigen  Text  mit 
einem  Variantenapparat  wird  auch  der  größte  Text- 
kritiker nicht  aus  allen  machen  können  und  nicht  dür- 
fen, da  es  sich  um  verschiedene  Bearbeitungen  handelt, 
von  denen  zum  mindesten  mehrere  Reiz  und  Wert 
haben.  In  der  Sammlung  der  Carmina  Burana  steht  das 
kürzeste  Geldevangelium,  mit  dem  man  sich  im  Mittel- 
alter am  wenigsten  befaßt  zu  haben  scheint.  Ich  habe 
versucht,  die  beliebteste  Fassung  zu  rekonstruieren,  und 
stelle  daneben  die  unveröffentlichte  längste,  anscheinend 
deutsche  Redaktion  einer  Lübecker  Handschrift. 

Das  Geldevangelium  führt  uns  zuerst  den  Nachfolger 
Petri  im  Kreise  der  Kurialen  vor.  Der  Papst  beginnt 
mit  Sätzen  aus  den  Evangehen  Matth.  XXV  31,  XXVI  50; 
Luk.  XI  8;  Matth.  XXV  30:  'Wenn  des  Menschen  Sohn 
kommt  zum  Sitze  der  Majestät,  dann  soll  ihn  der  Tür- 
hüter fragen:   „Freund,  wozu  kommst  Du?"  und  wenn 

M  Heldenlieder  der  deutsdien  Kaiserzelt.  III  (Innsbrudc  1899)  S.  796  ff. 
'^)  Von  J.  C.  von  Fidiard  in  seinem  Frankfurtisdien  Ärdiiv  für  ältere  deutsdie  Literatur 
und  Gesdiidite.    III  (1815)  S.  215  ff.  zugrunde  gelegt. 


56  Gcldcvangelium 


er  beharrlich  anklopft,  aber  nichts  gibt,  dann  werft  ihn 
in  die  äußerste  Finsternis,  wo  Heulen  und  Zähneklappern 
sein  wird.'  Die  Kardinäle  entstellen  mit  ihrer  Frage: 
„Herr,  was  sollen  wir  tun,  daß  wir  Geld  erwerben?" 
das  Wort  des  Schriftgelehrten  bei  Lukas:  'Meister,  was 
soll  ich  tun,  auf  daß  ich  das  ewige  Leben  erringe.'  Des 
Papstes  Antwort  stammt  aus  demselben  10.  Lukas- 
kapitel, scheut  sich  nicht  zu  lehren:  „Liebe  Gold  und 
Silber  von  ganzem  Herzen  und  von  ganzer  Seele  und 
den  Reichen  wie  ich  dich  selbst",  statt  mit  Christus 
Gottes-  und  Nächstenliebe  zu  predigen. 

Da  heischt  ein  armer,  von  seinem  Bischof  bedrückter 
Geistlicher  Einlaß.  Doch  die  päpstlichen  Türhüter  schla- 
gen ihn,  wie  Christus  von  dem  Hohenpriester  geschlagen 
ward,  und  sie  verwünschen  ihn  mit  einem  Wort  aus 
Markus,  wo  aber  'quoniam  non  sapis  quae  Dei  sunt' 
steht,  während  der  Parodist  den  Nummus  für  Deus  ein- 
setzt. Der  arme  Bittsteller  fleht  mit  Worten  Hiobs  und 
wird  abgewiesen  mit  einer  Verwünschung  des  Geldes, 
die  Petrus  in  der  Apostelgeschichte  gebraucht  hat,  und 
mit  einer  Drohung  aus  der  Bergpredigt.  Der  Satz,  daß 
nun  der  Kleriker  fortgeht  und  alle  seine  Habe  verkauft, 
ist  aus  einem  Gleichnis  des  Matthäusevangeliums  geholt. 
Die  Kurialen  verschmähen  das  so  gewonnene  Geld  mit 
dem  verächtlichen  'Sed  haec  quid  sunt  inter  tantos,'  was 
Wort  für  Wort  bei  Johannes  in  der  Erzählung  von 
der  Speisung  der  5000  steht.  Da  zieht  der  Arme  ab 
und  weint  draußen  bitterlich  nach  Petri  Vorbild,  da  er 
Jesus  Christus  verleugnet  hatte. 

Nun  tritt  eine  neue  Person  auf,  ein  feister  simonisti- 
scher  Bischof,  der  gleich  dem  Barrabas  des  Evangeliums 
Mord  und  Totschlag  auf  seinem  Gewissen  hat  und  sehr 
reich  ist.  Begehrlich  begrüßen  ihn  die  Kardinäle:  „Ge- 
lobt sei,  der  da  kommt  im  Namen  von  Gold  und  Silber," 
statt  den  biblischen  Gruß:  'Benedictus  qui  venit  in  no- 
mine Domini'  zu  gebrauchen.  Nachdem  der  Bischof 
seine  Schatzkästen  geöffnet  hat  wie  die  hl.  drei  Könige 
vor  dem  Jesusknäblein,  werden  reichlich  Geschenke  an 


Geldcvangelium  57 


die  Kurialen  verteilt,  und  doch  sind  der  Camerarius  und 
der  Cancellarius  enttäuscht.  Auf  sie  wird  das  Wort  des 
Matthäusevangeliums  cap.  XX  angewendet:  'Arbitrati 
sunt  quod  plus  essent  accepturi.' 

Der  Papst  aber,  so  heißt  es  mit  Worten  des  zweiten 
Paulusbriefes  an  die  Philipper  weiter,  war  krank  bis  auf 
den  Tod.  Da  schickt  ihm  der  Bischof  Gold  und  Silber 
als  Medizin,  und  sofort  wird  der  Kranke  geheilt,  als  ob 
Christi  Hand  ihn  berührt  hätte.  Indem  der  Autor  fort- 
fährt 'et  dedit  gloriam  auro  et  argento'  offenbart  er 
durch  die  Verbindung  des  biblischen  'gloriam  dare' 
mit  Gold  und  Silber  wieder,  wes  Geistes  Kind  er  ist. 
Kraß  erscheint  uns,  daß  er  danach  mit  fast  denselben 
Worten,  die  bei  Matthäus,  über  den  Verrat  des  Judas 
im  Garten  Gethsemane  stehen,  der  Papst  den  Bischof 
küssen  und  willkommen  heißen  läßt.  Der  Ausruf  der 
Kardinäle  'Vere  iste  homo  iustus  est'  ist  dem  Haupt- 
mann an  des  Herren  Kreuz  aus  dem  Munde  genommen. 
Der  Papst  erwidert  mit  einem  Herrenworte  des  Jo- 
hannesevangeliums. —  Damit  hätte  geschlossen  wer- 
den können.  Von  dem  petitionierenden  Bischof  ist 
fernerhin  keine  Rede  mehr.  Doch  nun  ergreift  der 
Papst  von  seinem  Thron  aus,  der  mit  dem  Richtstuhl 
des  Pilatus  und  Habsucht,  das  ist  Schädelstätte,  ver- 
gUchen  wird,  von  neuem  das  Wort  zu  lauten  Selig- 
preisungen, die  denen  der  Bergpredigt  vollkommen  ent- 
gegengesetzt sind.  Die  Reichen  werden  in  verschiedenen 
Tonarten  gepriesen.  Folgerichtig  setzt  der  Papst  ein 
'Wehe  dem  Armen'  hinzu.  Er  wendet  auf  ihn  Matthäus 
XVHI  6  an.  Nochmals  werden  die  Kardinäle  gewarnt 
und  angewiesen,  nur  die  einzulassen,  die  mit  vollen 
Händen  geben  wollen.  Die  hohen  Herren  schmunzeln, 
Markus  folgend,  in  stolzer  Demut:  ,Meister,  das  haben 
wir  alles  von  Jugend  an  getan.'  Da  lobt  sie  der  Papst, 
wie  Christus  den  Hauptmann  von  Kapernaum  lobte, 
erfrecht  sich,  aus  der  Abendmahlserzählung  das  'Hoc 
facite  in  meam  commemorationem'  zu  nehmen,  und 
schließt  mit  Job.  XHI  15- 


5S  Geldevangelium 


Die  Überschriften  sind  denen  der  Evangelienperikopen 
für  das  Officium  des  katholischen  Gottesdienstes  nach- 
gebildet. Am  nächsten  stehen  den  liturgischen  Bezeich- 
nungen die  Titel  'Initium  s.  evangelii  secundum  marcas 
argenti'  im  Benediktbeurer  Codex,  'Inicium  s.  evangelii 
secundum  marcam  auri  et  argenti'  in  einer  oben  nicht 
mitgezählten,  unten  in  der  IL  Abteilung  zu  besprechen- 
den studentischen  Variation  des  Codex  von  Besan^on, 
und  'Lectio  evangelii  secundum  marcham  argenti'  im 
Ottobonianus.  Auch  'Sequentia  cur-<r>>entis  evangelii 
secundum  marcham  argenti'  in  einer  Handschrift  Hart- 
mann Schedels,  jetzt  in  München,  und  'Sequencia  veri 
evangelii  secundum  marcham  argenti'  in  Ivrea  halten 
die  Fiktion  eines  kirchlichen  Lesestückes  noch  aufrecht. 
Die  Aufschriften  'Frequentia  falsi  ewangelii  secundum 
marcham  argenti'  in  Schlägt,  'Frequentia  falsi  ewangelii 
secundum  archam  auri  et  argenti'  im  Freiburger  Druck, 
'Sequencia  falsi  evangelii  secundum  marchan;  argenti' 
in  der  Benediktbeurer  Spielermesse  deuten  die  Parodie 
bereits  kräftig  an.  Greifbar  ist  die  Ironie  in  Titeln  wie 
'Passio  domini  pape  sec.  marcam  auri  et  argenti',  'Ju- 
stitia  domini  pape  sec.  marcham  argenti'  usw.  Der 
Liturgie  gemäß  wird  als  Eingangsformel  entweder  'In 
illo  tempore'  oder  dies  entstellend  'In  illo  turbine'  ge- 
braucht. Außerdem  tauchen  in  einzelnen  Handschriften 
zu  Beginn  und  am  Schluß  die  Worte  'Dolus  vobiscum 
et  cum  gemitu  tuo',  'Gloria  tibi  auro',  'Laus  tibi  auro' 
oder  ähnlicher  Parodierungen  gottesdienstlicher  Wen- 
dungen auf.  Diese  zwar  schwachen,  aber  unbestreit- 
baren Anklänge  an  die  Liturgie  und  die  Tatsache,  daß 
eine  Parodie  mit  der  Überschrift  'Sequentia  falsi  evan- 
gelii sec.  marcam  argenti',  die  bereits  einen  wesentlich 
anderen  Inhalt  hat  als  das  gewöhnliche  Geldevangelium, 
nämlich  die  ausgelassene  Verherrlichung  des  Würfel- 
spiels, im  Rahmen  einer  komplizierten  Nachäffung  des 
Offiziums  steht;  diese  Tatsachen  legen  die  Vermutung 
nahe,  daß  anfangs  eine  ganze  Geldmesse  verfaßt,  in  der 
Überlieferung  aber  die  Evangelienperikope  allein  übrig- 


Marcus  —  marca  59 


geblieben  sei.  Angesichts  der  handschriftlichen  Be- 
zeugung sind  Zweifel  gegen  die  Richtigkeit  der  Ver- 
mutung am  Platze.  Vielleicht  aber  ist  die  'Missa  secun- 
dum  simoniacos',  die  H.  Finke^)  vor  Jahren  allzu  kurz 
erwähnt  hat,  das  gesuchte  Stück  gewesen,  von  dem  das 
Geldevangelium  nur  einen  Teil  bildete. 

Keiner  unserer  Texte  bringt  ausschließlich  oder  vor- 
zugsweise  Stellen   des   Markusevangeliums.    Gleichwohl 
ist  es  immer  derselbe  Evangelist,  dessen  Name  in  den 
Überschriften  verzerrt  erscheint.    Nun,  die  Spielerei  mit 
'Marcus'  und  'marca'  lag  ja  so  nahe  und  ist  in  der 
satirischen  Literatur  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  immer 
von   neuem   gesucht,   oftmals   in  gleiche   oder   ähnliche 
Wortumgebung  gebracht  worden.   Anonym  stehen  nicht 
selten  in  mittelalterlichen  Codices  die  Verse  :^) 
'Omnipotens  Marcus  Romanos  conterat  arcus, 
adveniente  Luca  fiunt  decreta  cadüca.' 
Ähnliche   Verse   und   dabei   auch   den   Satz   'Marcum 
vincit  marca'  hat  der  Baron  de  Reiffenberg  aus  einem 
Brüsseler  Manuskript  veröffentlicht.^)    Weiter,  die  Apo- 
kalypse des  Golias  sagt:^) 

'Est  Leo  pontifex  summus  qui  devorat, 
qui  libras  sitiens  libros  impignorat, 
marcam  respiciens  Marcum  dedecorat, 
in  summis  navigans  in  nummis  anchorat' 
Ein  ebenfalls  sehr  bekannt  gewordenes  Gedicht  gegen 
die  Verderbtheit  der  römischen  Kurie,  das  z.  B.  in  den 
Carmina  Burana  steht  und  mit  den  Worten  'Utar  contra 
vitia  carmine  rebelli'  beginnt,  hat  als  12.  Strophe:^) 
'Romam  avaritiae  vitet  manus  parca, 
parcit  danti  munera,   parco   non  est  parca, 
nummus  est  pro  numine  et  pro  Marco  marca, 
est  minus  celebris  ara  quam  sit  archa.' 

^)    Bilder  vom  ^onstanzcr  Konzil,  Heidelberg  1903,  S.  85. 

2)  Vgl.  z.  B.  Neues  Archiv  XVIII  517,   XXIII  205;    in   der   Handsdirift   Cambrai  536  s. 
XIII  fol.  141  V. 

')  Bulletins   de   l'academie   royale   des   sciences   et    belles   lettres   de   Bruxelles.     IX  1 
(1842)  p.  148  sq. 

*)  The  latin  poems   attrib.   to  Walter  Mapes  p,  7;  Notices  et  extraits.  XXIX  2  p.  281. 

^)  ed.  Seh  melier  p.  20. 


60  Marcus  —  marca 


Anderwärts  heißt  esr^) 

'Jamque  nummum  venerantur 
hunc  adorant,  hunc  precantur, 
illi  cultus  solvitur. 
Quorum  deus  est  in  archa, 
non  in  Marco,  sed  in  marca 
horum  deus  legitur', 
woran  gelegentlich  noch  einige  andere  Hexameter  ange- 
schlossen   sind.     Aus    dem    gegen    Ende    des    12.    Jahr- 
hunderts entstandenen  Speculum  stultorum  des  Nigellus 
Wireker,^)  eines  englischen  Mönches,  sind  die  Verse  an- 
zuführen: 
'Praesul  amat  marcam  plus  quam  distinguere  Marcum, 
plus  et  amat  lucrum  quam  facit  ipse  Lucam.' 

Ähnlich  sagt  ein  politisches  Gedicht,  gleichfalls  eng- 
lischen Ursprungs,  im   13.  Jahrhundert:^) 

'Sic  lucrum  Lucam  superat, 
Marco  marcam   praeponderat 
et  librae  librum  subicit.' 

Der  englische  Zisterzienser,  der  in  seinen  'Distinctiones 
monasticae  et  morales'  vom  Anfang  des  13.  Jahrhunderts 
bezeichnende  Vertrautheit  mit  der  Poesie  seiner  Zeit 
offenbart,  zitiert:^) 

'Marcus  non  marca  monachi  servetur  in  arca. 

Non  venit  a  luce   lucrum   postponere   Lucae.' 

Eine  englisch-lateinische  Satire  gegen  die  Habgierigen 
und  Geizigen:^) 

'Coram  cardinalibus,  coram  patriarcha 
libra  libros,  reos  res,  Marcum  vincit  marca. 
Tantumque  dat  gratiae  lex  non  parco  parca, 
quantum  quisque  sua  nummorum  servat  in  arca.' 

'}  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit  N.  F.  XVIII  (1871)  S.  203. 

^)  ed.  Th.  Wright  p.  106. 

^)  The  political  songs  ed.  Th.  Wright  p,  6  sq. 

^)  Pitra,  Spicilegium  Solesmense.  III  211. 

•')  L.  c.  p.  31.  Die  ähnliche  Strophe  'Vis  decanus  fieri,  praesul  patriarcha,  auri  multa  tibi 
Sit  et  argenti  marcha.  Tantum  habet  fidei  teste  manu  parca  quantum  quisque  sua  num» 
morum  servat  in  arca'  in  'Missus  sum  in  vineam'  (Walter  Mapes  ed.  Wright  p.  155)  und 
in  'Satis  vobis  notum  est'  (M.  Flacius  III.,  Varia  doctorum  usw.  de  corrupto  ecclesiae 
statu  poemata,  1754,  p.  103. 


Cardmales  —  carpinales  6 1 


Dazu   paßt,    daß   Alanus   des  Insulis   in   der   zweiten 
Hälfte  des    12.  Jahrhunderts,  die  Lektüre  des  Markus- 
evangehums  und  die  Liebe  zu  einer  irdischen  Martha 
kontrastierend,   klagt,  i)    'Clerici  nostri  temporis  potius 
sequuntur  scholas  antichristi  quam  Christi,  potius  de- 
diti  gulae   quam   glossae,   potius  colligunt  libras   quam 
legant  libros,   libentius  intuentur  Martham  quam  Mar- 
cum,  malunt  legere  in  salmone  quam  in  Salomone.* 

König   Ludwig   IX.   von   Frankreich  klagt  2)  in   einem 
Schreiben  an  die   Kardinäle:   'Marcum  desiderans  plus 
quam  Marcum,  dum  salmonem  legens  despicit  Salomo- 
ncm.'    Und  noch  hundert  Jahre  nach  Alanus  erklingen 
in  den  'Lamentationes'  des  Matheolus  von  Boulogne  die 
Verse :  ^) 
' —  —  —  —  —  —  intitulantur 

librc  quam  libri,  marche  quam  Marchus  amantur 
frustaque  salmonis  plus  quam  sermo  Salomonis 
sepeque  propter  equum  damnat  clerus  tuus  aequum.' 
Aus  der  Unzahl  der  Textvarianten  ist  interessant,  daß 
verschiedentlich  in  einigen  Codices  des  Geldevangeliums 
mit  dem  Titel  Cardinales  gespielt  wird.  Bald  heißen  sie 
'carpinales',  bald  'carpidinares'.  'Carpere' 
ist  die  Haupttätigkeit  der  Kardinäle;  gierige  Raffer  sind 
sie  nach  der  Meinung  des  Parodisten.  Die  Verdrehung 
findet  sich  seit  dem  13.  Jahrhundert  mehrfach.  Fra 
Salimbene  erzählt,  daß  zwischen  1244  und  1251  der  Mi- 
noritenprovinzial  Hugo  von  Bariola  in  Lyon  vor  Papst 
Innozenz  IV.  im  Konsistorium  die  anwesenden  Kardi- 
näle getadelt  habe;  unter  anderem  mit  den  Worten:^) 
'melius  denominavit  vos  abbas  Joachim  de  ordine  Floris 
carpinales  nominando,  quia  re  vera  optime  scitis  carpere 
et  emungere  et  exhaurire  marsupia  plurimorum';  bei 
Pseudo-Joachim  in  der  Expositio  onerum  Isaiae  findet 
sich  wirklich  der  Ausdruck  'generalis  ecclesiae  cardi- 
nales  vel  potius  ex  avaritiae  ambitu  carpinales'.    Lange 

')  Migne,  Patrol.  lat.  CCX  180. 

2)  Histoirc  litt^raire  de  la  France   XX V  253. 

•^)  Biblioth^que  de  l'Ecole  des  Hautes»Etudes.  fasc.  95  p.  178  v.  2592  sqq. 

')  MG.  SS.  XXXII  228. 


62  Varianten  des  Geldevangeliums 


nachher,  ün  Jahre  1408,  schimpfte  man  die  Kardinäle 
Gregors  XII.  'carpidanares,  carpedanarii,  carpidmales, 
carpitinales',  so  in  dem  Satansbrief  an  Johannes  Domi- 
nici,^)  so  in  dem  ein  himmlisches  Generalkonsistorium 
schildernden  Pamphlet,^)  so   in   den  Versen:^) 

'loannes  Ragusinus,  frater   Gabriel   Gabadeus 
quatuor  inequales  inutiles   carpitinales 
Henricus  ridens,  Tudertinus  male  videns, 
consors  Laudensis  Christi  quos  iudicat  ensis. 
Sunt  ypocrite,  fraticelli,  sodomite, 
nequam  latrones  periurii  buzerones.' 

Einige  Handschriften  des  Geldevangeliums  sprechen 
zu  Anfang  statt  einfach  vom  'papa'  oder  'papa  Romanus' 
vom  'papa  rapax'.  So  ließe  sich  wohl  noch  manches 
herausheben.  Namentlich  in  der  zweiten  Hälfte  der  Pa- 
rodie zeigt  die  Überlieferung  große  Textunterschiede, 
Folgen  und  Symptome  des  Anklangs,  die  sie  jahr- 
hundertelang stets  von  neuem  gefunden  hat. 

Zweimal  hat  man  für  das  Geldevangelium  einen  ganz 
anderen  Schauplatz  als  Rom,  andere  Erlebnisse  als  die 
der  Bittsteller,  Pfründensucher  bei  der  Kurie  gewählt. 
Die  'Sequentia  falsi  evangelii  secundum  marcum  argenti' 
des  Benediktb eurer  Officium  lusorum  führt  uns  in  den 
Kreis  würfelnder  Zecher,  nach  Paris  zu  leichtlebigen 
Studenten  in  Geldnöten  ein  anderes  Stück.  Für  mich 
ist  es  wahrscheinlich,  daß  beide  Texte  Variationen  der- 
selben uns  bekannten  Parodie  sind.  Ohne  allen  Zweifel 
ist  das  Geldevangelium  der  Pariser  Universität  gegen 
Ende  des  Mittelalters  von  dem  antirömischen  Geld- 
evangelium ausgegangen.  Man  hat  sie  in  einer  Hand- 
schrift vereinigt,  hat  ihnen  denselben  Titel  gegeben,  hat 
den  Wortlaut  des  neuen  Stückes  vielfach  aus  dem  des 
alten  übernommen.  Ruft  der  arme  Kleriker  in  Rom  aus 
'Miseremini,  miseremini  mei  saltem  vos,  hostiarii  domini 


^)  Vgl.  z.  B.  Änalecta  Franciscana  II  230  und  hier  unten  S.  93. 

^)  Vgl.  Martenc  et  Durand,  Veterum  Scriptorum  amplissima  collectio  tom.  VII  (1733) 
col.  836  und  hier  unten  S.  95. 

^)  Vgl.  G.  Leidinger  in  den  Quellen  und  Erörterungen  zur  bayer.  und  deutsdien 
Geschichte.  N.  F.  I  (1903)  S.  174  f.;  M.  Denis,  Codices  mss.  theol.  bibl.  Pal.  Vindob.  lat.  I  1407. 


Entstehungszeit  des  Geldevangeliums  63 

pape,  quia  manus  paupertatis  tetigit  me',  so  der  Studio- 
sus: 'Miseremini  ergo  mei  saltem  vos,  amici  mei,  quia 
bursa  vacüa  tetigit  nie'. 

Dieses  Pariser  Evangelium  des  Codex  von  Besancon 
ist  ein  wertvolles  Zeugnis  für  die  große  Wirkung  der 
einen  antisimonistischen  Parodie.  Nach  meinem  Ein- 
druck, meiner  festen  Überzeugung  hat  überhaupt  das 
Geldevangelium  Schule  gemacht  und  großen  Einfluß  auf 
die  Entwicklung  der  streitbaren  wie  der  unterhaltenden 
Parodie  ausgeübt. 

Wo  das  Evangelium  secundum  marcas  auri  et  argenti 
zum  ersten  Male  erschollen  und  gelesen,  aus  wessen 
Feder  es  geflossen  ist,  hat  niemand  mit  voller  Bestimmt- 
lieit  zu  sagen  vermocht.  Man  hat  wohl  vor  allem  an 
einen  romkundigen  Franzosen  zu  denken.  Bald  nach  der 
Entstehung  ist  der  Text  Gemeingut  des  Abendlandes 
geworden  und  geblieben.  Franzosen  und  Deutsche,  Eng- 
länder und  Italiener  haben  es  stets  gern  abgeschrieben. 

Der  Zeit  des  Ursprungs  können  wir  nahekommen. 
Die  älteste  zurzeit  bekannte  Handschrift,  die  Benedikt- 
beurer  in  München,  ist  um  1230  geschrieben  und  bringt, 
wie  schon  bemerkt,  den  kürzesten  Text.  Die  anderen, 
zumeist  viel  umfangreicheren  Zeugen  stammen  aus  dem 
14. — 16.  Jahrhundert.  Nach  Dümmlers  Meinung  steht  die 
,Benediktbeurer'  Fassung  dem  Original  am  nächsten^ 
O.  Hubatsch  und  W.  Gundlach  bevorzugen  indessen  die 
längere  , Breslauer'  Redaktion  und  halten  die  Benedikt- 
beurer  für  nachträglich  zusammengezogen.  Mag  auch 
hier  und  da  von  dem  westdeutschen  Sammler  der  Bene- 
diktbeurer  Anthologie  das  eine  und  andere  ursprüng- 
liche Wort  fortgelassen  oder  durch  ein  anderes  ersetzt 
sein,  die  Annahme,  daß  der  Benediktbeurer  Text  im 
ganzen  sekundär  sei,  ist  deswegen  nicht  zwingend.  Gund- 
lach stützt  seine  Behauptung  so  gut  wie  gar  nicht, 
Hubatsch  legt  besonders  Wert  auf  folgendes:  Ziemlich 
zu  Anfang  fehlten  im  Evangelium  der  Carmina  Burana 
einige  Wörter.  Da  sagt  Hubatsch,  „das  'et  pulsaverit  ad 
hostium'  lassen  sie  ganz  weg,  obwohl  es  notwendig  ist, 


'64  Entstehungszeit  des  Geldevangeliums 

da  sonst  das  folgende  'et  perseveraverit  pulsans'  nicht 
Yerständlich  ist".  Meines  Erachtens  konnte  das  erste 
Anklopfen  als  etwas  bei  der  ganzen  Situation  ziemlich 
Selbstverständliches  verschwiegen  werden.  Es  steht  ja 
auch  nicht  in  dem  Gleichnis  Luk.  XI,  woraus  der  Paro- 
dist  die  Worte  'et  si  perseveraverit  pulsans'  genommen, 
und  fehlt  in  allen  Hss.,  außer  der  einen  verschollenen 
und  offenbar  jungen  Breslauer,  die  mehr  als  einen  Zusatz 
bietet.  Daß  ferner  die  C.  B.  des  Papstes  Unterricht,  wie 
man  sich  zu  Gold  und  Silber  zu  verhalten  habe,  nicht 
bringen,  kann  ursprünglich  sein.  Auch  das  Plus  der  Bres- 
lauer Fassung,  das  ein  Gespräch  zwischen  dem  armen 
Geistlichen  und  dem  päpstlichen  Türhüter  vorführt,  be- 
weist nicht,  wie  Hubatsch  meinte,  daß  hier  das  Breslauer 
Evangelium  das  Ursprüngliche  erhalten,  welches  die  Be- 
nediktbeurer  Hss.  schon  fortgelassen  habe.  Denn  dieses 
Plus  hat  sonst  nur  noch  der  späte,  überall  stark  inter- 
polierte Lübecker  Text.  Und  das  'saltem',  das  in  allen 
Hss.,  auch  der  Breslauer,  bei  dem  Weheruf  'Miseremini 
mei'  steht,  konnte  in  den  C.  B.  von  Anfang  an  dem 
Ostiarius  in  den  Mund  gelegt  werden,  da  es  auch  an 
der  parodierten  Bibelstelle  zu  finden  ist.  Kurzum:  bis- 
her darf  man  daran  festhalten,  daß  der  Benediktbeurer 
Text,  von  kleinen  Trübungen  und  Verwischungen  ab- 
gesehen, im  ganzen  die  Urfassung  gut  wiederspiegelt. 
Wann  hat  man  zum  ersten  Male  das  Geldevangelium 
gewagt?  Gundlach  plädiert  für  das  12.  Jahrhundert  mit 
dem  Argument,  daß  die  bereits  sekundäre  Fassung,  die 
im  Harleianus  vorliege,  gegen  Papst  Alexailder  HI. 
(1159 — 1181)  gerichtet  sei.  Denn  sie  habe  am  Schluß 
die  Worte:  "Herr  ist  Gold  und  Silber,  d^m  sei  Preis 
und  Ehre  an  der  Kurie  zu  Rom  und  Anagni  in  Ewig- 
keit, Amen",  die  am  besten  auf  jenen  gern  in  Anagni 
residierenden  Papst  paßten.  Ich  beziehe  die  Datierung 
auf  Bonifaz  VIII.  (1294—1303),  der  aus  Anagni  gebürtig 
w^ar.  unter  dem  die  Kurie  oft  in  Anagni  gewesen  ist. 
Beachtenswert  ist  auch,  daß  die  Parodie  in  dem  Har- 
leianus, der  italienischen  Ursprungs  ist,  in  Schrift  von 


Das  habgierige  Rom  65 


etwa  1300  hinter  einer  Ghibellinischen  Chronik  steht. 
Einer  der  vielen  Gegner  Bonifaz  VIII.  mag  die  alte 
Schmähschrift  im  Kampfe  gegen  diesen  Papst  neu  belebt 
haben.  Lehne  ich  Gundlachs  Datierungsgründe  und 
seine  Bevorzugung  der  Breslauer  Überlieferung  ab,  so 
schließe  ich  mich  doch  aus  anderen  Überlegungen  seiner 
Ansicht  an,  daß  das  Evangelium  schon  im  12.  Jahr- 
hundert entstanden  sei.  Wenn  wir  beobachten,  daß  in 
der  Benediktbeurer  Handschrift,  die  um  1230  angelegt 
ist^  eine  Umgestaltung  des  Geldevangeliums  für  eine 
Spielermesse  steht,  müssen  wir  uns  vor  einem  späten 
zeillichen  Ansatz  des  Originals  hüten.  Da  nun  In- 
nocenz  IIL,  der  von  1198 — 1216  die  Geschicke  der  Kirche 
lenkte,  in  den  ersten  Jahren  seiner  Regierung  die  Zahl 
der  Janitores  et  ostiarii  verminderte  und  bestimmte, 
daß  Kleriker  wie  Laien  leichter  Audienz  beim  Papste 
erhielten,  dürfen  wir  annehmen,  daß  gegen  Ende  des 
12.  Jahrhunderts  das  Unwesen  der  Bestechung  unter 
jenen  Kurialbeamten  großmächtig  war,  und  können  ver- 
muten, daß  unsere  Parodie  schon  in  der  zweiten  Hälfte 
des  12.  Jahrhunderts  entstanden  ist.  Höher  hinauf  wage 
ich  einstweilen  nicht  zu  gehen. 

Daß  die  im  Garsiastraktat  und  im  Geldevangelium 
erhobenen  Vorwürfe  gegen  Rom  am  Ende  des  12.  Jahr- 
hunderts zeitgemäß  waren,  bezeugt  z.  B.  Walter  Map 
in  seinem  ironiegespickten  Buche  'De  nugis  curialium'.^) 
Der  Satiriker  erzählt  (p.  33):  'Als  Reginald  von  Bath 
gewaltsam  seine  Wahl  durchgesetzt  hatte,  jedoch  beim 
Erzbischof  von  Canterbury  die  Konsekration  nicht  er- 
reichen konnte  und  sich  bei  seinem  Vater  Jocelin  von 
Salisbury  beklagte,  da  antwortete  dieser:  „Du  dummer 
Kerl,  mach'  dich  doch  schleunigst  auf,  eile  ohne  Zö- 
gern noch  Bedenken  zum  Papst,  zahl'  ihm  aus  voller 
Börse  ein  gutes  Trinkgeld  und  er  wird  sich  neigen,  wo- 
hin du  willst."  Da  ging  er  und  bestach,  jener  aber  neigte 
sich.   Der  Papst  fiel,  der  Bischof  stieg  in  die  Höhe  und 

^)  Ausgabe  von  M.  Rh.  James  in  den  Änecdota  Oxoniensia.  Mediaeval  and  modern 
Series,    Part.  XIV  (Oxford  1914). 

Lehmann  /  Peirodie  im  Mittelalter  -  5 


66  Das  habgierige  Rom 


schrieb  sofort  Lügen  gegen  Gott  am  Anfang  aller  seiner 
Briefe.  Denn  wo  er  hätte  schreiben  müssen  „Von  der 
Börse  Gnaden",  sagte  er  „Von  Gottes  Gnaden",  und 
was  er  wollte,  tat  er.'  Bei  Map  wird  (p.  34)  von  der 
Herrin  Börse  mid  ihrer  Macht  unter  Alexander  IIL 
gesagt:  'que  cum  non  sit  amor,  vincit  tamen  omnia 
Bome'  (Vergil,  Ecl.  X69),  bei  ihm  (p.  82):  'nomen  Boma 
ex  avaricie  sueque  diffinicionis  formatur  principiis;  fit 
enim  ex  B  et  O  et  M  et  A  et  diffinicio  cum  ipsa  "Badix 
Omnium  Malorum  Avaricia"  (1  Tim.  VI  10).  Der 
deutsche  Chronist  Propst  Burkhard  von  Ursberg 
schreibt  gegen  1230  über  den  Zustand  nach  der  Wahl 
Philipps  von  Schwaben  und  Ottos  IV.  a.  1198  und  über 
den  Mammonismus  Boms  :^)  'Vix  enim  rem  ausit  aliquis 
episcopatus  sive  dignitas  ecclesiastica  vel  etiam  par- 
rochialis  ecclesia,  que  non  fieret  litigiosa  et  Bomam 
deduceretur  ipsa  causa,  sed  non  manu  vacua',  und 
dtum  in  gehobener,  die  Bibel  benutzender  Sprache: 
'Gaude  mater  nostra  Boma,  quoniam  aperiuritur  ka- 
taracte  (vgl.  Gen.  VII  11)  thesaurorum  in  terra,  ut 
ad  te  confluant  rivi  et  aggeres  nummorum  in  magna 
copia!  Letare  super  iniquitate  filiorum  hominum, 
quoniam  in  recompensationem  tantorum  malorum  da- 
für tibi  precium!  Joeundare  super  adiutrice  tua  Dis- 
cordia,  quia  erupit  de  puteo  infernalis  abyssi  (vgl.  Apoc. 
IX  1  f.),  ut  accumulentur  tibi  multa  pecuniarum  premia! 
Habes  quod  semper  sitisti,  decanta  canticum  (vgl.  Deut 
XXXI 19),  quia  per  malitiam  hominum,  non  per  tuam 
religionem  orbem  vicisti!  Ad  te  trahit  homines  non 
ipsorum  devotio  ant  pura  conscientia,  sed  scelerum  mul- 
tiplicium  perpetratio  et  litium  decisio  precio  comparata.' 
Dauernden  Erfolg  hatte  Innocenz  III.  mit  seinen  Be- 
formbestrebungen  nicht  und  konnte  ihn  in  den  leiden- 
schaftlichen Kämpfen,  den  blutigen  Wehen  des  13.  Jahr- 
hunderts nicht  haben.  Nach  wie  vor  war  es  für  hohe 
und  niedrige  Geistliche  eine  brennende  Frage,  wie  sie 
sich  Gehör  an  der  Kurie  verschaffen  könnten,  nach  wie 

i)  Burchardi  Ursperg.  chronicon,  ed.  HolderaEgger,  Hannover  und  Leipzig  1916,  p.  28. 


Das  habgierige  Rom  Ö7 


vor  tönte  ihnen  aus  der  Evangelienparodie  und  aus 
zahllosen  Vers-  und  Prosasatiren  als  Antwort:  'Geld, 
Geld  und  nochmals  Geld'  entgegen.  In  der  großen  Dich- 
tung des  Würzburger  Meisters  Heinrich  heißt  es  v. 
77  sqq.  1) 

"Fers  aliquid?"    Ganfredus  ait  —  "Fero''  subdidit  alter. 
"Sit  licet  exiguum,  non  tarnen  ere  vaco. 
Rumor  enim  loquitur,  quod  curia  sacra  requirat 
munus  et  absque  illo  litus  aretur  ibi," 
worauf  Ganfredus  v.  83  sqq.  antwortet: 

"Frater  amice,  tibi  res  hec  narrata  sinistre  est 

Falleris  et  non  sie  erudiendus  eras. 

Peccat  Romane  quisquis  sie  derogat  urbi''  usw. 

Und  V.  887  (Aprihs)  sqq.: 2) 

"Audivi  quod  sepe  viros  intrare  volentes 

a  foribus  removent  verbera  iuncta  minis, 

quodque  sacros  postes  predura  repagula  firment, 

sitque  per  angustum  transitus  ille  locum. 

Quis  mihi  consilium  vel  opem  prestabit  amicus, 

ut  sine  fuste  queat  porta  patere  mihi? 

Expediensne  putas,  si  caute  munera  mecum 

illis,  qui  servant  hostia  sacra,  feram? 

Munere  nonne  dato  vaccas  Jove  natus  abegit? 

vivit  adhuc  idem  Bachus  ubique  senex?" 

Und  wiederum  sucht  Ganfredus  die  Kurie  rein  zu 
waschen,  als  fleckenlos  hinzustellen.  Aber  wer  von  den 
Zeitgenossen  wird  darin  eine  wirksame  Verteidigung  ge- 
sehen haben?  Der  allgemeinen  Stimmung  entsprachen 
vielmehr  die  Verse,  ^)  in  denen  um  1280  ein  Petrus  nach 
bissigen  Schilderungen  der  schwelgerischen  Prälaten 
verschiedene  Beispiele  dafür  gab,  daß  arm  und  reich 
sehr  unterschiedlich  von  den  Kurialen  behandelt  jWur- 
den.   Im  Anhange  seien  einige  bezeichnende  Stellen  mit- 

^)  Vgl.  die  große  Abhandlung  und  Ausgabe  von  H.  v.  Grauert  in  den  Abhandl.  der  Kgl. 
Bayer.  Akad.  d.  Wiss.  Philos.pphilol.  u.  hist.  Kl.  XXVII  1  u.  2  (München  1912)  S.  68. 
2)  a.  a.  O.  S.  100  f. 

^)  Auszugsweise  herausgegeben  von  Gh.  V.  Langlois  in  der  Revue  historique.  L  (1892) 
S.  281  ff.,  vollständige  Absdirift  mir  freundlich  von  H.  Walther  zur  Verfügung  gestellt,  der 
in  seinem  Buch  Das  Streitgedidit  in  der  lat.  Literatur  des  Mittelalters,  München  1920, 
S.  119  f.  auf  das  wenig  beachtete  Werk  hingewiesen  hat. 

5* 


68  Das  habgierige  Rom 


geteilt.  Es  ist  wohl  möglich,  daß  sowohl  Heinrich  wie 
besonders  Petrus  1)  das  Geldevangelium  vorgeschwebt  hat, 
als  sie  das  Wort  ergriffen.  Bitterer,  erregter  hat  neben 
anderen  Guiot  von  Provins  in  seiner  'Bible'  über  Rom 
gesprochen,  geschrien:  ^) 

'Du  tötest  noch  welchen  Menschenstrom? 

Ihr  mordet  hin  uns  alle  Zeit. 

Im  Rückgang  ist  die  Christenheit, 

verderbt,  zerstampft  all'   gute  Saat, 

seitdem  die   Kardinäle  genaht, 

die  hergekommen  allesamt, 

von    schnöder    Habsucht   heiß    entflammt. 

Sie  kommen  von  Simonie  erfüllt, 

in  Sündenleben  eingehüllt, 

von  Glauben  und  Vernunft  entblößt, 

von    Gottesfurcht   ganz    losgelöst, 

bieten  Gott  und  seine  Mutter  feil, 

verraten  des  Vaters  und  unser  Heil. 

Zertreten,  verschlingen  alles  in  Graus. 

Zu  lang  —  ha!  —  bleiben  die  Zeichen  aus, 

die  unser  Herr  verkündet, 

wenn  die  Welt  sich  ihrem  Ende  naht, 

—  Wie  sie  Gold  und  Silber  zusammenraffen 

und  es  jenseits  über  die  Berge  schaffen. 

Verzweiflung  will  das  Volk  erdrücken. 
Fort  schleppt  die  Habe  der  Legat, 
der  voll  von  Lug  und  von  Verrat. 
Alles  verheeren  sie;    niemand  kann  seh'n. 
O,  Hof  von  Rom,  kannst  du  besteh'n 
so  ganz  in  Missetat  und  Sünden, 

das  schlimmer  nirgend  ist  zu  finden? 

Rom  verschlingt  uns,  saugt  uns  aus, 
Rom  mordet,  plündert  Land  und  Haus. 
Kloake  der  Bosheit,  das  ist  Rom, 
ausspeiend  aller  Laster  Strom, 
ein  Sumpf,  der  von  Ge wurmen  strotzt. 

*)  Bereits  Langlois  hat  die  Vcrwandtsdiaft  empfunden. 

^)  Übersetzung  entnommen  San  Marte,  ParcivaloStudien.   I  (Halle  1861)  S.  51  ff. 


Seligpreisungen  des  Reichen  60 

Gott  und  der  heil'gen  Schrift  ja  trotzt 
jed'  ihrer  Taten.  — 

Das  GeldevangeUum  ist  in  dem  Chorus  der  Kläger 
und  Spötter  nicht  verstummt  und  überhört,  weil  es  in 
schlichter  Raffiniertheit  sich  vornehmlich  auf  ein 
Thema  beschränkte  und  weil  es  parodistisch  war,  Paro- 
die der  stets  gehörten  Bibel,  des  wahren  Evangeliums. 

Der  kritische  Betrachter  der  Geschichte,  den  Politik 
und  Konfession  nicht  verblendet  haben,  kann  und  muß 
sagen  :i)  Die  Romsatiren  haben  oft  entsetzlich  verzeich- 
net, manchem  hat  die  Unlust,  berechtigte  Gebühren  und 
Steuern  zu  zahlen,  den  Griffel  geführt,  die  Aussaugungen 
und  Erpressungen,  die  niemand  ganz  bestreiten  wird, 
sind  übertrieben  dargestellt  und  fallen  überhaupt  nicht 
immer  den  Päpsten,  sondern  häufig  ihren  Kardinälen,  vor 
allem  aber  den  Unterbeamten  zur  Last.  Auch  ich  glaube 
nicht  alles,  was  in  den  antikurialen  Schmähbriefen, 
Kampfgedichten,  Spottversen  usw.  gesagt  ist  Aber  — 
ich  schreibe  hier  keine  allgemeine  und  keine  kirchliche 
Geschichte  des  Mittelalters  und  will  weder  für  noch 
gegen  das  Papsttum  wegen  einstiger  Auswüchse  Stel- 
lung nehmen.  Mich  zieht  hauptsächlich  des  Literari- 
schen wegen  die  Ausdrucksfülle  an,  die  die  Stimmung 
gegen  Rom  in  der  lateinischen  Parodie  des  Mittelalters 
gefunden    hat. 

Es  ließe  sich  ein  dickes  Buch  über  die  Romsatiren 
schreiben,  und  das  wird  einmal  geschehen,  wenn  die 
mittellateinische  Philologie  weiter  ist.  Selbst  bei  der 
dieses  Mal  von  uns  gewollten  Beschränkung  auf  das 
Parodistische  läßt  sich  nur  ein  Teil  der  auftauchenden 
Probleme  lösen,  nur  ein  Teil  des  reizvollen  Stoffes  vor- 
führen. 

Das  Geldevangelium  enthält  laute  Seligpreisun- 
gen des  Reichen,  dem  sich  alle  Pforten  in  Rom 
öffnen.  Die*  Dichter  haben  sich  dieses  Motiv  nicht  an 
ihren  Ohren  vorübergehen  lassen.  In  Liedersammlungen 

^)  Vgl.  die  maßvollen  Bemerkungen   bei   Ä.  Haudc,  Kirdiengesdiidite   Deutschlands.  V 

(1920)  S.  558  ff.,  630. 


yO  Seligprcisungen  des  Reidien 

des  13.  Jahrhunderts  (in  Oxford  Bodl.  Add.  A  44,  fol.  128  ^ 
und  Florenz  Laur.-Med.  XXIX  1,  fol.  424^'-425R),  die  sich 
mehrfach  mit  den  Carmina  Burana  decken,  stehen  die 
folgenden  beiden,  wohl  zusammengehörenden  Strophen;  ^) 

I.  'Qui  seminant  in  loculis 

per  dandi  frequens  mutuum 

redituum 

gaudebunt   de   manipulis. 
5  Nummus  numquam  examinat 

quos    ordinal; 

non  enim  servil  numini, 

sed  homini. 

Nummus    claudit   et   aperit 
10  et  quod  non  seminaverit 

metit  in  agro  Domini. 

II.  Beati    qui    esuriunt 

et  accessito   Symone 

pro   mammone 

quaestum,  praebendas  rapiunt. 
5  Qui  dal  est  potens  omnium 

per    medium. 

Et  quia  mundus  eligit 

qui  porrigit, 

cur  exclamare  dubitem 
10  super   plenum    et   divitem: 

"Beatus  qui  intelligit." 
Es  kommen  vornehmlich  folgende  Bibelstellen  in  Be- 
tracht: Für  Strophe  I  Psalm.  CXXVöf.:  'Qui  , seminant 
in  lacrimis  in  exultatione  metent.  Euntes  ibant  et  fle- 
bant,  mittentes  semina  sua.  Venientes  autem  venient 
cum  exultatione,  portantes  manipulos  suos;'  Apoc.  III 7 
'haec  dicit  sanctus  et  verus'.  "Qui  aperit  et  nemo  clau- 
dit,  claudit  et  nemo  aperit,"  Luk.   XIX  21  'metis  quod. 

non  seminasti'  oder  Gal.  VI  8  'quae seminaverit 

homo,  haec  et  metet'.  Für  Strophe  II  Matth.  V6,  'Beati 
qui  esuriunt  et  sitiunt  iustitiam';  Psalm.  XLlf.,  'Beatus 

^)  Aus  dem  Mediceus   herausgegeben   in    den  Analecta  hymnica    XXI  152.    Ober  den 
Bodleianus  Kingsford  in  The  English  historical  review.  V  (1890)  p.  311  sqq. 


Seligpreisungcn  des  Reichen  71 

qui  intelligit  super  egenum  et  pauperem,  in  die  mala 
liberabit  eum  Dominus.'  Die  Verdrehung,  die  bisher 
niemand  aufgedeckt  liat,  wird  noch  augenfälliger,  wenn 
man  zwei  Hymnen  betrachtet,  die  sich  in  echter  Fröm- 
migkeit an  die  Heilige  Schrift  anschließen  und  ebenfalls 
im  Mediceus  stehen:^) 

P  'Qui  seminant  in  lacrimis 
et  azimis 

sincerae  conscientiae, 
fermentum    culpae    veteris 
5    permutant  et  malitiae 
hi   gratiae 

se   praeparant,   qua   lateris 
luto  proiecti  soliti 
emeriti 
10    maniplos    portent    gloriae. 
n*  Beati  mundo   corde 

quos  peccati  tersa   sorde 
Vitium   non   inquinat, 
scelus  non  examinat 
5    nee  arguat  peccata, 
qui   Domini   mandata 
custodiunt   et   sitiunt. 
Beati  qui  esuriunt 
et   confidunt   in   Domino 
10    nee   cogitant  de   crastino, 
beati  qui  non  implicant 
securis  temporalibus, 
qui   talentum   multiplicant 
et  verbum   Dei  predicant 
15    omissis  secularibus.' 
Vielleicht   haben   diese   religiösen    Lieder  dem   Paro- 
disten    Anstoß    gegeben,    sein    Machwerk   vorzubringen. 
Es  werden  z.  T.  dieselben  Bibelworte  verwendet,  statt 
der  Verse    • 

'Vitium  non  inquinat 
scelus  non  examinat' 

*)  L.  c  p.  119. 


72  Pseudo'Dekretc 


wird  mit  ähnlichem  Klange  gesagt 

'nummus   numquam    examinat 

quos  ordinat', 
und,  was  nicht  übersehen  werden  darf,  die  Parodie  hat 
fast  dieselbe  dichterische  Form  wie  die  Hymnen.  Na- 
türlich kannte  der  Zerrdichter  überdies  die  Bibelstel- 
len selbst,  und  er  fügte  denen  der  religiösen  Gesänge 
einige  aus  seinem  Wissen  hinzu,  mit  treffendem  Witz 
am  Schluß,  wo  er  ausruft: 

'Cur  exclamare  dubitem 

super  plenum   et  divitem 

"Beatus  qui  intelligit!" 
Die  antisimonistische  Satire  fand  noch  andere  Wege 
der  Parodie.    Sie  ersann  Dekrete,  die  man  vergeblich 
in    den    Sammlungen    des    kanonischen   Rechts    suchen 
wird. 

'Sua  Simon  dat  decreta: 

Quod  si  bursa  sit  repleta, 

fiet   presul    vel    propheta 

Davus,    Birria    vel    Geta. 

Non  attendit  probitatem 

neque  mores  nee  etatem. 

Simon  facit  hunc  primatem, 

hunc  priorem,  hunc  abbatem. 

Ad  hoc  pauper  non  accedit, 

accepturum  nil  se  credit, 

nil  habebat,  nichil  dedit, 

nee  in  sancta  sede  sedit. 

Simon    facit    hos   maiores, 

hos    abbates,    hos    priores. 

Nummos  quaerit  et  non  mores,  . 

et  nummatis   dat   honores. 

Venter  nimis  incrassatus 

qualiscumque,    sed    nummatus 

apud    omnes    inflammatus, 

quem  plus  inquinat  reatus, 

si    offerre    sit    paratus, 

fiet  presul   et   prelatus. 


PscudooDckretc  73 


Ut  in  sede  collocatur 
miser,   a  quo   magis   datur, 
•     tunc   superbit,   tunc  inflatur, 
nil  de  Deo  meditatur;* 
beginnt   um    1100   ein   nordfranzösisches   Gedicht^)    das 
in    der    überliefernden    Handschrift    der   Vatikanischen 
Bibliothek  die  Überschrift 

'Incipiunt  decreta  Simonis' 
führt.   Die  letzten  zwei  Drittel  sind  offen  moralisierend 
und  polemisierend,  nicht  ironisch  und  parodistisch.    In 
dem  vielgelesenen  'Utar  contra  vitia  carmine  rebelli',^) 
wo  mit  den  heftigsten  Worten  gegen  die  Raffgier  der 
römischen  Kurie  zu  Felde  gezogen  wird,  heißt  es: 
'Romani    capitulum    habent    in    decretis, 
ut  petentes  audiant  manibus  repletis. 
Si  das,  tibi  dabitur,  petunt,  quando  petis. 
Qua  mensura   seminas,  hac  eadem  metis.' 
Das  Gedicht  mit  dem  Anfang  'Frigescentis  caritatis  in 
terris  igniculo'  berichtet:^) 

'Hoc  sancivit  mos  Romanus, 
hoc  decretum  legitur 
"Non  Sit  presul  vel  decanus 
is  a  quo  nil  dabitur.'" 
Nicht  weniger  als  vier  parodistische  Dekrete  führt  uns 
die  Satire  'Qui  potest  capere  quod  loquor  capiat'  vor:^; 
'Decretum  ergo  do  pauper  pauperibus, 
ut,  si  non  affici  volunt  verberibus, 
non  unquam  habeant  in  ianitoribus 
ullam  fiduciam  sine  muneribus. 
Decretum   etiam    secundum   facio: 
Cum    papa    sederit   in    consistorio 
de  quovis  divitum  tractans  negotio, 
tunc  nulla  pauperis  detur  petitio. 
De   cancellaria   donatur   tertium: 
Si*  pauper   habeat  intus  negotium 

^)  her.  von  H.  Bochmer  in  den  MG.  Libelli  de  lite    III  697  f. 

^)  Gedruckt  z.  B.  Carmina  Burana,  cd.  Schmeller  no.  XIX  -,   Analecta  hymnica  IV  252. 

3)  Vgl.  Haur^au,  Notices  et  extraits.    VI  140. 

^)  Walter  Mapes,  ed.  Th.  Wright  p.  169. 


74  Pseudo-Dckretc 


non  eat  vacuus  ad  hostiarium 
sed  si  vult  ingredi,  solvat  marsupium. 
Decretum  etiam  quartum  constitui 
mederi  Theutonum   volens  derisui: 
Cum  intrant  curiam  vel  mitras  ablui 
vel  Caput  faciant  immunis  exui.* 
Nach    verschiedenen    Ratschlägen    für    die   gen    Rom 
ziehenden    Geistlichen    kommt    noch    eine   von   uns    zu 
berücksichtigende  Strophe: 

'Si  plumbum  aliquis  Romanum  emerit 
non  dans  pro  vendito  plus  quam  valuerit 
in  suis  subprior  decretis  asserit 
esse  falsarium  qui  sie  evaserit/ 
Hinter  diesen  Pseudodekreten  steht  der  Zwiespalt  zwi- 
schen der  Theorie  und  der  Praxis.  In  der  Praxis:  Zu- 
sammenströmen der  Pfründensucher  vor  den  Schreib- 
stuben und  Palästen  der  Kurialen,  ein  Erschleichen  und 
Erkaufen  der  Audienzen  und  der  Gunst,  ein  Feilschen 
um  die  Geschenke  und  Gebühren  und  —  Hinfeinfallen 
auf  teuere,  gefälschte  Bullen.  Auf  der  anderen  Seite  die 
Theorie,  die  von  alters  her,  mit  besonderem  Nachdruck 
seit  dem  11.  Jahrhundert,  im  kanonischen  Recht  die 
Unentgeltlichkeit,  die  Unkäuflichkeit  der  geistlichen 
Güter,  Würden  und  Ämter  betonte,  freilich  auch  mit 
der  Erlaubnis  freiwilliger  Gaben  Hintertüren  öffnete. 
Von  Innozenz  III.  weiß  man  z.  B.,^)  daß  eine  seiner 
ersten  Regierungshandlungen  war,  den  Beamten  außer 
den  Skriptoren  und  Bullatoren  strengstens  die  Forde- 
rung von  Vergütungen  zu  untersagen,  daß  er  für  das 
Schreiben  und  Bullieren  feste  Taxen  vorschrieb,  daß  er 
gegen  die  Werkstätten,  in  denen  falsche  Bullen  verfertigt 
wurden,  einschritt,  die  Zahl  der  Hostiarii  zu  vermindern 
sich  bemühte,  daß  er  jedoch  die  Annahme  ungeforderter 
Geschenke  zuließ. 

Es  muß  sich  tatsächlich  der  eine  und  andere  kritische 
und  ys^itzige  Kopf  im  12.  (spätestens  im  13.)  Jahrhundert 
erlaubt  haben,  boshafte  Vorschriften  zu  erdichten,  denen 

^)  Vgl.  Ä.  Haudc,  Kirchengesdiidite  Deutschlands  IV  714. 


Kasusspielereien  'JS 


der  Deckmantel  päpstlicher  Dekrete  leicht  übergeworfen 
war,  Reflexe  solcher  Pseudodekrete  leuchten  auch  in 
Gedichten  auf,  die  uns  das  Vagantenleben  vorführen 
und  deshalb  in  einem  späteren  Abschnitte  zu  erörtern 
sind.  Da  erfahren  wir,  daß  der  Satiriker  oder  einer  der 
Spötter,  dem  die  Dekrete  zu  verdanken  sind,  ein  Sub- 
prior  Walter,  also  ein  Mann  mit  derselben  Würde  ge- 
wesen, die  in  dem  soeben  angeführten  Verse  'in  suis  sub- 
prior  decretis  asserit'  erscheint,  oder  Primas,  der  fran- 
zösische Primas  der  mittellateinischen  Poeten  Magister 
Hugo  von  Orleans  (um  1140).  Ist  wirklich,  wie  ich 
glaube,  Primas  an  den  Dekretdichtungen  beteiligt,  dann 
stehen  wir  bei  den  oben  wiedergegebenen  Strophen  vor 
den  Trümmern  eines  Parodiegebäudes,  das  wir  schon 
seines  genialen  Meisters  wegen  ganz  erhalten  sehen  oder 
aus  den  Umbauten  und  Ruinen  wiederherstellen  können 
möchten. 

Der  Ingrimm  über  die  Bevorzugung  des  Reichen  bei 
der  Audienzenerteilung,  Präbendenverleihung  und  Recht- 
sprechung in  Rom  hat  sich  seltsamer  Wortspielereien, 
Wortwitze  bedient,  die  z.  T.  ins  Gebiet  der  Parodie 
fallen.  Es  ist  hier  von  derartigen  Absonderlichkeiten 
nicht  deshalb  von  neuem  ^)  die  Rede,  weil  ich  oder  unsere 
Zeit  Geschmack  an  ihnen  hätte  und  haben  sollte,  son- 
dern weil  sie  in  der  Literatur  ein  zähes  Leben  bis  zu 
Abraham  a  Santa  Clara  geführt  haben  und  bezeichnend 
sind  für  den  in  Unmut  und  Übermut  oft  schülerhaften 
und  schulmeisterlichen  Sinn  des  Mittelalters.  Zur  Unter- 
haltung wie  zu  scharfem  Spott  und  Tadel  haben  Ter- 
mini der  Grammatik,  namentlich  die  Kasus- 
bezeichnungen  herhalten  müssen.  Das  möge  gleich 
ein  meines  Wissens  zum  ersten  Male  von  mir  veröffent- 
lichter Text  eines   Codex  des  14.   Jahrhunderts,  der  in 

Amiens  ^)  liegt,  illustrieren. 

t. 

')  Vgl.  oben  S.  59  ff.  Beispiele  mannigfadier  Art  audi  bei  Siegfried  Jaff^,  Die  Vaganten 
und  ihre  Lieder,  Berlin  (Wissensdiaftl.  Beilage  zum  Jahresbericht  des  LessingsGymnasiums) 
1908,  S.  17  f. ;  C.  Vieillard,  Gilles  de  Corbeil  p.  136  sq.,  433  sq. 

2)  Bibl.  publique,  Fonds  Lescalopier  10  (378),  Abschrift  durch  Dom  A.  Wilmart,  O.  S.  B., 
vermittelt. 


70  Kasusspielcrcien 


'Sex  statuit  casus  Donatus  in  arte  tenendos. 
4  expulsis  Roma  duobus  eget 
Accusativus  Romam  regit  atque  d a t i v u s , 
atque  per  hos  casus  pars  gravis  ingreditun 
Accusativi  domus   est  tua,   papa,  dativi 
causa  Sit  egra,  per  hos  sospes  dominus. 
Accusativo    patet   aula    patetque   d  a  t  i  v  o  , 
sed  non  lege  pari  Cesaris  urbe  sedent. 
Accusativum  vult  Roma  tenetque  dativum, 
sed  plerumque   cadit   spes  violata  secus. 
Accusative  tibi  fraus,  tibi  lausque  dative. 
Viribus  absque  pari  contracta,  dative,  facis. 
Accusativo   socio  testeque  dativo. 
Quodlibet  excisum  restituetur  opus. 
Ipse  vocativus  deberet  habere  secundum 
urbe  locum.    Nichil  est.    Namque  d  a  t  i  v  u  s  pbest. 
Ergo  d  a  t  i  V  u  s  habet  pulsö  decus  omne  sodali, 
per  se  stare  potest  et  sine  teste  loquü' 
Was   der   Versemacher   bezweckte,   ist  ohne  weiteres 
klar:    Romsatire.    In   der   ewigen  Stadt   herrschen   nur 
zwei  Casus,  der  Accusativus  und  der  Dativus,  der  An- 
kläger und  der  Geldgeber.    Prozesse  über  Prozesse  um 
Ämter,    Pfründen,    Rechte,    Straffälle   usw.   beschäftigen 
und  nähren  die  Kurie.    Der  Kläger  (Acc.)  betrügt,  der 
Reiche  sagt  falsch  aus,  besticht  (Dat.)  und  gewinnt  auf 
diese    W^eise.    —    Die    doppelsinnige    Verwendung    der 
Fachausdrücke  geht  mindestens  bis  ins  12.  Jahrhundert 
zurück.    Kurz  und  bündig  hat  der  Dichter  des  vor  oder 
um  1200  gedichteten  'Utar  contra  vitia',  das  die  Rügen 
mit   Spaß   vorzutragen   versteht,   4  Casusnamen  in   eine 
Strophe  zusammengefaßt  (Carmina  Rurana  p.  19): 
'Si  te  forte  traxerit  Romam  vocativus, 
et  si  te  deponere  vult  accusativus, 
qui  te  restituere  possit  ablativus, 
vide  quod  [ibi]  fideliter  praesens  sit  dativus.' 
Es  handelt  sich  um  einen  Pfründenstreit  an  der  Kurie. 
Vocativus   ist   der   Vorlader,    Accusativus   die   klagende 
Partei,  die  den  Gegner  der  Pfründe  berauben  (deponere) 


Kasusspielercien  77 


will,  Ablativus  der  bestechliche  Richter,  der  den  Par- 
teien das  Geld  abnimmt^)  und  den  Verdrängten  wieder 
einsetzen  (restituere)  kann.  Daß  Dativus  der  bestechende 
Angeklagte  wäre,  ist  W.  Meyer  nicht  zu  glauben.  Es 
muß  an  dieser  Stelle  eine  andere  Person  als  der  an- 
geredete Verklagte  gemeint  sein.  Möglicherweise  spielt 
der  Dichter  nebenbei  mit  dem  in  Rom  üblichen  Namen 
der  Gerichtsbeisitzer  und  Advokaten,^)  die  die  Be- 
stechung ermöglichten.  Im  allgemeinen  und  in  der 
Hauptsache  ist  unter  den  Dativen  nicht  eine  bestimmte 
Beamtenklasse,  sondern  es  sind  die  geldleihenden  und 
bestechenden  Personen  schlechthin  zu  verstehen.  Nimmt 
man  noch  hinzu,  daß,  wie  Frantzen  ausgeführt  hat,  die 
Bezeichnungen  bald  die  handelnden  Personen,  bald  die 
Handlungen  des  Vorladens,  Klagens,  Nehmens,  Be- 
stechens  zu  bedeuten  scheinen,  und  daß  auch  der  Geni- 
tivus  auftritt,  meist  =  coitor  und  coitus,  gelegentlich 
=  genitale,  so  wird  man  die  meisten  dazu  in  Frage 
kommenden  Verse  und  Sätze  verstehen.  Sagt  die  Go- 
liasapokalypse  v.  177  ff. : 

'Decano  praecipit,  quod,  si  presbiteri 
per  genitivos  seit  d a t i v o  s  f ieri, 
accusans  faciat  vocatum  conteri, 
a  b  1  a  t  i  s   fratribus   a  porta   inferi', 
so    heißt    das    nach    Frantzen    und    van    Poppet,  ^)   der 
Dekan  solle  sich  tüchtig  dafür  bezahlen  lassen,  daß  der 
Priester,    vorgeladen    und    angeklagt    wegen    seiner    ge- 
schlechtlichen   Sünden    (genitivus    hier   =   coitus),    frei 
ausgeht.    Das    von    W.    Meyer   wiederhergestellte    erste 
Gedicht  der   Carmina   Burana*)  schließt  mit  folgenden 
Strophen: 


*)  'ruffcr',  'kleger',  'abnemmer'  bei  L.  Dieffenbadi,  Glossarium  Latino»Germanicum 
mcdiae  et  infimae  aetatis,  Frankfurt  a.  M.  1857,  s.  v.  —  Nadidem  O.  Hubatsdi,  J.  Werner, 
W.  Meyer  einige  Casusparodien  besprochen  hatten,  leitete  kürzlidi  der  Utrediter  Ger» 
manist  J.  J.  A.  Ä.  Frantzen  in  der  Zeitschrift  Neophilologus,  vgl.  Bd.  V  69,  180  f.,  357  f., 
VI  88  f.,  134  ff.,  eine  neue  Diskussion  ein.  Ich  bringe  oben  mehrere  von  ihm  übersehene 
Belege.  , 

^)  Vgl.  über  diese  'Dativi'  Th.  Hirsdifeld  im  Ardiiv  für  Urkundenforschimg  IV  (1912) 
S.  460,  467  ff.,  473,  493  ff.,  515. 

^)  Neophilologus.  V  180. 

*)  Nachrichten  der  K.  Gesellscjiaft  d.  Wissenschaften  zu  Göttingen.  Fhilologischahist. 
Klasse.    1908,  S.  189  ff.    Dazu  van  Poppel  u.  Frantzen,  Neophilologus.   V  180  f. 


jS  Kasusspielereien 


V.  "Date,  vobis  dabitur"  talis  est  auctoritas, 
sancti  pie  loquitur  impiorum  pietas, 
sed  adverse  premitur  pauperum  adversitas, 
quo  vult  ducit  frena  cuius  bursa  plena. 
Sancta  dat  crumena   sancta  fit  amena. 
VI.  Hec  est  causa  curie  quam  daturus  perficit, 
defectu  pecunie  causa  Codri^)  deficit, 
tale  fedus  hodie  defedat  et  inficit, 
nostros  ablativos,  qui  absorbent  vivos; 
moti  per   dativos  movent  genitivos.* 
Zu  Strophe  V  will  ich  nur  im  Vorbeigehen  sagen,  daß 
sie  mit  einem  Mißbrauch  2)  des  Bibel  Wortes  (Luc.  VI  38) 
'Date  et  dabitur  vobis'  beginnt.    In  den  letzten  Versen 
sind  die  Ablativi  die  ungerechten  Richter,  die  sich  durch 
Gaben  bestechen  lassen  und  den  Sündenlohn  dann  für 
geschlechtliche  Akte,  zur  Befriedigung  ihrer  Lüste  ver- 
wenden. 

Matthaeus  von  Vendöme  hat,  nach  dem  Zeugnis  des 
Jeremias  de  Montagnone,  in  seiner  leider  nur  unvoll- 
ständig veröffentlichten  Poetik  gesagt:  ^)  'Aurum  Roma 
sitit,  dantes  amat.  Absque  dativo  accusativo  Roma 
faverenegat'  Matthaeus  hat  in  der  2.  Hälfte  des  12.  Jahr- 
hunderts geschrieben.  Seit  dem  12.  Jahrhundert  werden 
oftmals  diese  Sprüche  so  und  ähnlich  weitergegeben,*) 
in  denen  Dativus  das  Geschenk  selbst  ist.  In  der  Vorauer 
Handschrift  12  saec.  XII  liest  man:^) 

'Roma  manus  rodit,   si  podere  non  valet,  odit. 
Dantes  exaudit,  nil  dantibus  hostia  claudit, 

^)  Seltsam,  daü  Meyer  zweifeln  konnte,  ob  mit  Codrus  der  arme  Poet  bei  Juvenal 
Sat.  III  203  gemeint  wäreJ  In  der  satirischen  Literatur  des  12./ 13.  Jahrhunderts  kommt  Codrus- 
gewaltig  oft  vor,  hat  selbst  zu  spradilidien  Neubildungen  wie  'codrior',  'codrizare' 
Anlaß  gegeben. 

^)  Meyer  hat  das  wohl  erkannt,  jedoch  zu  sparsam  interpungiert.  Auch  hinter  'auc»' 
toritas'  oder  gar  hinter  ,sancti'  (wenn  damit  'sancti  evangelii'  gemeint  ist)  müssen 
Gänsefüßchen  stehen.  „Gebet  so  wird  Euch  gegeben",  lehrt  das  'Evangelium',  so  sagt 
scheinfromm  die  Frömmigkeit  des  Gottlosen. 

^)  In  der  These  Li  Bourgain,  Matthaei  Vindocinensis  ars  versificatoria,  Paris  1879,  fehlt 
nach  gütiger  Feststellung  von  Dr.  F.  Schillmann  (Berlin)  die  Stelle  ganz. 

*)  Vgl.  Zingerle  in  den  Si^ungsber.  der  Kaiserl.  Akad.  d.  Wiss.  Philos.=hist.  Kl.  LIV 
(Wien  1867)  S.  315;  W.  Wattenbach  im  Anzeiger  f.  Kunde  d.  deutschen  Vorzeit.  N.  F. 
XX  (1873)  S.  102;  H.  Grauert,  Magister  Heinrich  der  Poet,  München  1912,  S.  106  u.  243. 
'Proficis  in  niciiilo,  dum  veneris  absque  dativo'  am  Sdiluß  eines  GeldevangcliumtexteSv 
Frankfurtisches  Archiv  für  ältere  deutsche  Literatur  und  Geschichte.   III  (1815)  S.  217. 

^)  Neues  Archiv  II  401. 


Kasusspiclereien  Tv 


Accusativus  si  venerit  ante  tribunal, 
aut  accuseris  aut  accusaberis  ipse, 
proficit  in  neutro,   si  venerit  absque  dativo/ 
Der  Minoritenprovinzial  Hugo  de  Bariola  schleudert 
laut   Salimbene    das   Wort   den   Kardinälen   mit    einem 
'bene   quidam   trutannus   de   vobis  dixit'   ins    Gesicht.  ^) 
Verwandt,    aber    dativus    gleich    Schenker,    Bestecher 
setzend,     sind    in    einem    Streitgedicht   zwischen    Liebe 
und  Geld  in  den  Tegernseer  Codex  saec.  XII   München 
lat.  19488  die  Verse  des  Nummus :  ^) 

'Accusativus  si  non  erit  ipse  dativus 
et  si  me  non  fert,  Romae  fore  nil  sibi  confert' 
Keine    Kasusspielerei    mehr    liegt    in   dem    Distichon 
einer  Basler  Spruchsammlung  vor:^) 

'Palma  sacerdotum  nil  dans,  retinet  sibi  totum, 
est  adiectiva   numquam  vel  raro  dativa.' 
Doch    sind    wir   mit   den    Kasus   längst   nicht   fertig. 
Ganz  allgemein  von  den  Prälaten  wird  in  dem  Gedichte 
'Gaptivata  largitas  longe  relegatur'  gesagt:^) 
'Fuerunt  antiquitus  presules  dativi 
omnes  pene  penitus  nunc  sunt  ablativi.' 
Dagegen  wird  in  einer  anderen  Invektive  wieder  dem 
Papste  zugesetzt. 

'Papa  pavor  pauperum  est  diffinitus, 
in  eo  grammatice  perturbatur  ritus. 
Nam  qui  fore  debuit  gratie  dativus 
f actus  est  ecclesie  rerum  ablativus.' 
Diese  Verse  stammen^)  aus  einem  'Pater  fili  spiritus 
sancte  septiformis'  anhebenden  'Carmen   episcopi  Bru- 
nonis'.    Ich  habe  noch  nicht  ermitteln  können,  welcher 
Bruno  damit  gemeint  ist;  mit  Bischof  B.  von  Würzburg 
(1034—1045)  hat  es  vielleicht,  freilich  kaum  mit  Recht, 
der   Prüfeninger  Anonymus  de   viris  ill.    c.   84  in   Ver- 

^)  MG.  SS.  XXXII  227. 

2)  Vgl.    W.    Waitenbach   in    den    Sitz.»Ber.    d.    Bayer.    Äkad.    d.    Wiss.    III    (München 

187?)    S.  705. 

^)  Vgl.  Jakob  Werner,  Latein.  Spridiwörter   und  Sinnsprüdie  des  Mittelalters,   Heidel* 
berg  1912,  S.  68. 

*)  Mapes  ed.  Th.  Wright  p.  151 ;  J.  Werner,  Beiträge  S.  133. 

^)  Vgl.  Zingerle  in  den  Wiener  Sitz.oBer,  LIV  313. 


so  Kasusspielereien 


bindung  gebracht.  Der  M.  Flacius  Illyrius  (1556)  zu 
verdankende  Erstdruck  'ex  antiquo  codice'  weist  Ab- 
weichungen, zumeist  fehlerhafte,  von  der  Sterzinger  Mis- 
cellanhandschrift  aus,  aus  der  das  Gedicht  im  19.  Jahr- 
hundert bekanntgemacht  ist.  Z.  B.  ist  durch  die  For- 
mulierung 'Papa  pater  pauperum'  die  in  'Papa  pavor 
pauperum'  Schrecken  der  Armen  zutage  getretene  be- 
wußte Parodierung  des  Ehrennamens  Vater  der  Armen 
wieder  verlorengegangen.  Beispielsw^eise  war  dieser 
Titel  dem  Markgrafen  Erich  von  Friaul  (f  799)  in  der  er- 
greifenden Totenklage  des  Paulinus  von  Aquileja,  in  der 
Pfingstsequenz  'Veni,  sancte  Spiritus  et  emitte  coelitus' 
von  Papst  Innozenz  III.  dem  Heiligen  Geiste  selbst,  wei- 
ter vermutlich  auch  manchem  Papste  gegeben. 

Über  die  Anwendung  der  Kasusterminologie  in  der 
Erotik  und  Kneipliteratur  wird  unten  zu  sprechen  sein. 
Es  sei  vorweg  bemerkt,  daß  mancher  ohne  satirische 
Absicht  die  Ausdrücke  der  Grammatik  in  der  wunder- 
lichsten Weise  gebraucht,  daß  man  mit  den  Ketten  der 
Schule  gespielt  hat  aus  Freude  am  Rasseln  und  Reimen, 
Anknüpfen  und  Anspielen.  Schon  in  den  Carmina  Bu- 
rana erscheint  in  einem  Gedicht  ein  Casus  ablativus 
und  ein  dativus,  die  nichts  mit  parodistischem  Spott 
oder  Scherz  zu  tun  haben  :^) 

'Plange  regem  Anglia  nuda  patrocinio, 
fulcimento  Gallia,  virtus  domicilio, 
probitas  praeconio,  praeside  militia, 
opum  abundantia   hoc  casu  ablativo, 
duces  amicitia,  pauperes  dativo.' 
Ein  spätmittelalterliches  Sommerlied  2)  nennt  den  alten 
Adam  'genitivus  morbi  nocualis'  Urheber  der  Erbsünde, 
erwähnt  'dativi  necis  corporum'  Bringer  leiblichen  To- 
des, 'accusativi'  falsche  Ankläger,  'Vocativi'  Maria  und 
Karl  den  Großen  Fürsprecher,  'Stygis  ablativi'  Befreier 
vom  Tod.   In  den  folgenden  Strophen  treffen  wir  Kunst- 
stückchen   mit    den    Namen    der    Verbalmodi.     v.    23 


*)  ed.  Sdimeller  p.  48. 

2)  Vgl.  Frantzen  im  Neophilologus.   VI  (1921)  S.  134  ff. 


Macht  des  Geldes  81 


sind  'vocativi'  nicht  Fürsprecher  oder  Rufer,  Vorlader, 
sondern  Berufene,  also  'vocati'.  'Nominativus'  in  der  Be- 
deutung gleich  'nominatus':  namhaft,  berühmt  hat  schon 
Ducange  belegt.  Und  in  der  politischen  Prophetie,  die 
um  1370  John  of  Bridlington  verfaßte,  kommen  alle 
sechs  Kasusbezeichnungen  hintereinander  so  vor,^)  daß 
man  annehmen  muß:  der  englische  Dichter  hat,  wo  es 
ihm  paßte,  'nominativus',  'vocativus'  und  'accusativus* 
für  'nominatus',  'vocatus',  'accusatus'  verwendet.  Daß 
'dativus'  =  'datus,  qui  datur  vel  assignatur'  ein  alter 
Ausdruck  des  Juristenlateins  ist  für  den  eigens  durch 
Testament  eingesetzten  Vormund,  im  Mittelalter  für  den 
Rechtsbeistand  und  den  Gerichtsbeisitzer  in  Rom,  sei 
zum  Schluß  dieser  Erörterungen  verzeichnet,  denn  der 
Dichter  des  'Utar  contra  vitia'  gehört  vielleicht  zu  den- 
jenigen, die  absichtlich  verschiedene  Möglichkeiten  des 
Verstehens  offen  ließen.  Damit  könnten  wir  auf  Rom 
und  den  Mammon  zurückkommen,  und  wir  müssen  es, 
merken  aber  gleich  an,  daß  der  Nummus,  der  so  oft  im 
Mittelalter  besungen  wird,  überall  herrscht,  bei  Päpsten, 
Kardinälen,  Kaisern  und  Königen,  Erzbischöfen  bis  zum 
Bauern  und  Bauernknecht  durch  alle  Stände  hindurch. 
Der  Parodist  behandelt  den  Nummus  in  der  Form 
eines  grammatikalischen  Katechismus  (vgl.  Textanhang), 
er  besingt^)  die  'Crux  denarii'  wie  Christi  Kreuz  und 
Christus  selbst  in  Hymnen  gefeiert  wurden.  Der  Mora- 
list, der  ausruft 

'Quicunque  vult  salvus  esse, 

ut  contempnat,  est  necesse, 

crimen  avaricie '  ^) 
und  so  den  Anfang  des  Symbolum  Athanasianum  nach- 
ahmt: 'Quicunque  vult  salvus  esse,  ante  omnia  opus  est, 
ut  teneat  catholicam  fidem',  legt  dem  Avarus  parodie- 
gefüllte Worte  in  den  Mund,  um  ihn  dann  zu  wider- 
legen und  zu  bekämpfen. 

^)  Political  poems  and  songs  relating  to  English  history,  ed.  Th.  Wright.  I  (1859)  p.  141  sq. 

*)  Vgl.  z.  B.  Walter  J^Iapes  ed.  Wright  p.  223  sqq. 

3)  Von  W.  Wattenbadi  veröffentlichtes  Gedidit  aus  einer  Münchner  Handschrift  15.  Jahr« 
hunderts  Berliner  Ursprungs,  Anzeiger  f.  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.  N.F.  XVIII 
(1871)  S.  130f. 

Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  6 


82  Madit  des  Geldes 


'Nos    oportet    gloriari 
in   cruce  nummi  domini. 
Dum  tu  tantis  rebus  eges 
que  sunt  tibi  laus  homini' 
verzerrt  die  Paulusstelle,   Gal.  VI  14:    'Mihi  autem  absit 
gloriari  nisi  in   cruce  Domini  nostri  Jesu  Christi.'    Die 
Antwort  des  Moralisten: 

'Dona  gratis,  ut  sis  gratus, 

felix  eris  et  beatus 

et  te   Dens  diliget. 

Nam   hylarem   donatorem 

largientem   more   morem 

Deus   sibi   eliget' 
gebraucht  das  Wort  vom  fröhlichen  Geber  (2.  Kor.  X  7), 
das  sonst  auch  zuweilen  parodiert  wird,^)  richtig.  Wenn 
der  Geldgierige  fortfährt: 

'Sperne   factum   huiusmodi 

dixit    Cato:    rem    custodi, 

dilige  denarium. 

Nam   qui   sua   sie   consumit, 

aliena   quando   sumit, 

vertitur  in  odium', 
so  macht  er  sich  die  Catonischen  Disticha  mundgerecht. 
Bei  Cato  in  der  alten  Fassung  v.  13:  rem  tuam  custodi; 

III  21: 

Utere  quaesitis,  sed  ne  videaris  abuti: 

qui  sua  consumunt,  cum  dest,  aliena  secuntur; 

IV  4  Dilige  olens  nardum,  sed  parce;  defuge  odorem 

quein  nemo  sanctus  nee  honestus  captat  habere.' 
Die  Nachahmung  von  IV  wird  durch  die  Beobachtung 
gesichert,  daß,  während  'Dilige  olens  nardurn'  eine  Kon- 
jektur von  Baehrens  ist,  sowohl  die  Handschriften  der 
alten  Fassung  wie  der  Cato  rhythmicus,  wie  der  Cato 
interpolatus  'Dilige  denarium'  haben  und  Zarnckes  Cato 
novus  'Dilige  nummum'.  Auch  'vertitur  in  odiiim' 
dürfte  entlehnt  oder  angelehnt  sein,  denn  ähnliche  Wen- 

')  Vgl.  The  political  songs  of  England,  ed.  Wright  (1839)  p.  32 :  'Diligit  cpiscopus  hilarem 
datorem.' 


Macht  des  Geldes  83 


düngen  sind  in  der  mittellateinischen  Poesie  häufig  im 
Anschluß  an  das  'vertere'  und  'convertere  in  gaudium' 
der  BibeL   ?^Iit  der  prahlerischen  Strophe 

'O  quam  felix,  quam  amena 

opulenta  fit  crumena, 

et  nummorum   copia! 

Ubi  nummus  ibi  census, 

ubi  amor  ibi  sensus, 

ibi  pax  et  gloria!' 

stimmt  der  Panegj^riker  des  Geldes  Töne  an,  die  wir 
vor  allem  aus  Marienliedern  gewöhnt  sind.  '0  quam 
felix'  ist  ein  überhaupt  beliebter  Anfang  von  Hymnen 
und  Hymnenstrophen.  Dem  Dichter  mögen  die  weit- 
verbreiteten Mariensequenzen  'Dies  ista  celebretur'  und 
'Ave  spes  mundi  Maria'  vorgeschwebt  haben.  In  der 
einen ^)  beginnt  die  7.  Strophe: 

'0  quam  felix  et  praeclara 
mundo  grata,   Deo   cara;' 
in  der  anderen  ^)  die  13. : 

'O    quam    sancta,    quam    serena, 
quam   benigna,    quam   amena 
esse  virgo  creditur.' 

In  diesen  Zusammenhang  gerückt,  werden  auch  die 
Verse  24  f. 

'quo  vult  duci  frena,  cuius  bursa  plena, 
sancta  dat  crumena,  sancta  fit  amena' 
des  ersten  Gedichtes  der  Carmina  Burana  lichtvoller.  3) 
Es  preist  da  einer  das  Geld  selig,  ähnlich  wie  Maria  ge- 
priesen ward  und  wird,  ähnlich  dem  Avarus,  der  die 
'crumena',  den  Geldsack,  feierte.  Auf  Einwürfe  des 
Moralisten  antwortet  der   Geizhals   dann  z.    B.   noch: 

'Opes  donant  quodvis  donum, 
nummus  solus  summum  bonum 

')  Analecta  hymnica.   LIV  278. 

■^)  L,  c.  188. 

^)  In  der  oben  S,  77  zitierten  Abhandlung  bemerkte  W.  Meyer  zu  v.  25  „vielleidit 
'sancta  et  amena',  dodi^  ist  der  Hiat  bedenklidi."  Idh  rnödite  die  Lesung  'sancta  fit  cru» 
mena,  sancta  fit  amena'  vorsdilagen. 

6* 


84  Das  göttliche  Geld 


et   perfecta    Caritas. 

Nam  quantitas  quantitatum 

et  potestas  potestatum 

sola   nummi   quantitas', 
er  macht  also  in  greifbarer  Parodie  und  Blasphemie  des 
Christenglaubens  den  Nummus  zum  höchsten  Gut,  zur 
vollendeten  Liebe,  zur  größten  Menge,  zur  mächtigsten 
Macht. 
Das  Geld  ist  Gott. 

'Vere,   Roma,   nimis   est;   eris  sitibunda 
vorax,    irreplebilis,    inferis    secunda. 
Non  et  est?  Praeposterat  lucri  spe  iocunda, 
probos  censet  reprobos  et  inmundat  munda. 
Dudum  terras  domuit,  domina  terrarum, 
colla  premens  plebium,  tribuum,  linguarum 
Nunc  bis  colla  subiicit  spe  pecuniarum, 
aeris   fit   idolatra   dux   christicolarum. 
Romae  si  tu  reus  es,  vis  absolvi?   prom'e 
aes,  ut  sumas  veniam,  in  os  eins  vome. 
Prece  sancti  Nummuli  perorante  pro  me, 
si  blasphemus  fuero,  mox  placebo  Romae. 
Si  te  Roma  reputat  parricidam,  moechum, 
Symonis  apostatae  cor  habeto   caecum. 
Fer  argenti  lilia,   rosas  auri  tecum: 
hi  di  sacrant  reprobos,  scelus  reddunt  aequum. 
Res  est  et  non  fabula,  rata  res,  non  vana: 
Forum   et   venabulum    curia    Romana, 
reis  vendit  veniam,  approbans  profana, 
ut  in  forum  venditur  lutum  sine  lana.* 

Mit  diesen  am  Ende  des  12.  Jahrhunderts  gedich- 
teten Versen  1)  wiederholen  wir  noch  einmal  die  paro- 
distischen  Schilderungen  von  Roms  Entartung,  die  na- 
mentlich in  der  mittellateinischen  Poesie  des  11. — 13. 
Jahrhunderts  begegnen.  Das  Geld  regiert  die  Welt,  re- 
giert Rom. 

Andere  sagen  deutlich,  der  Teufel  und  seine  Scharen 

*)  her.  von  Du  M^ril,  Po^sies  populaires,  Paris  1847,  p.  89  sq. 


4 


Antichristgenealogie;  Teufelsbriefe  S5 


beherrschen  die  Menschheit.  Ja,  der  Papst  ist  der  Sohn 
des  Teufels.  Der  im  1.  Kapitel  des  Matthaeusevange- 
liums  vorgeführte  Stammbaum  Christi  wird  schließlich 
parodiert  zu  einer  Genealogie  des  Antichrists: 

'Liber  generationis  antichristi  fiUi  diaboli,  diabolus 
genuit  papam,  papa  vero  genuit  bullam,  bulla  vero 
genuit  ceram,  deinde  cera  genuit  plumbum,  plumbum. 
vero  indulgentiam  usw.  Invidia  vero  genuit  tumultum 
rusticorum  in  quo  revelatus  est  filius  iniquitatis  qui 
vocatur  antichristus.'  Dieses  Stück  kann  nachmittelalter- 
lich sein  —  der  Herausgeber^)  hat  seine  Quelle  ver- 
schwiegen, -  und  unter  dem  'tumultus  rusticorum'  kann 
auf  den  deutschen  Bauernkrieg  des  16.  Jahrhunderts, 
kann  aber  ebensogut  auf  frühere  Revolten  in  England, 
Frankreich  usw.  angespielt  sein.  Gleichviel,  Papst  und 
die  ganze  Kirche,  namentlich  die  Orden,  werden  schon 
während  des  Mittelalters  von  den  Satirikern  und  Pole- 
mikern mit  der  Hölle  in  Verbindung  gesetzt. 

„Mit  dem  Beginn  des  großen  Schismas  treten  die  An- 
griffe auf  die  allgemeinen  und  auf  die  kirchlichen  Zu- 
stände immer  heftiger  auf.  Eine  der  heftigsten  Invek- 
tiven  ist  der  sog.  Teufelsbrief,  der  sich  durch  mehr 
als  zwei  Jahrhunderte  einer  beispiellosen  Beliebtheit 
erfreut  hat  und  allem  Anschein  nach  den  hervorragend- 
sten Platz  in  der  satirischen  Literatur  des  späteren 
Mittelalters  in  Anspruch  nehmen  darf,"  sagte  Ottokar 
Lorenz. 2)  Die  Höllenbriefe  sind  parodistische  Satiren, 
die  sich  der  bei  päpstlichen  und  kaiserlichen  Schreiben 
mannigfacher  Art  vorgeschriebenen  Formen  bedienen, 
bekannte  autoritative  Sätze  mißbräuchlich  anwenden 
oder  karrikieren,  Flugschriften,  die  unter  dem  Schutze 
der  Anonymität  im  Bunde  mit  der  Komik  angreifen. 
Eine  erschöpfende  Geschichte  der  Teufelsbriefe 
würde  den  Rahmen  dieses  Buches  sprengen.  Verhält- 
nismäßig Weniges   muß   genügen   und  wird   hoffentlich 

M  Delepierre,  La  parodie  p.  47.  Vgl.  die  Parodie  im  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen 
Vorzeit.    N.F.  XXI  (1874)  S.  146. 

^)  Deutschlands  Geschichtsqellen  im  Mittelalter  seit  der  Mitte  des  13.  Jahrhunderts. 
II  (Berlin  1887)  S.  398. 


so  Teufelsbriefe 


den  Anlaß  zu  umfassenderem  Zusammensuchen  und 
Untersuchen  der  im  einzehien  schon  frühzeitig  von  den 
Gelehrten  beachteten  Literatur i)  dieser  wie  anderer  fin- 
gierter Briefe  und  Urkunden  anregen. 

Die  Spaltung  der  römischen  Kirche  im  14./15.  Jahr- 
hundert hat  die  Teufelsbriefe  zu  einer  beliebten  Gattung 
gemacht.  Indessen  unterschätzt  man  ihr  Alter,  selbst 
wenn  man  mit  Lorenz  sagt:  „Die  Grundzüge  der  Invek- 
tive,  vielleicht  sogar  eine  ältere  Fassung  derselben, 
waren  allerdings  schon  seit  dem  13.  Jahrhundert  vor- 
handen." Die  frühesten  Zeugnisse  hat  der  genannte 
Historiker  bei  Vinzenz  von  Beauvais,  Thomas  von  Chan- 
timpre  und  Salimbene  gefunden.  Die  Sache  ist  aber 
etwas  anders  zurechtzulegen  als  es  bisher  geschehen 
ist:  Bereits  von  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts,  viel- 
leicht sogar  schon  im  11.  Jahrhundert  hat  ein  Teufels- 
brief existiert.  Ihn  führt  um  1142  Wilhelm  von  Malmes- 
bury  in  seinen  'Gesta  regum  Anglorum'  an,  als  er  von 
einem  Geistlichen  von  Nantes  berichtet,^)  der  in  der 
Zeil  Kaiser  Heinrichs  IV.  (1056—1106)  aus  der  Hölle 
seinem  noch  lebenden  Freunde  erschienen  sei:  'simul 
cum  diclo  manum  expandit  tetricis  notis  inscriptam, 
in  quibus  Sathanas  et  omne  satellitium  gratias  omni 
ecclesiastico  coetui  de  tartaro  emittebant,  quod,  cum 
ipsi  in  nullo  suis  voluptatibus  deessent,  tum  tantum 
numerum  subditarum  animarum  paterentur  ad  inferna 
descendere  praedicationis  incuria,  quantum  nunquam  re- 
troacta  viderunt  saecula.'  Diese  Geschichte  ist  wortwört- 
lich in  das  Speculum  historiale  des  französischen  Do- 
minikaners Vinzenz  von  Beauvais  (lib.  XXV,  cap.  89) 
übernommen  mit  der  freilich  nicht  jedem  sofort  ver- 
ständlichen Quellenangabe  'Guillerinus'  oder  'Guiller- 
mus'.  Vinzenz  hat  man  als  Zeugen  für  die  Teufclsbriefe 
ziemlich  oft  angeführt  und  ist  doch  meines  Wissens 
nie  auf  seinen  100  Jahre  früheren  Gewährsmann,  den 
englischen  Geschichtsschreiber,  gekommen!   Die  Höllen- 

.^)  Vgl.  Köhler,  Himmels»  und  Teufelsbrie'e:  Die  Religion  in  Geschichte  und  Gegenwart. 
III  (Tübingen  1912)  Sp.  29-35. 

■)  ed.  W.  Stubbs,  Lo.^.don  1889,  vol.  II  297;  Migne,  Patrol.  lat.  CLXXIX  1227  sq. 


Teufelsbriefe  87 


botschaft  'Priiiceps  tenebrarum  principibus  ecclesiarum 
salutem.  Qiiia  quot  vobis  commissi,  tot  nobis',  die  der 
englische  Prediger  O  d  o  von  C  h  e  r  i  t  o  ii  (f  1247)  in 
seinen  Parabehi  ^)  bringt,  stimmt  im  Wortlaut  mit  der  in 
einer  Predigt  Jakobs  von  V  i  t  r  y  ^j  und  in  den  Me- 
moiren Fra  Salimbenes  überlieferten 3)  fast  ganz 
überein,  was  Holder-Egger  richtig  festgestellt  hat.  Nur 
ist  sie  bei  beiden  etwas  länger:  'Principes  tenebrarum 
prelatis  (principibus  Jac.)  ecclesiarum.  Gratias  vobis 
referimus  copiosas  (fehlt  Jac.)  quia  quot  sunt,  vobis 
commissi,  tot  sunt  nobis  transmissi'  (missi  Jac.)  und 
laut  Jakob  sizilianischen  Prälaten,  laut  Salimbene  mit- 
ten in  eine  Synode  geschickt,  während  Odo  sagte:  'Dy- 
abolus  in  specie  hominis  per  quendam  laycum  misit 
cuidam  archiepiscopo.'  Thomas  erzählt  das  Ähnliche 
wieder  etwas  anders:*)  Ein  Geistlicher,  der  auf  einer  Sy- 
node zu  predigen  hatte,  wußte  nicht,  was  er  vor  den  hohen 
Herren  der  Versammlung  sagen  sollte.  ^Da  erschien  ihm 
der  Teufel  und  sagte:  'Hab'  nur  keine  Angst,  verkünde 
ihnen  dieses  "Principes  infernalium  tenebrarum  principes 
ecclesiae  salutant.  Laeti  omnes  gratias  eisdem  referimus 
—  —  — ."  Haec  eodem  anno  ab  incarnatione  Domini 
JMCCXLYHI  fuerunt  Parisiis  coram  omni  clero  et  populo 
solemniter  recitata.'  Durch  die  Verlegung  des  Vorfalls 
auf  eine  Synode  und  die  Dankesworte  des  Höllenfürsten 
am  Beginn  stehen  sich  der  Franziskaner  Salimbene  und 
der  Dominikaner  Thomas  einigermaßen  nahe.  Im  übri- 
gen sind  so  viele  Abweichungen  vorhanden,  daß  ein 
direkter  Zusammenhang  zwischen  (Odo,)  Salimbene  und 
Thomas  hier  wohl  nicht  besteht.  Noch  leichtsinniger 
wäre  es,  mit  Lorenz  von  einer  Übereinstimmung  Salim- 
benes mit  Vinzenz  (und  Thomas)  zu  sprechen.  Die  Si- 
tuationen, in  denen  die  Teufelsbotschaften  gebracht  wer- 
den, sind  ganz  verschiedene.  Der  Grundton  der  Botschaft, 

*)  L.  Uervieux,  Les  fabulistes  Latins.  IV  289  sq. 

2)  The  exempla  etc.  of  Jacques  de  Vitry,  ed.  by  Th.  F.  Grane,  London  1890,  p.  1. 
Vgl.  audi  Gosv/in*Frenken,  Die  Exempla  des  Jakob  von  \^itry,  IVIündien  1914,  S.  42,  wo 
aber  nicht  alles  in  Ordnung  ist;  ferner  Ilampe  im  Neuen  Archiv    XXIII  645. 

''}  MG.  SS.  XXXII  419. 

^)  Bonum  universale  de  apibus,  lib.  I  cap.  20  no.  8. 


88  Teufclsbriefc 


die  Freude  und  der  Dank  des  Teuf  eis,  daß  die  Geistlichen 
der  Erde  seine  Scharen  so  vermehrt  haben,  ist  freilich 
in  allen  Zeugnissen  gleich.  Es  fragt  sich  nun,  ob  den 
genannten  Männern  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  der 
Wortlaut  eines  vollständigen  Briefes  vorgelegen  hat. 
Mir  scheint,  mit  einem  bestimmten  Ja  geantwortet  wer- 
den zu  müssen,  und  wir  haben  den  Text  in  dem 
Beelzebubschreiben,  das  hinter  echten  Briefen 
und  der  vermutlich  fingierten  Korrespondenz  zwischen 
Kaiser  Friedrich  L,  Papst  Hadrian  IV.  und  Erzbischof 
Hillin  auf  dem  letzten  Blatt  eines  Windberger  Kodex 
(München  lat.  22201)  in  Schrift  vom  Ende  des  12.  Jahr- 
hunderts überliefert  und  durch  W.  Wattenbach  veröf- 
fentlicht ist.  1)  Für  das  Fortleben  dieses  Schreibens 
haben  wir  noch  einen  anderen,  bisher  übersehenen  Be- 
weis: Der  Verfasser  des  im  15.  Jahrhundert  entstan- 
denen, von  Tausenden  gelesenen  'Lavacrum  conscientiae 
omnium  sacerdotum',  ^)  vielleicht  der  Karthäuser  Jakob 
von  Jüterbogk,  hat  cap.  4  den  ganzen  Brief  in  die  durch 
Vinzenz  vermittelte,  auf  Wilhelm  von  Malmesbury' zurück- 
gehende Anekdote  eingeschoben.  Da  die  Anfangsworte 
bei  Odo,  Jakob,  Thomas  und  Salimbene  unter  sich  ähn- 
lich, aber  anders  als  die  des  Beelzebubschreibens  sind, 
halte  ich  es  für  annehmbar,  daß  vor  1250  bereits  ein 
zweiter  Teufelsbrief  kursierte.  Insofern  sind  sie  beide 
„harmlos"  zu  nennen,  als  sie  anscheinend  nicht  als 
Kampfschriften  in  die  Welt  geschickt  sind.  Immerhin 
sind  sie  nicht  einfach  Scherzepisteln,  sondern  Fiktionen 
mit  deutlichen  Spitzen  gegen  die  hohe  und  höchste 
Geistlichkeit.  Es  dauerte  nicht  lange,  da  war  die  Sa- 
tire die  Hauptsache  geworden. 

Dank  W.  Wattenbach  ^)  ist  eine  ziemlich  häufig  ab- 
geschriebene Korrespondenz  zwischen  Teufel 
und  Papst  gedruckt,  die  offensichtlich  nicht  so  sehr 

*)  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.    N.F.   XXIX  (1882)  S.  336. 

2)  z.  B.  Leipzig  1496  erschienen,  vgl.  Hain  9959, 

3)  Sitz.=Ber.  der  Kgl.  Preuß.  Akad.  d.  Wiss.  1892.  I  S.  104  ff.  Textzeugen  —  nicht  alle 
Wattenbadi  bekannt  —  Magdeburg  Domgymn.  Ms.  190  saec.  XV,  Oxford  Digby  166  saec. 
XIII  ex.,  Reims  1275  (nicht  1043)  saec.  XIII  ex.,  Rom  Pal.  lat.  692  saec.  XV,  Wien  11799 
(Theol.  110)  saec.  XVI,  u.  a. 


Teufcisbriefc  8^ 


belustigen  wie  höhnen  und  angreifen  sollte.  Der  Fürst 
der  Hölle  schickt  allen  Prälaten  und  Klerikern  Grüße 
und  gibt  seiner  außerordentlichen  Freude  darüber  Aus- 
druck, daß  sie  nach  seinem  Muster  vorgingen.  Sie  hul- 
digten und  opferten  der  Venus,  nicht  minder  dem 
Mammon  und  dienten  so  dem  Teufel.  Schon  sei  fast 
die  ganze  Geistlichkeit  gewonnen.  Noch  verfolgten  zwar 
die  sich  durch  Gelehrsamkeit  auszeichnenden  Domini- 
kaner die  teuflischen  Gemeinden,  die  Minoriten  aber 
bereiteten  ihm  viele  Freude.  Die  Zisterzienser  jagten 
Geld  und  Gut  nach  und  könnten  ihren  Hunger  nach 
Reichtümern  gar  nicht  sättigen.  Die  Augustinereremiten, 
die  sich  neulich  zu  einem  Orden  vereinigt  hätten,  wären 
ganz  sein.  Aus  der  Einsamkeit  strömten  sie  in  die 
Städte,  in  Wahrheit  Urbaniten,  nicht  Eremiten.  Unge- 
lehrt und  ungebildet,  maßten  sie  sich  das  Predigtamt 
an  und  verwirrten  zum  Triumphe  des  Teufels  die  Gläu- 
bigen. Nur  der  Predigerorden  gehorche  noch  nicht 
recht,  er  müsse  deshalb  mit  allen  Mitteln  verfolgt  wer- 
den. Zum  Schluß  befiehlt  der  Höllenfürst,  sein  Mandat 
überall  auf  Erden  zu  verlesen. 

Der  ganze  knapp  gehaltene,  eindrucksvolle  Text  ahmt 
die  Form  eines  königlichen  Schreibens  nach  und  paro- 
diert mehrere  Bibelstellen,  nicht  bloß  die  zwei,  die  Wat- 
tenbach notiert  hat.  Parodistisch  ist  z.  B.  gleich  der 
Anfang  'Superhabundamus  gaudio,  karissimi,  in  operi- 
bus  vestris',  der  2  Kor.  VII  4  'Superabundo  gaudio  in 
omni  tribulatione  nostra'  nachgebildet  ist.  Der  Diplo- 
matiker  wird  Redewendungen  aus  dem  Stil  der  fürst- 
lichen Kanzleien  in  satirischer  Verwendung  entdecken. 
In  einem  langen  Schreiben  antwortet  dem  Beelzebub 
der  sich  überheblich  'magnus  mundi  monarcha,  cristi- 
colarum  calipha'  nennende  Papst  von  seinem  Palast 
in  Viterbo  aus,  den  Gaumen  mit  Malvasierwein  be- 
feuchtet, 'ad  perpetuam  geste  rei  memoriam  de  pleni- 
tudine  potestatis'.  Scheinbar  ist  das  eine  päpstliche 
Bulle,  scheinbar  verwahrt  sich  der  Papst  gegen  die 
Sätze  Beelzebubs.    Tatsächlich  unterstreicht  und  erwei- 


90  Teufelsbriefe 


tert  er  sie  aber  nur  noch,  indem  er  die  Vorwürfe  der 
Wollust,  Schlemmerei,  Trmiksucht,  Geldgier,  Dmnm- 
heit  mit  größerer  Ausführlichkeit  vorbringt  und  ab- 
sichtlich schwach  entkräftet.  An  Verdrehungen  von  Bi- 
belstellen u.  dgl.  ist  kein  Mangel. 

Der  Verfasser  war  ein  Dominikaner  der  zweiten 
Hälfte  des  13.  Jahrhunderts.  ^)  Die  römische  Kurie  und 
ihr  Oberhaupt  sind  zwar  mit  Seitenhieben  bedacht  und 
dadurch  in  die  Satire  hineingezogen,  daß  die  Pseudo- 
verteidigung  dem  Papste  in  den  Mund  gelegt  ist,  in  der 
Hauptsache  aber  hat  der  Parodist  es  auf  gewisse  Or- 
den abgesehen. 

Auch  der  zeitlich  folgende  Teufelsbrief  richtet  sich 
nicht  gegen  Rom  selbst,  sondern  gegen  die  Mönche. 
Englische  Benediktiner  werden  von  einem  Franziskaner 
an  den  Pranger  gestellt  in  einem  Erlaß,  den  'Belial 
apostatarum  prepositus  et  magister  invidie,  abbas  clau- 
stri  superbie,  prior  gute,  custos  et  dominus  Acherontis' 
1305  auf  einem  höllischen  Generalkonzil  feierlichst  ge- 
geben haben  soll.-)  Belial  kennt  die  zeitgenössische  Ur- 
kundensprache, kennt  die  Bibel  vortrefflich  und  plün- 
dert sie  weidlich,  kennt  die  Entartung  der  Benediktiner, 
die  nach  weltlicher  Macht  und  irdischen  Schätzen  stre- 
ben, Luxus  treiben,  saufen  und  fressen,  allen  möglichen 
sexuellen  und  sonstigen  Lastern  fröhnen.  Die  Richtig- 
keit, d.  h.  die  Aufrichtigkeit  der  Datierung  auf  1305  be- 
streite ich,  da  in  solchen  Pamphleten  gern  das  Erdicli- 
tete  in  eine  andere  Zeit  gerückt  wird  und  da  das  Bc- 
lialschreiben  nach  meiner  Überzeugung  ein  Vorbild  vom 
Jahre  1351  hat.  Die  in  den  Beispielen  gegebene  Text- 
gegenüberstellung wird  als  neues  Faktum  zeigen,  daß 
der  Belialbrief  und  der  berühmte  Teufelsbrief  von  1351 
so  viele  und  so  starke  Ähnlichkeiten  haben,  daß  der 
eine  vom  andern  unabhängig  sein  muß.  Ich  halte  das 
Belialstück  für  das  abhängige  jüngere  Erzeugnis  wegen 
seiner   großen    Seltenheit    und    seiner   Bezugnahme,  auf 

^)  Wattenbadi   vermutete   anfangs,   dafi   die    Briefe  1266—68,    später   im  Neuen  Ardiiv 
XVIII  495,  daß  sie  unter  Martin  lY.  (1281—85)  entstanden  wären. 
2)  Wattenbach  in  den  Berliner  Sitz.=Ber.  1892.    I.  S.  116-122. 


Teufelsbriefc  Ql 


die  speziellen  Verhältnisse  eines  Ordens  in  einem 
Liuide,  wegen  der  Inkonsequenz,  mit  der  Belial  seine 
Rolle  durchführt,  bald  teuflisch  seine  Freude  über  das 
Gebaren  der  englischen  Benediktiner  offenbarend,  bald 
als    Sittenprediger    auftretend. 

Nach  den  Berichten  des  Matteo  Yillani^)  und  eines 
Fortsetzers  des  Matthias  von  Neuenbürg^)  fand  man 
1351  an  der  Kurie  zu  Avignon  einen  Brief,  in  dem  sich 
L  u  z  i  f  e  r ,  der  Fürst  der  Unterwelt,  feierlichst  an  den 
Papst  Klemens  VI.  und  seine  Kardinäle  wandte  und  sie  mit 
lebhaftem  Lob  anfeuerte,  den  Teufel  bei  seinem  Kampf 
gegen  Christus  zu  unterstützen.  In  einigem  wichen  die 
Chronisten  voneinander  ab;  so  sagte  der  Italiener,  das 
Schreiben  wäre  im  Konsistorium  beim  Prozeß  gegen  den 
Mailänder  Kardinalerzbischof  entdeckt  und  auf  Anord- 
nung des  Papstes  in  der  Sitzung  verlesen  worden;  nach 
dem  anderen  wäre  es  eines  Tages  an  der  Tür  des  Kardi- 
nals angeheftet  gewesen.  Die  Angaben  von  Ort  und  Zeit 
des  Überreichens  oder  Vorfindens,  Avignon  1351,  sind 
ghnib würdig,  wenn  auch  nur  ein  Teil  der  Handschriften 
—  nachträglich  —  dieses  Jahr  nennt,  zuweilen  sich  andere 
Datierungen  finden!  Strittig  dagegen  ist  und  bleibt  einst- 
weilen der  Verfasser.  Die  Zuweisung  an  den  Hessen 
Heinrich  von  Langenstein  ist  heute  fast  allgemein  auf- 
gegeben, meistens  zugunsten  von  Nikolaus  Oresme.  Je- 
doch bedarf  es  noch  gründlicher  Untersuchung,  bis  das 
Problem  gelöst  ist.  Die  Zahl  der  (noch  nicht  zusammen- 
gestellten) Textzeugen  ist  gewaltig  groß.  Es  sind  über 
100  Handschriften  erhalten.  Luzifer  nennt  sich  in  der 
Adresse  pompös  wie  damals  die  römischen  Kaiser  deut- 
scher Nation. 3)  Die  Unterschrift  'Beelzebub  vester  spe- 
cialis amicus'  ist  wohl  nicht  ursprünglich.  Bestimmte 
Päpste,  Klemens  VI.  und  VII.,  Urban  IV.,  Gregor  XI. 
u.  a.,  werden  selten  direkt  genannt,  in  der  Regel  ist  das 
satirische  Lob,  das  bald  mit  rhetorischen  Floskeln  des 

')  Muratori,  SS.«  rer.  Ital.  XIV  137. 

^)  Boehmer,  Fontes.   IV  280. 

■^)  \Iünchen    Univ.=Bibl.    Als.  4"  134   saec.  XY   fol.   177V— 179R   überschreibt    den    Brief 
fälschlich  als  'Bulla  Luciferi'  und  beginnt  dementsprechend  'Lucifer  servus  servorum'. 


v2  Teufelsbriefe 


Kanzleistils,  bald  mit  Bibelzitateii  prunkt,  an  alle 
Kirchenoberen  gerichtet.  So  konnte  der  Brief  zu  be- 
liebigen Zeiten  als  Streitschrift  fungieren.  Drucke  wur- 
den bereits  zu  Beginn  des  16.  Jahrhunderts  in  Frank- 
reich, in  Deutschland,  in  Italien  veranstaltet.  Flacius  hat 
sogar  zwei  verschiedene  lateinische  Fassungen  zur  Ver- 
fügung gehabt/)  die  längere  lateinisch  und  deutsch 
herausgegeben.  Die  Erstredaktion  von  1351  ist  m.  E. 
gleich  der  kürzeren,  am  häufigsten  abgeschriebenen  und 
gedruckten.  ^) 

Der  sehr  bald  weithin  bekannte  Lucif erbrief  wirkte 
vorbildlich,  als  durch  das  große  Schisma  die  Verwirrung 
in  der  abendländischen  Kirche  wucherte  und  wuchs. 
Peter  von  Ailli  schickte  eine  Epistola  diaboli  Le- 
V  i  a  t  h  a  n  aus,  wieder  eine  königliche  Botschaft  aus 
dem  Beiche  der  Finsternis,  worin  allen  Vasallen  Levia- 
thans,  d.  i.  den  falschen  Prälaten,  Unfriede  und  Erhal- 
tung des  Schismas  eindringlich  mit  vielen  frevelhaft 
verzerrten  Stellen  aus  dem  Alten  und  Neuen  Testament 
gepredigt  wird.  P.  Tschackert^)  setzte  die  satirische 
Parodie,  die  z.  B.  in  Codices  von  Bern,  Cambrai,  Karls- 
ruhe, Paris  und  Wien  überliefert  ist,  um  1381  an.  Gegen 
diese    Datierung     hat    A.    Kneer^)   Bedenken     erhoben. 

^)  Catalogus  testium  veritatis,  Basel  1556,  p.  947  sqq. 

'^)  Eine  fehlerfreie  Bibliographie  fehlt.  Die  beiden  Fassungen  werden  oft  durdieinander 
geworfen,  selbst  bei  Ä.  Potthast,  Bibliotheca  historica  medii  aevi  I  (1895)  p.  747.  Ob  die 
Erstausgabe  wirklich  in  Paris  1507  erschienen  ist,  wie  man  seit  dem  16.  Jahrh.  behauptet» 
und  wenn,  ob  sie  existiert,  ist  noch  fraglich.  Idi  kenne  kein  Exemplar  von  ihr,  auch  nicht 
von  der  laut  M.  Flacius  111.,  Catalogus  testium  veritatis,  Basel  1556,  p.  948  zusammen  mit 
'Gulielmus  Parisiensis  episcopus  de  beneficiorum  collatione'  erschienenen,  aucii  nicht  von 
der  'Epistola  de  non  apostolicis  quorundam  moribus',  die  Ernst  Müncii,  Hutteni  opera  VI 
(Leipzig  1827)  p.  466  erwähnt  und  wohl  bei  Joh.  Wolf  Lect.  memor.  nachgedrutict  ist.  Die 
mir  bekannten  ältesten  Ausgaben  der  kurzen  Redaktion,  beide  ohne  Jahres»  und  Orts» 
angäbe  zu  Anfang  des  16.  Jahrhunderts  in  Deutschland  gedrudct,  haben  die  Titel  'Epistola 
Luciferi  ad  malos  principes  ecclesiasticos  Parisiis  impressa  ubi  est  fons  optimorum  stu? 
diorum'  usw.  (München  Staatsbibl.  4"  P.  lat.  47  u.  12)  und  'Epistola  Luciferi  ad  regentes 
ecclesiasticos  Parisiis  primum  impressa  una  cum  tractatu  Processus  Sathane  infernalis 
contra  genus  humanum'  (München  Univ.=Bibl.  4^  Jus  can.  2508) ;  einen  alten  italienischen 
Drude  beschreibt  F.  Novati  in  Giornale  storico  della  letteratura  Italiana  I  (1883)  p.  245.  Eine 
deutsche  Übersetzung  von  etwa  1520  ist  betitelt  'Ain  grosser  preiss  so  der  fürst  der  hellen 
genannt  Lucifer  yetzt  den  gaistlichen  als  bapst,  bischoff,  cardinel  und  dergleychen  zuweysst 
und  enpeut'  (München  Staatsbibl.  4'^  Polem.  2457  u.  8).  Ferner  nenne  ich  aus  der  großen 
Zahl  der  Ausgaben:  Joh,  Wolfii  Lectionum  memorabilium  reconditarum  centenarii.  I 
(Lauingen  1600)  p.  654  sq.  -,  Jo.  Andreas  Schmid,  De  libris  et  epistolis  coelo  et  Inferno 
delatis,  Helmstadt  1704,  p.  37  sqq.-,  Chr.  G.  F.  Walchius,  Monimenta  medii  aevi.  I  3 
(Göttingen  1759)  p.  247  sqq.;  O.  Schade,  Satiren  und  Pasquille  der  Reformationszeit.  II 
(Hannover  1863)  p.  80-84-,  F.  Novati  im  genannten  Giornale  I  419  sqq. 

^)  Peter  von  Ailli,  Gotha  1877,  S.  52  f.,  App.  V.  Vgl.  auch  N.  Valois,  La  France  et  le 
grand  schisme  d'occiclent  I  (Paris  1896)  p.  358  sqq. 

^)  Die  Entstehung  der  konziliaren  Theorie,  Rom  1893,  S.  28. 


Teufelsbriefe  v3 


Sicher  scheint  zu  sein,  daß  Peter  1381/82  die  falschen 
Hirten  unter  dem  Namen  Ezechiels  geißelte.  Diese  Sa- 
tire kann  man  nicht  eine  Parodie  nennen,  da  sie  sich 
ganz  ernsthaft  der  Worte  des  alttestamentlichen  Pro- 
pheten bedient.  ^) 

Die  Invektiven  häuften  sich  mit  der  Dauer  des  Schis- 
mas. Der  alte  Luciferbrief  behielt  seine  Berechtigung 
und  Beliebtheit.  Eine  Nachahmung  erregte  1408  die 
Gemüter  der  Christenheit.  Als  Papst  Gregor  XII.  zö- 
gerte, klar  und  deutlich  abzudanken  und  die  Unions- 
verhandlungen ehrlich  aufzunehmen,  tatkräftig  zu  führen, 
da  beschuldigten  die  Zeitgenossen  vor  allem  den  Domi- 
nikaner Giovanni  Dominici,  der  gerade  zum  Erzbischof 
von  Ragusa  ernannt  und  Kardinal  zu  werden  im  Begriffe 
war.  Der  bittere  Haß  ergoß  sich  in  einem  Satans- 
brief,  den  vielleicht  der  Notar  Pegaletti  erdacht  und 
Ende  März  veröffentlicht  hat.  'Satanas  regnorum  Ache- 
rontis  Imperator,  tenebrarum  rex  et  profundissimae 
ditionis  dux,  superbiae  princeps  et  aeternus  damnatorum 
omnium  cruciator,  fidelissimo  nostro  Johanni  Dominici 
o.  praedicatorum,  nostrorum  operum  cultori  archiepi- 
scopo  Ragusino  salutem  et  superbiam  sempiternam.' 
Schon  diese  Intitulatio,  Inscriptio  und  Salutatio  sowie 
die  Datierungszeilen:  'Datum  in  horribilissima  civitate 
nostrae  ditionis  apud  portam  infimam  centri  retro  in 
horrendo  nostro  palatio  infinita  multitudine  daemonum 
tunc  praesente  sub  charactere  ad  perpetuam  rei  me- 
moriam  aeternarum  daemonum  furiarum'  weisen  auf  die 
stilistische  Abhängigkeit  vom  Luziferbrief  des  Jahres 
1351  hin.  Der  Text  der  Mandatsparodie  selbst  bestätigt 
die  Annahme  des  Zusammenhanges.  Man  vergleiche 
etwa  die  Stellen,  wo  der  Satan  vom  'adversarius  noster 
Jesus  Christus',  von  seinen  lieben  Töchtern  Hoffart, 
Geldgier,  Üppigkeit  und  besonders  von  seinem  Lieblings- 
kinde, der  Simonie  redet.  Der  Inhalt  des  Briefes  ist 
kurz:  Dank  für  die  Unterstützung  der  Hölle  durch 
Laster  und  Verbrechen,  vor  allem  bei  dem  Zwiespalt  in 

')  Tschackert,  a.  a.  O.  S.  56  ff.,  App.  IV. 


v4  Tcufelsbriefe 


der  Kirche,  Ermunterung,  das  Schisma  ja  aufrechtzu- 
erhalten, Gregor  XII.,  der  'dilectissimus  noster'  und 
'periurus  pubUcus'  genannt  wird,  an  der  Cession  zu  ver- 
hindern, Ermunterung  für  Johann,  sein  ausschweifendes 
und  bosheitsvolles  Leben  fortzusetzen,  weiterhin  Witwen 
und  Waisen  zu  plündern,  den  Tafelfreuden  sich  unge- 
bunden hinzugeben,  Versprechen,  dem  Kardinal  außer 
irdischen  Ehren  zum  Lohn  den  heißesten  Platz  im 
ewigen  Feuer  zwischen  Arius  und  Mohammed  zu  er- 
teilen. Zwei  nichtparodistische  Gegenstreitschriften  sind» 
bekannt  geworden,  von  denen  die  eine  sich  als  Brief  des 
Erzengels  Michael  ausgibt.  Den  Satansbrief  haben  Diet- 
rich von  Nieheim  in  sein  'Nemus  unionis'  und  der  Mi- 
norit  Nicolaus  Glaßberger  in  seine  Chronik  aufgenom- 
men, Dietrich  auch  die  eine  Antwort.  Das  nach  1450 
zusammengestellte  'Magnum  chronicon  Belgicum'  zi- 
tiert das  Satansschreiben  'Epistola  blasphemia  plena 
scripta  in  pergameni  pelle  hirsuta  ab  una  parte.'  Der 
Chronist  oder  sein  Gewährsmann  scheint  ein  loses,  ein- 
seitig beschriebenes  Pergamentblatt  nach  Urkundenart 
vor  sich  gehabt  zu  haben.  Die  bis  auf  unsere  Zeit  ge- 
rettete Überlieferung  fließt  in  Büchern,  in  jenen  Ge- 
schichtswerken und  in  Codices.^) 

Handschriftlich  erhalten^)  sind  loannis  Dominici 
imo  diabolici  abusiones  cum  glossis,  eine  Gregor 
als  Beelzebub,  den  Kardinal  als  Teufelsdiener  hin- 
stellende Gegenschrift  gegen  die  'Bationes  loannis  Do- 
minici', durch  die  dieser  hatte  beweisen  wollen,  Gregor 
hätte  die  Union  der  Kirche  gewollt  und  erstrebe  sie 
noch. 

Bei  Dietrich  von  Nieheim  (lib.  VI  cap.  41)  und  im 
Concilium  Constantiense  des  Andreas  von  Begensburg-^) 
sowie  für  sich  in  Handschriften  von  Danzig,  Eichstätt, 
Wien  und  anderen  Orten  steht  ferner  ein  parodistisches 

^)  Ausgaben  und  die  moderne  wissensdiaftliche  Literatur  verzeichnet  A.  Potthast, 
Bjbliotheca  historica  medii  aevi.    IP  1052. 

^)  Rom  Vat.  lat.  4192,  vgl.  Rattinger  im  Historischen  Jahrbuch.     V  168. 
^)  Ausgabe  von  G.  Leidinger,  Mündien  1905  (Quellen  und  Erörterungen   zur  baycr.  und 
deutsdien  Geschichte.    N.F.  I)  S.  170  ff,  LX  sciq. 


Quarkembold;  Plodricius  Q5 


Pamphlet,  das  am  17.  Juni  1408  in  Lucca  an  verschie- 
denen Stellen  angeschlagen  war  als  Antwort  auf  den 
tags  vorher  öffentlich  bekanntgegebenen  Zitationsbefehl 
Papst  Gregors  gegen  die  Parteigänger  der  abgefallenen 
Kardinäle.^)  „Wir  von  Gottes  Gnaden  Officiale  der 
römischen  Kurie,  Hohepriester  der  Küche, 
Höflinge  des  Mars  falls  und  alle  Fürsten  des 
Fußvolks"  beginnt  die  an  Spott  über  Gregor  und 
seine  Kardinäle  reiche  Einladung  zum  Strafgericht.  Im 
Hochsommer  desselben  Jahres  erschien,  ausdrücklich  auf 
das  eben  erwähnte  Spottschreiben  sich  beziehend,  eine 
Polemik  gegen  einen  der  mächtigsten  und  bestgehaßten 
Gregorianer,  den  deutschen  Prokurator  und  apostoli- 
schen Cubicularius  Rother  Balhorn.  Der  Verfasser  nennt 
sich  Quarkemboldus,  Vizekanzler  der  Armen,  und  ist 
kein  Deutscher,  sondern  vielleicht  der  Italiener  Pega- 
letti  gewesen.  Nach  O.  Günther 2)  hat  derselbe  Mann 
den  Satansbrief,  die  Epistola  delusoria  officialium 
curiae,  das  Quarkemboldschreiben  und  noch  ein  paro- 
distisches  Pamphlet  geschrieben,  das  früher  fälschlich^) 
unter  Quarkembolds  Namen  ging,  in  der  besseren  Dan- 
ziger  Überlieferung  die  Unterschrift  'N.  Plodricius  scrip- 
tor'  trägt.  Die  Satire  des  Plodricius,  deren  Autor 
Pegaletti  gewesen  sein  kann,  nicht  aber  der  Westfale 
Dietrich  von  Nieheim, ^)  ist  ein  groteskes  Schreiben,  das 
im  Namen  der  kurz  vorher  aus  dem  Leben  geschiedenen 
Kardinäle  Johannes  x\egidii,  weiland  Propst  von  Lüt- 
tich, und  Angelo  Acciaiolo,  weiland  Erzbischof  von  Flo- 
renz, durch  den  Erzengel  Michael  auf  die  Erde  gebracht 
ist.  Oben  im  Himmel  habe  unter  Christi  Präsidium 
ein  Generalkonsistorium  stattgefunden,  der  Gegenstand 
der  Gerichtsverhandlungen  sei  das  kirchliche  Schisma 
gewesen  und  Errorius  Gregor  XII.  mit  seinen  Kardi- 
nälen usw.  verklagt  worden.    Der  Prokurator  habe  von 

')  Vgl.  jetzt  besonders  Q.  Günther  im  Neuen  Archiv.     XL  (1918)  S.  649   und   in   seinetn 
Buch :  Die  Handschriften  der  Kirdienbibliothek  von  St.  Marien  in  Danzig,  D.  1921,  S.  272  u.  328. 
^)  Neues  Ardiiv  XL  649  ff.,  wo  Ordnung  in  die  Texte  gebradit  ist. 

•*)    Seit   der   Ausgabe  von  E.  Martene  und  U.  Durand   in  der  Veterum  SS.  amplissima 
collectio.     VII  (1733)  col.  826-840. 

^1  Trot?  Th.  Lindner  in  der  Zeitsdirift  für  allgemeine  Geschichte.     II  (1885)  S.  4:4. 


^6  Namensverdrehungen 


den  Prononotarii  Markus  und  Lukas  sein  Instrument 
erbeten,  das  Richterkollegium,  Christus  und  die  Apostel, 
sich  dann  zur  Beratung  zurückgezogen!  Das  alles  wird 
in  ebenso  witziger  wie  boshafter  Weise  unter  Anlehnung 
an  die  Gebräuche  der  Zeit  und  fortwährenden  Angriffen 
auf  die  historischen  Persönlichkeiten  ausgeführt.  Den 
Höhepunkt  jedoch  bildet  die  folgende  Vision  der  Höllen- 
strafen für  Gregorius  und  seine  Anhänger.  Michael 
dürfte  deshalb  vom  Parodisten  zum  Überbringer  des 
Schreibens  ausersehen  sein,  weil  ein  Gegner  den  Erz- 
engel auf  den  Satansbrief  hatte  antworten  lassen.  (Vgl. 
oben  S.  94.)  Daß  der  Papst  als  'Errorius  hypocrita 
pater  patrum  haereticorum  omnium'  erscheint,  daß  mit 
seinem  Namen  und  seinen  Ehrentiteln  grimmiger  Spaß 
getrieben  wird,  befremdet,  wenn  man  die  Schärfe  und 
die  wortspielerische  Art  der  kirchenpolitischen  Streit- 
schriften des  Mittelalters  gefühlt  und  beobachtet  hat, 
nicht  mehr.  Die  Namensverdrehungen  gehen  bis  ins 
11.  Jahrhundert  zurück,  mögen  z.  T.  noch  älter  sein. 
Benzo  heißt  ^)  Rudolf  von  Schwaben,  den  Gegenkönig 
Heinrichs  IV.,  'Merdulfus',  Gottfried  von  Lothringen 'Cor- 
nefredus'  und  'Grugnefredus',  die  Normannen  'NuUi- 
manni',  schimpft  Hildebrand  —  Gregor  VII.  'Prandellus, 
Folleprandus,  Folleprandellus,  Stercorentius,  Stercutius,' 
den  Lucchesen  Anselm  —  Alexander  II.  'Asinander,  Asi- 
nandrellus,  Asinelmus*.  Andere  nennen  Klemens  III. 
'Demens',2)  Urban  II.  und  Urban  III.  'Turbanus'.^)  Im 
14.  und  15.  Jahrhundert  tauchen  dann  'Errorius,  Tur- 
banus^  Benefictus,  Maledictus'  besonders  häufig  auf. 

Das  Konzil  von  Pisa  hatte  die  Hoffnungen  der 
Kirchenfreunde  nicht  erfüllt,  nein  das  Schisma  ver- 
schlimmert. Denn  zu  den  Päpsten  Gregor  XII.  und 
Benedikt  XIII.  war  ein  dritter,  Alexander  V.,  hinzu- 
gekommen. Zwar  starb  er  schon  am  3.  Mai  1410,  aber 
er  fand  einen  Nachfolger  in  Johann  XXIII.   Und  was  für 

^)  Vgl.  MG.  SS.  XI  an  vielen  Stellen. 
2)  MG.  Libelli  de  Ute.  II  330,  III  704. 

^)  a.  a.  O.  II  375,  399,  408-411,  413,  415  f.,  421;  Burchardi  praepos.  Ursperg.  chronicon, 
edd.  Holder-Egger  et  B.  von  Simson  (1916)  p.  59. 


Teufelsbriefc  97 


einen!  Mit  ihm  stieg  die  Entwürdigung  und  der  Wirr- 
warr auf  den  Gipfel.^)  Ohne  Zweifel  war  Johann  ein 
ungewöhnlich  lasterhafter  Mann.  Sittenlose  Genußsucht, 
Grausamkeit,  unmäßiger  Ehrgeiz  und  Herrschgier  er- 
scheinen auf  seinem  Charakterbilde  in  der  grellsten  Be- 
leuchtung. Ein  solcher  Mensch  auf  solchem  Platz  for- 
derte gerade  zur  Satire,  zur  Parodie  heraus. 

Anscheinend  noch  ehe  Johann  im  Mai  Papst  wurde, 
richtete  ein  Unbekannter  1410  gege»  ihn  und  seinen 
Kreis  einen  Luziferbrief.  Ihn  hat  1549  Matthias 
Flacius  Illyricus  aus  einem  Codex  des  Magdeburger  Bar- 
füßerklosters lateinisch,  2)  1550  verdeutscht  heraus- 
gegeben. Eine  stark  erweiterte  Fassung  des  Pamphlets 
von  1351  bringend,  die  zumal  in  Norddeutschland  wäh- 
rend des  15.  Jahrhunderts  mehrmals  abgeschrieben 
wurde  (Handschriften  z.  B.  in  Göttingen,  Wolfenbüttel 
und  Wien),  überbietet  und  verallgemeinert  diese  Satire 
alle  früheren  Angriffe  auf  die  Klerisei. 

'Lucifer  /  Fürst  der  finsternis  /  regierer  der  tiefen 
trawrigkeit  /  keiser  des  Hellischen  Spuls  /  Hertzog  des 
Schwebelwassers  /  König  des  abgrunds  /  Verwalter  des 
Hellischen  fewrs'  richtet  seine  Worte  an  alle  Mit- 
genossen seines  Reiches  und  weist  im  Eingang  wie  in 
dem  alten  Sendschreiben  auf  die  zeitweilige  Verringe- 
rung des  Zulaufes  zur  Hölle  hin.  'Als  nu  die  rasende 
wuetigkeit  unsers  hertzen  solchs  vermarckte  /  besorgten 
auch  /  wir  moechten  durch  obgenante  stathalter  Cristi 
noch  weiter  beschweret  werden  /  da  wollen  noch  konten 
wir  solche  beschwernis  nicht  lenger  dulden  oder  leiden  / 
sondern  berufften  /  solchen  unrath  und  gefahr  forthin 
vorzukommen  ein  generalconcilium  mit  unsern  ver- 
wandten —  —  —  und  haben  also  nach  derselben  rath 
an  euch  /  die  ihr  itziger  zeit  Verweser  der  kirche  seid  / 
appelliret*  Daß  Luzifer  von  einem  allgemeinen  Konzil 
der  Teufelskirche  spricht,  ist  zu  beachten.    Wir  stehen 

^)  Vgl.  Blumenthal  in  der  Zeitschrift  für  Kirdiengcsiiichte.     XXI  (1901)  S.  490. 

*)  Daß  Joh.  Wolf  in  seinen  'Lectiones  memorabiles'  die  längere  Fassung  abgedruckt 
hatte,  behauptet  Chr.  W.  F.  Walch.  Monimenta  medii  aevi.  III  (Göttingen  1759)  p.  XXXXII 
mit  Unrecht,  Wolf  hat  den  kurzen  Text  von  1351. 

Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  7 


98  Teufelsbriefe 


mit  dieser  Bearbeitung  des  alten  Stückes  mitten  in  der 
Zeit  der  großen  Reformkonzilien.  Bemerkenswert  ist 
ferner  die  ätzende  Schärfe  des  parodistischen  Spottes. 
Einige  wenige  Stellen  seien  herausgehoben  und  im  alten 
deutschen  Wortlaut  dargeboten: 

O  ihr  allerliebsten  /  auserwelten  zuckermuendlein  / 
ihr  Prelaten  und  Herrn  der  Kirche  /  thut  ihr  doch  nach 
ewrem  hoechsten  vermoegen  /  alles  was  fuer  unsern 
äugen  gef ellig  und  angenem  ist.  Darumb  wollen  wir 
auch  /  ewrer  uberschwencklichen  bosheit  halben  /  das 
ir  den  obgemelten  unsern  widdersachern  /  den  Aposteln 
und  ihren  nachfolgen!  /  vorgezogen  /  und  die  oebersten 
in  der  kirche  sein  sollet.  Denn  ihr  begert  der  Kirche 
vorzustehen  /  nicht  zu  ihrem  nutz  /  sondern  zu  ihrem 
schaden  /  und  wiewol  ihr  der  Leute  heil  nicht  achtet  / 
so  wolt  ir  doch  das  sie  euch  auffs  aller  eusserst  unter- 
worffen  sein  sollen  /  und  handelt  hierinne  als  die  elir- 
geitzigen  hüben.  Denn  die  Wirde  darin  ihr  sitzt /macht 
euch  nicht  wirdig  /  sondern  zeigt  viel  mer  an  /  das  ihr 
diebe  /  reuber  /  trunckenbold  /  und  unwirdige  lauren 
seid.  —  —  —  Vorzeiten  wurden  die  obgemelten  unsere 
widdersacher  /  nemlich  /  die  Merterer  /  Propheten  / 
Aposteln  /  Confessorn  /  Jungfrawen  und  dergleichen  / 
den  Fuersten  dieser  weit  in  zeitlichen  Sachen  unter- 
worffen  /  und  begaben  sich  in  tod  fuer  die  gerechtig- 
keit  /  Ihr  aber  /  die  ihr  euch  teglich  in  bancketirn  / 
fressen  und  sauffen  weltzet  /  und  one  unterlas  ewren 
hals  durchschwemmet  /  sagt  /  'O  quanta  patimur  pro 
ecclesia  Dei'  /  O  wie  große  not  leiden  wir  fuer  die 
Kirche  /  Ja  fuer  den  ewigen  Tod.  Frest  nur  weidlich  / 
saufft   /   und  lebt  nach  all  ewrem  wolgef allen   /  Denn 

ewer  verdamnis   wird   euch   schnei  überfallen. 

Ein  armer  der  euch  nichts  bringt  /  wird  nicht  allein 
veracht  und  nicht  gehört  /  sonder  wird  widder  die 
warheit  mit  gewalt  untergedruckt  und  überrumpelt. 
Denn  so  er  koempt  /  und  euch  seiner  gerechtigkeit 
und  rechts  halben  zu  fus  feit  /  so  hoert  ihr  ihm  etwa 
ein  wenig  zu.    Wenn  er  aber  ihm  und  seinen;  rechten 


Teufelsbriefe  QQ 


ZU  gut  /  die  rechte  und  gesetz  /  herfuer  zeucht  /  so 
sagt  ihr  /  Halts  Maul  du  grober  filtz  /  du  weist  nicht 
was  du  Widder  die  gewonheit  und  proces  unsers  Pal-: 
lasts  und  Roemischen  hofes  plauderst.  So  er  aber  die 
gewonheiten  und  proceß  ewers  hofes  anzeucht  /  Ant- 
wortet ihr  /  Troll  dich  /  was  wiltu  machen?  wie 
darffstu  so  kuen  sein  /  und  dich  widder  die  gesetze 
und  Canones  auflenen?   Also  wies  ein  armer  mann  an- 

greifft  /  so  begegnet  ihr  ihm  allezeit  uberzwerch. 

Wir  wollen  aber  euch  Seelsorgern  /  als  /  euch  Bischof- 
fen /  Ertzdiacon  /  Dechenden  /  Priorn  /  Pfarrherrn  / 
diese  unsere  meinung  auch  nicht  verhalten.  Denn  ihr 
seid  die  ienigen  /  die  bey  uns  bleiben  inn  der  not. 
Darumb  verordnen  wir  euch  ewre  wonung  /  wie  sie 
euch  denn  von  ewigkeit  zugericht  und  verordnet  ist  / 
im  gründe  der  Helle.  Denn  ihr  richtet  alle  schand  und 
laster  an  /  darin  ir  uns  ein  sonderlichen  gefallen  er- 
zeigt. Ihr  seid  blinde  und  Blind enleit er  /  Ligt  des 
nachts  in  unflettiger  stinckender  hurerey  /  und  geht  des 
morgens  auff  dem  altar  umb  mit  dem  son  der  Jung- 
frawen.  Habt  euch  gar  auff  freßen  und  sauffen  ergeben  / 
seid  noch  nicht  halb  nuechtern  /  groeltzt  und  speiet 
zuvor  ein  mal  /  darnach  geht  ihr  hin  Meß  zu  halten  / 
und  kueßet  mit  ewrem  garstigen  stinckenden  maul  den  / 
fuer  welches  angesicht  ihr  nicht  werd  seid  das  ihr 
stehen  sollet.  —  —  —  Wir  heften  aber  schier  eins  ver- 
geßen  /  Ihr  seid  uns  vor  allen  dingen  auch  darumb 
sonderlich  lieb  /  das  ihr  euch  inn  unehrliche  /  bos- 
hafftige  und  sonderlich  in  frembde  spiel  menget  /  als 
da  sind  /  bretspiel  und  wuerffelspiel  /  darauf  ihr  so 
geitzig  seid  /  das  ihr  ewer  ampt  gar  drueber  ligen 
laßet  /  fuercht  euch  auch  nicht  fuer  ewren  Decreten 
—  —  —  Denn  in  den  spielen  werden  zehnerley  suende 
begangen.  Erstlich  ist  da  verlangen  nach  unehrlichen! 
gewin  st   /   Sihe  da   /  da  hastu  unsere  Tochter  die  Be- 

gierligkeit  -7- Unsere  neunde  tochter  aber  /  fraw 

Unzucht  /  vertrawen  wir  allen  inn  gemein  /  denn  wir 
wollen  das  sie  one  unterscheid  bey  allen  sein  sol  /  aber 

7* 


1 00  Teufclsbriefe 


sonderlich  bey  den  geystlichen.  So  wollen  wir  nu  / 
alles  /  was  ihr  unsern  obgemelten  toechtern  sampt 
ihren  Schwestern  und  gespielen  thun  werdet  dermaßen 
von  euch  annemen  und  erkennen  /  gleich  als  were  es 
uns  selbs  geschehen  /  verheißen  euch  auch  widderumb 
zu  dienen  zur  ewigen  verdamnis  /  das  solt  ihr  euch 
on  allen  zweiffei  zu  uns  versehen. 

Geben  /  mitten  inn  der  erde  /  in  unserm  finstem 
Pallast  /  da  keine  Ordnung  /  sondern  ewig  heulen 
und  zeenklappen  wonet.  Da  ist  unaussprechliche  kelte 
/  unausleschlich  fewr  /  unleidlicher  gestanck  /  der 
unsterbliche  wurm  /  finsternis  die  man  greifen  kan  / 
geissein  der  Peiniger  /  Teuffels  gesiebte  /  Eine  menge 
suender  unternander  vermischt  /  und  ewige  verzweif e- 
lung  /  daneben  viel  hundert  tausent  regiment  teuffei, 
sonderlich  zu  unserm  schmerzlichen  Richtstul  requi- 
rirt  und  erfordert  /  das  sie  neben  unserm  hie  an- 
gehengten Siegel  zeugen  sein  sollen  /  das  alles  also  ge- 
wislich  ergehen  sol  /  wie  wir  alhie  geschrieben  haben. 
Gehabt  euch  wol  und  habt  so  viel  glueck  als  wir  euch 
wuendschen  und  ewiglich  geben  wollen  /  Amen. 

Am  ende  dieses  brieffs  stund  also  geschrieben.  Anno 
Domini  1410  indictione  septima  den  fuenfften  tagAprilis 
/  ist  dieser  brieff  zu  Florenz  /  dem  Herrn  Joann  /  des 
Babsts  Joannis  dieses  namens  /  Referendario  uberant- 
wort  worden  durch  einen  Cortisanen  /  welcher  bald 
nach  uberantwortung  dieses  brieffs  /  entrunnen  ist.' 

Unter  den  vielen  Schmäh-  und  Spottschriften,  die 
während  des  Konzils  von  Konstanz  verbreitet  worden 
sind,  haben  auch  Parodien  Platz  gefunden.  Zumeist 
treffen  wir  in  den  Codices  der  Konzilsteilnehmer  alte 
Bekannte,  so  das  Geldevangelium  und  die  Teufelsbriefe. 
Neu  und  eigenartig  ist  das  kurze  Rezept  zu  einer  Radi- 
kalkur. ^)  Diese  Anweisung,  die  Kirche  durch  Ersäufen 
der  Kardinäle,  Erzbischöfe,  recht  vieler  Römlinge  im 
Rheine  zu  heilen,  möge  das  Kapitel  über  die  gegen  die 

*)  Vgl.  H.  V.  d.  Hardt,  Magnum  Constantiensc  concilium.  I  499 ;  H.  Finke,  Forsdiungcn 
und  Quellen  zur  Gesdiidite  des  Konstanzer  Konzils.  I  (Paderborn  1889)  S.  153  und  in  der 
Zeitsdirifl  f.  d.  Gesdiidite  des  Oberrheins.  1916  S.  269. 


Rezept  für  den  Magen  des  hl.  Petrus  101 

Nachfolger  Petri,  ihre  Vertreter,  ihre  Beamten,  gegen 
die  verderbte  Geistlichkeit  im  allgemeinen  gerichteten 
mittellateinischen  Parodien  beschließen. 

'Receptum  pro  stomacho  s.  Petri  et  refor- 
matione  totali  eiusdem,  datum  in  concilio  Constantiensi. 

Recipe  XXIV  cardinales,  centum  (oder  trecentos)  ar~ 
chiepiscopos  et  prelatos,  totidem  de  qualibet  natione  et 
de  curialibus  quantum  habere  potes.  Immergantur  in 
aqua  Rheni  et  ibidem  submersi  per  triduum  maneant 
(oder  permaneant)  eritque  (oder  et  erit)  bonum  pro  sto- 
macho s.  Petri  et  totali  eins  corruptione  removenda.' 

2.  Gegen  Klöster,  Mönche  und  Mönchsorden 

Monim  Oppressor,  Nequitiae  Amator, 
Cultor     Haeresis,     Ueritatis    Spoliator. 

In  Rom  sah  bis  zu  den  Tagen  Martin  Luthers  das 
ganze  christliche  Abendland  die  größte  .Macht  der  Welt. 
Von  Rom  kam  aller  Segen;  von  Rom  kam  alles  Unheil. 

Das  bedeutet  natürlich  nicht,  daß  die  satirische 
Parodie  einzig  und  allein  Roms  Habsucht,  Macht-  und 
Geldgier,  die  Fülle  seiner  Verbrechen  verspotten  und 
züchtigen  wollte.  Die  antikurialen  Parodien  sind  gern 
als  Angriffe  auf  alle  möglichen  Kirchenoberen  und  die 
Geistlichen  überhaupt  angelegt  w^orden  oder  dazu  er- 
weitert. Zuweilen  hat  man  auch  die  Landesbischöfe  für 
sich  beschimpft,  so  in  dem  von  B.  Haureau^)  heraus- 
gegebenen, jedoch  nicht  ganz  richtig  verstandenen  Ge- 
dichte 'Cum  ex  rapto  vivere'  über  eine  Synode  zu  Reims. 
Die  Versammlung  ist  erfunden.  Synodalberatungen  und 
-beschlüsse  im  allgemeinen  parodierend,  erhebt  ein  un- 
bekannter Verfasser  des  12./13.  Jahrhunderts  laute  Klage 
über  die  Bedrückung  und  Aussaugung  durch  die  Bischöfe 
des  Reimser  Erzsprengeis.  Von  größerer  geschicht- 
licher und  literarischer  Bedeutung  sind  aber  die  wir- 
kungsvollen Pamphlete,  in  denen  man  die  Mönche  und 
Mönchsorden  schlimm  gezeichnet  hat.  Die  Teufels- 

')  In  seinen  Notices  et  extraits.  VI  328  sq. 


102  Teufelsbriefe  gegen  die  Mönche 

b riefe  lieferten  uns  soeben  mehrere  Beispiele,  auf  die 
wir  kurz   zurückkommen  müssen. 

Da  wird  in  dem  Schreiben  ^)  'Superabundamus  gaudio' 
Freude  und  Genugtuung  deswegen  geäußert,  weil  die 
Minoriten  der  Hölle  opferten,  die  Zisterzienser  unersätt- 
lich nach  Geld  und  Gut  trachteten,  die  übrigen  Mönche 
egoistisch  nicht  für  das  Allgemeinwohl  sorgten  und  weil 
sie,  vom  Wein  erhitzt,  sich  mit  des  Teufels  Geiste  an- 
füllten, wird  besondere  Befriedigung  darüber  ausge- 
drückt, daß  die  neue  Kongregation  der  Augustiner- 
eremiten die  Städte,  die  sie  fliehen  sollten,  bevölkerte, 
ohne  Bildung  das  Predigtamt  ausübte  und  überall  Glau- 
ben sverwirrung  anstiftete,  daß  auch  die  Sarrabaiten, 
die  falschen  Mönche,  fester  Besitz  der  Unterwelt  wären. 
Einzig  und  allein  die  Dominikaner  müßten  leider  noch 
ausgenommen  werden.  Zu  ihrer  Verfolgung  wird  das 
Sendschreiben  erlassen.  In  der  Antw^ort  des  Kalifen,  des 
Papstes,  wird  die  Sündhaftigkeit  der  Orden  weiter  aus- 
gemalt: Die  Minoriten  schlemmen,  fressen  und  saufen; 
bei  den  Zisterziensern  tun  sich  die  Konversen  durch 
infernalische  Schlechtigkeit  hervor.  Die  Eremiten,  die 
Kanoniker,  die  Benediktiner  werden  in  Schutz  genom- 
men, Sie  bedürften  des  Reichtums,  weil  sie  der  Vor- 
nehmen Gunst  gewinnen,  deren  Hände  „salben"  müßten. 
Selbst  Ehebruch  und  schlimme  Gewalttaten  bei  Trun- 
kenheit werden  beschönigt.  Dann  werden  dem  Teufel 
überliefert  die  Sarrabaiten,  die  Sackträger,  Karmeliten, 
Rethabiten,  Karthäuser,  Vallombrosaner,  Serviten,  Ne- 
potuli,  Nathinäer,  Matturiner,  Humiliaten,  Sestigerer, 
scherzhafterweise  die  Diphthonge  und  Tribachen,  ferner 
die  Altipasser,  Penetratoren,  Paracliten,  Begarden,  Stre- 
garier,  Taufer,  Hengeler,  Joviner,  Girovagen,  Patarener, 
Gazarer,  Apostel  und  Antichristen.  Auch  die  Schwert- 
brüder, die  bärtigen  Geißler  und  die  Fratres  Gaudentes 
kommen  noch  an  die  Reihe.  Also  neben  den  bekannten 
großen  Orden  eine  bunte  Schar  von  Sekten  verschiede- 
ner Zeiten,  viele  kleine  Gemeinschaften,  die  größtenteils 

^)  Vgl.  oben  S.  88ff. 


Teufelsbricfe  gegen  die  Möndie  103 

im  13.  Jahrhundert  begründet  sind  oder  damals  Auf- 
sehen machten.  Eine  unter  dem  Namen  Belials  und 
dem  —  falschen  —  Datum  1305  gehende  Nachahmung  i) 
des  alten  Luziferbriefes,  die  im  ersten  Jahrzehnt  des 
15.  Jahrhunderts  entstanden  sein  wird,  wendet  sich  aus- 
schließlich gegen  die  englischen  Benediktiner,  ihre  Hab- 
gier, ihre  Schwelgereien,  ihre  Vorliebe  für  das  Studium 
der  heidnischen  Autoren  des  Altertums,  ihren  Kleider- 
luxus, ihre  Schmuckliebe  usw.  Der  1410  veröffentlichte 
erweiterte  Teufelsbrief ^)  vergißt  nicht,  die  Bettelmönche 
satirisch  zu  behandeln:  'Solche  bueberey  übet  nicht 
allein  ihr  Seelsorger  /  sondern  es  ubens  auch  die  jeni- 
gen /  die  unterm  schein  der  Religion  und  geistlichen 
kleidung  hergehen  /  als  die  man  Brueder  nennet  mit 
dem  namen  /  aber  nicht  mit  der  that  /  welche  ihr 
Bettelmünche  heisset  Denn  sie  haben  umb  Christus 
willen  abgesagt  /  nicht  den  weltlichen  luesten  /  sonder 
der  arbeit  und  unruge.  Sagen  /  sie  haben  nichts  leigens  / 
sonder  alles  gemeine  /  So  aber  einer  zu  eim  solchen  / 
der  da  sagt  /  er  habe  die  zinse  und  einkomm en  von  der 
gemeine  wegen  und  teile  sie  inn  die  gemeine  aus /sagte/ 
Er  solle  sie  inn  die  gemein  teilen  /  so  wuerde  er  bald 
antworten  /  halt  still  /  das  ist  mein.  Item  wenn  einer 
begert  das  sie  ihn  annemen  sollen  inn  ihren  orden  / 
fragen  sie  flux   /   Wie  viel  kanstu  geben?  und  machen 

ein  geding  mit  ihm  /  ehe  sie  in  annemen. O  ihr 

lieben  Bruederlein  /  ihr  solt  allezeit  die  vornempsten  in 
unserm  pallast  sein  /  und  allezeit  fuer  unsern  äugen 
stehen.  Denn  ihr  erzeigt  euch  one  unterlas  willig  und 
gehorsam  /  in  allem  das  unsere  Maiestat  und  wuetige 
tyranney  gebeut.  Denn  welche  ihre  eigne  Pfarrherrn  / 
der  großen  laster  halben  umb  gelt  nicht  wissen  zu  ab- 
solviren  /  etc.  die  nempt  ihr  alle  miteinander  an  / 
Schempt  euch  gar  nichts  auff  eines  andern  Wiese  zu 
grasen  /  schreiet  stets  /  kompt  herein  /  ihr  Diebe  / 
Moerder  /  Strassenreuber  /  Wucherer  /  Hurnwirte  / 
Kinderdiebe    /    Ubeltheter    /    Ketzer    /    Rotter    /    Ehe- 

^)  Vgl.  oben  s!  90  f.    ^)  Vgl.  oben  S.  97  ff. 


104  Mönchtumsparodic  in  der  Tierdichtung 

brecher  /  Hurnjeger  etc.  und  dergleichen  Teuf f eis  ge- 
sindlein  mehr  /  das  ich  nicht  alles  erzelen  kan.  Also 
seid  ihr  unsere  liebsten  auserwelten   /    nicht  Hirten  / 

sonder  Diebe  und  Moerder. ' 

Daß  die  Parodie  der  Mönche  und  ihres  Lebens  sehr 
viel  älter  ist  als  jene  parodistischen  Schmähbriefe,  wird 
schon  durch  die  leitende  Stellung  der  Klöster  im  latei- 
nischen Schrifttum  des  Mittelalters  und  durch  den  viel- 
fach zu  beobachtenden  Humor  der  Mönche  nahegelegt. 
Jedoch  sind  die  boshaften  Parodien  gegen  das  Mönchtum 
gewiß  lange  Zeit  selten  gewesen,  bis  die  Zahl  der  riva- 
lisierenden Orden  wuchs,  in  manchem  Kloster  Verfalls- 
erscheinungen zutage  traten  und  in  weiteren  Kreisen  der 
Christenheit,  auch  bei  Laien,  Anstoß  erregten. 

Frühzeitig   wagte   sich   die   Satire  des   Mönchswesens 
in  den  lateinischen  Tierschwänken  und  Tierepen  hervor 
und  findet  da  um  1150  ihren  besten  künstlerischen  Aus- 
druck im  Ysengrimus,^)  der  Kritik,  Spott  und  Ge- 
mütlichkeit   zu    verbinden    und    dabei   die    Parodie    als 
Kunstmittel  anzuwenden  gewußt  hat.    Es  handelt  sich 
um  eine  allegorisch  satirische  Behandlung  der  Klöster, 
ihrer    Insassen     und     Gebräuche    mit    dem     Ziel,    die 
Scheinheiligkeit  plaudernd  zu  bekämpfen.    Ob  der  Ver- 
fasser ausschließlich   bestimmte  Personen    und   Stätten 
seiner    Zeit   oder   die,    wie   er   etwa    meinte,    entarteten 
Orden  schlechthin  treffen  wollte,  ist  nicht  immer  klar 
und   tut   hier   nichts   zur  Sache.    An   mehreren   Stellen 
des  Gedichtes,  das  im  ganzen  ja  die  Gattung  der  Helden- 
epen  und   historisches   Leben   parodiert,  sind  monasti- 
sche  Texte  komisch  nachgeahmt  oder  gebraucht.    Iro- 
nisch heißt  es  vom  Wolf,  daß  er  die  Regel  des  heiligen 
Benedikt  treu  und  gehorsam  befolgt  hätte. 
I  431  ff.: 
'His    igitur    scriptis    in    sacrae    codice    normae. 
„Hunc,  qui  pluris  eget,  sumere  plura  decet 
et   cum   tinnierint  veniendi   cimbala  Signum 
fratribus,  ad  mensas  coetos  adesto  celer." 

')  Her.  von  E.  Voigt,  Halle  1884. 


Mönditumsparodie  in  der  Tierdiditung  103 

Ysengrimus  habens  sacro  super  ordine  curam 
vertere  nolebat,  quod  pia  secta  iubet', 
während  in  der  Benediktinerregel  cap.  34  gesagt  ist  'qui 
plus  indiget,  humilietur  pro  infirmitate'  und  cap.  43  'Ad 

mensam  autem  qui  ante  versum  non  occurrerit, 

pro  id  corripiatur';  'cimbala  tinniere'  ist  biblisch.  Auf 
cap.  33  'nee  quisquam  liceat  habere  quod  abbas  non 
dederit  aut  permiserit;  omniaque  omnibus  sint  com- 
munia,  ut  scriptum;  nee  quisquam  suum  aliquid  dicat 
vel  praesumat'  usw.,  nimmt  I  441  f. 

'Frater  ait  „communis  erit"  quo  more  iubetur 
claustricola  „est  nostrum"  dicere,  quicquid  habet' 
Bezug.    I  462  ff.,   555  ff.    parodieren  das  in   cap.  39  vor- 
geschriebene  Maßhalten   beim   Essen.    III  981  geht  auf 
cap.  4    zurück,    V  355    auf    cap.  6   (Schweigsamkeit   der 
Mönche),  V  586 ff.   auf  cap.  41.    V  938 f.: 

'Regula  vult,  ni  fallor,  habetque  infracta  reatum, 
ut  superet  mediam  Bachus  adusque  gulam' 
verzerrt  lustig  cap.  40  'Licet  legamus  vinum  omnino  mo- 
nachorum  non  esse,  quia  nostris  temporibus  id  mo- 
nachis  persuaderi  non  potest,  saltim  vel  hoc  consentia- 
mus,  ut  non  usque  ad  satietatem  bibamus  sed  parcius'. 
Daß  wir  das  Parodistische  in  diesem  Werke  jetzt  nicht 
weiter  aufdecken,  hat  seinen  Grund  darin,  daß  nach 
meiner  Auffassung  Parodie  und  Ironie  an  den  einzelnen 
Stellen  des  Ysengrimus,  dessen  satirische  Gesamt-  und 
Sondertendenz  ich  nicht  leugne,^)  vorwiegend  humori- 
stisch sind.  Offener  und  allgemeiner  sind  die  Invektiven 
gegen  die  Auswüchse,  Lächerlichkeiten  und  Schlechtig- 
keiten der  monastischen  Welt  im  Speculum  stulto- 
rum  des  Nigellus  Wireker.^)  Brunellus  der  Esel  zieht, 
um  seinen  kümmerlichen  Schwanz  loszuwerden,  nach 
Salerno,  der  berühmten  Hochschule  der  Medizin,  wird 
aber  geprellt  und  auf  der  Rückreise  bei  Lyon  von 
wütenden  Hunden  fast  seines  ganzen  Schwanzes  beraubt. 
Dann  bezieht  er  zum  Studium  von  Theologie  und  Juris- 

')  Vgl.  L.  Willems,  Etüde  sur  l'Ysengrimus,  Gent  1895,  S.  103  ff. 

*)  Her.  von  Th.  Wright  in  The  ÄnglosLatin   satirical   poets  and  epigrammatists  of  the 
12.  Century.  I  (London  1872). 


106  Walter  Map  gegen  die  Mönche 

prudenz  die  Universität  Paris  und  lernt  gar  nichts  außer 
dem  einen  Worte  Paris,  vergißt  sogar  dieses  auf  der 
Heimreise  beim  Paternostergeplärr  eines  Pilgers.  Nun 
sucht  er  sein  Glück  im  Mönchsstande.  Das  gibt  dem 
Dichter  Gelegenheit,  die  einzelnen  Orden  satirisch  zu 
beleuchten.  Keiner  findet  Gnade  vor  den  Augen  des 
Esels.  So  entschließt  er  sich,  den  Orden,  deren  es  man- 
chem Zeitgenossen  schon  zu  viele  gab,  einen  neuen 
hinzuzufügen;  er  macht  sich  nach  Rom  auf,  v^o  er 
die  pästliche  Bestätigung  erlangen  will,  wird  aber  wie- 
der von  seinem  Herrn  eingefangen.  Aber  auch  für  den 
Narrenspiegel  gilt,  daß  seine  Parodierungen  von  Epite- 
phien,  Rezepten,  Segenssprüchen,  Gebeten  usw.  Mittel 
der  Unterhaltung  sind,  nicht  Angriffe  auf  Monastisches. 
Ungefähr  zur  selben  Zeit  schrieb  in  England  Walter 
M  a  p  sein  unvollendet  gebliebenes  Werk  De  nugis  curia- 
lium,  das  seit  1914  in  einer  guten  Neuausgabe  von  M.  R. 
James  vorliegt,^)  in  seiner  Anlage  1917  durch  James 
Hinton  scharfsinnig  erörtert  ist.^)  Beißend  und  ver- 
gnüglich zugleich  erzählt  uns  Map  ausführlich  von  den 
damaligen  Orden  der  Christenheit.  Der  Gegensatz  zwi- 
schen ihren  eigentlichen  Aufgaben,  wie  sie  in  der  Bibel 
unci  den  Mönchsregeln  vorgeschrieben  sind,  und  ihrem 
Wirken  in  der  Praxis  führt  den  Satiriker  zur  Parodie. 
Dafür  ist  besonders  charakteristisch  die  eingeschobene 
'Incidencia  de  monachia'.  ^)  Sehr  stark  werden  die 
Zisterzienser  parodistisch  traktiert. 

'Sie  sagen  „Die  Erde  ist  des  Herrn"  (Ps.  XXIH  1), 
„Wir  allein  die  Kinder  des  Allerhöchsten"  (Luk.  VI  35), 
und  keiner  außer  uns  würdig,  sie  zu  besitzen.  Nicht 
sagen  sie  „Herr,  ich  bin  nicht  wert,  daß  ich  dein  Sohn 
heiße"  (Luk.  XV  21),  „ich  bin  nicht  wert,  daß  du  unter 
mein  Dach  gehest"  (Matth.  VIII  8),  sie  sagen  nicht  „ich 
bin  nicht  wert,  daß  ich  mich  vor  ihm  bücke  und  die 
Riemen   seiner   Schuhe   auflöse"   (Mark.  I  7),   sie   sagen 

^)  Anecdota  Oxoniensia.    Mediaeval  and  modern  series.  XIV. 

^)  Publications  of  the  Modern  Language  association  of  America,  vol.  XXXII,  1  p.  81  sqq. 

^)  James  p.  40  sqq. 


Walter  Map  gegen  die  Mönche  107 


nicht,  daß  „sie  für  würdig  gehalten  sind,  um  Jesu  Na- 
men willen  Schmach  zu  leiden"  (Act.  ap.  V  4),  sondern 

alles  zu  besitzen. „Unser  Gott  ist  nicht  ihr  Gott; 

unser  Gott  ist  der  Gott  Abrahams,  Isaaks,  der  Gott  Ja- 
kobs" (Matth.  XXII  32)  und  kein  neuer  Gott,  ihrer  aber 
ist  ein  neuer.  Unser  sagt  „Wer  nicht  alles  aufgibt  um 
meinetwillen,  der  ist  mein  nicht  wert"  (Matth.  37  ff.), 
ihr  Gott  sagt  „Wer  nicht  alles  erwirbt  um  seiner  selbst 
willen,  der  ist  mein  nicht  wert".  Unser  sagt  „Wer  zwei 
Röcke  hat,  der  gebe  dem,  der  keinen  hat"  (Luk.  III  11), 
ihr  Gott  „Wenn  du  nicht  zwei  Röcke  hast,  so  nimm  sie 
dir  von  einem,  der  sie  hat".  Unser  „Selig  der  Mann, 
der  sich  des  Bedürftigen  und  Armen  annimmt" 
(Ps.  XL  1),  ihrer  „Selig  der  arm  und  bedürftig  macht". 
Unser  sagt:  „Achtet  wohl  auf,  daß  euere  Herzen  nicht 
beschwert  werden  mit  der  Sorge  dieser  Welt  und  der 
Tag  schnell  über  euch  komme"  (Luk.  XXI  34),  ihrer 
sagt:  „Achtet  wohl  auf,  daß  euere  Geldbörsen  schwer 
werden  bei  den  Sorgen  dieser  Welt  und  nicht  der  Man- 
gel wie  ein  Landstreicher  (Prov.  VI  11)  euch  überfalle". 
Unser  sagt  „Niemand  kann  Gott  dienen  und  dem  Mam- 
mon" (Matth.  VI  24),  ihrer  sagt  „Niemand  kann  Gott 
dienen  ohne  Mammon".  In  diesem  Tone  geht  es  fort. 
'Habent  in  preceptis,  ut  loca  deserta  incolant  que  scilicet 
vel  invenerint  talia  vel  fecerint;  unde  fit  ut  in  quam^ 
cunque  partem  vocaveris  eos,  hominum  frequenciam 
sequantur  et  eam  in  brevi  in  solitudinem  redigant.'  Die 
Zisterzienser,  die  einsame  Plätze  zur  Ansiedlung  suchen 
oder  sich  bereiten  sollen,  schaffen  gewaltsam  Einöden, 
vertreiben  die  Pfarrer,  da  sie  nach  der  Regel  keine 
besonderen  Pfarrer  haben  dürfen  usw. 

Maps  Freund,  der  originelle  Giraldus  Cambren- 
sis  (1147—1220)  schreibt  einmal, i)  daß  ihn  mönchische 
Gegner  zu  parodistischen  Gebeten  zwängen:  'Ob  has 
igitur  istius  nee  monachi  tamen,  sed  verius  daemoniaci, 
alteriusque*  cuiusdam  Cluniacensem  cucullam  praefe- 
rentis   —    —   —   quoties  litanias  repeto,   quod   quidem 

*)  Symbolum  electorum  epist.  I:  Opera.  I  213. 


108  Vaterunser  für  Laienbrüder 


solito  frequentius  propter  pravitates  huiusmodi  iam 
facere  consuevi,  etiam  hanc  inter  ceteras  devotissime 
deprecationem  ingemino  cunctisque  fidelibus  et  amicis 
praecipue  ac  familiaribus  ingeminandam  in  fide  con- 
siilo  "A  monachorum  malitia  libera  nos,  Domine". 

Während  die  Tierdichtung  durch  die  humoristische 
Einkleidung  Spott  und  Hohn  etwas  verdeckt,  Satiriker 
vom  Schlage  Maps  und  Giralds  die  Polemik  durch  ge- 
schickte Kontrastierung  und  Ironisierung  meist  ver- 
feinern, allerdings  auch  verschärfen,  gibt  es  Mönchs- 
tumsparodien,  welche  sehr  vergröbern.  Zechereien, 
Schmausereien,  Luxus  und  Liebeshändel  werden  bur- 
lesk vorgetragen. 

Ich  habe  die  Goliassatire  'de  quodam  abbate',  die 
'Passio  monachi  secundum  luxuriam',  das  Gedicht  in 
Spottlatein  'Quondam  fuit  factum  festus'  und  andere 
Stücke  in  den  zweiten  Hauptteil  verwiesen,  da  sie  doch 
wohl  hauptsächlich  derb  belustigen  wollen,  aus  tollem 
Übermut,  nicht  aus  Wut  und  Erbitterung  geschrieben 
sijid,  das  Polemische  in  ihnen  höchstens  eine  Neben- 
tendenz ist.  Dagegen  geht  das  noch  ungedruckte  'Pater 
noster  pro  conversis',  das  mir  P.  Dr.  Franz  Pel- 
ster,  S.  J.,  auf  meinen  Wunsch  aus  dem  Ottobonianus 
1472  saec.  XIII  französischen  Ursprungs  abgeschrieben 
hat^  weit  über  einen  unterhaltenden  Scherz  hinaus.  In 
den  Wortlaut  des  Vaterunsers  sind  heftige  Schmähungen 
auf  die  Laienbrüder  eingeschoben,  das  Vaterunser  ist 
fr.rciert.  Damit  ist  der  liturgische  Tropus  nachgeahmt. 
Literarisch  verdient  der  krause,  mit  Willkürreimen  aus- 
gestattete Text  deshalb  Interesse,  weil  lateinische  Tropie- 
rungsparodien  ungewöhnlich  sind.  In  der  Regel  ist  die 
Farce  in  einer  romanischen  oder  germanischen  Sprache 
geschrieben,  nur  der  farcierte  Text  lateinisch  gelassen. 

Aggressiv  und  fern  von  harmlosem  Spott  ist  die  Pre- 
digt vom  Pharisäer  und  Zöllner,  die  Wilhelm  von 
Siiint-Amour  um  1250  hielt. i)    „Mit  ätzendem  Witze 

')  Vgl.  Pf  ender  in  Herzog«Haucks  Realencyklopädie  für  protestantisdie  Theologie  und 
Kirche  XXI  3301. 


Parodistische  Gebete  und  Lektionen  109 


und  einer  für  seine  Zeit  wahrhaft  staunenerregexiden 
Schriftkenntnis  eröffnete  dieser  iii  Rede  und  Schrift 
einen  ordentlichen  Feldzug  wider  die  'Pappelarden'.  — 

Nicht  ganz  mit  Unrecht  hat  man  ihn  als  einen 

Vorgänger  von  Rabelais  und  Pascal  bezeichnet."  Wil- 
helms Einfluß  wurde  es  zugeschrieben,  daß  Papst  Inno- 
zenz IV.  in  der  Bulle  'Etsi  animarum'  vom  21.  November 
1254  den  Weltklerus  gegen  zu  weitgehende  Wünsche 
d-r  Bettelorden  in  Schutz  nahm.^)  Als  bald  darauf,  am 
7.  Dezember,  der  Papst  starb,  sah  man  das  für  eine 
Strafe  des  Himmels  an,  wie  bereits  Thomas  von  Chan- 
timpre  berichtet, 2)  und  allmählich  entstand  die  Legende, 
die  Mendikanten  hätten  ihn  totgebetet.  Die  parodisti- 
schen  Gebete:  'Cavete  a  letaniis  praedicatorum,  quia 
mirabilia  faciunt'  und  'A  litaniis  praedicatorum  libera 
nos,  Domine'  wurden  in  Rom  sprichwörtlich.  3)  Viel 
Widerspruch  erregte  das  Betteln  der  Mönche  und  ihr 
oft  unheiliges  Leben. 

Eine    spätmittelalterliche    Satire    deutscher    Herkunft 
mit  der  Überschrift  'Sequuntur  mira  de  fratribus  ordi- 
num  mendicantium*  beginnt  mit  den  Versen:*) 
'Sunt  plures  gentes  communiter  accipientes 
et  paucis  dantes,  in  omni  tempore  rogantes. 
Dum  sunt  intrantes,  loca  per  diversa  meantes 
tunc  sunt  clamantes:  „Dens  odit  dona  negantes, 
diligit  et  dantes."   Sic  sunt  per  secla  meantes.* 
Die   Lasterhaftigkeit,   zumal   die   Gefräßigkeit  der   zu 
strengster    Armut    und    Enthaltsamkeit    verpflichteten 
Franziskanerobservanten  sucht  eine  von  F.  Novati^)  aus 
einem  Marcianus  mitgeteilte  Parodie  einer  Epistellektion 
'Neglectio    epistolae    b.   Paulisper    culti    ho- 
noris   apostolici    ad    fratres    fictae    obser- 

M  Vgl.  F.  X.  Seppelt,  Der  Kampf  der  Bettelorden  an  der  Universität  Paris  in  der  Mitte 
des  13.  Jahrh.,  Breslau  1908  (Kirdiengesdiiditliche  Abhandlungen  her,  von  Max  Sdralek,  VI) 
S.  100  ff. 

*)  Bonum  universale  lib.  II  cap.  10  u.  21 ;  vgl.  audi  Salimbenc  in  MG.  SS.  XXXII  419  sa. 

^)  Vgl.  Antonius  Senensis  Lusitanus,  Chronicon  fratris  praedicorum,  Paris  1585,  p.  78  sq.; 
C.  E.  du  Boulay,  Hlstoria  universitatis  Parisiensis.  III  (Paris  1666)  p.  275  sq.  —  Vgl.  die 
Litanei  Giralds  oben  S.  107  f.  und  Benzos  unten  S-  120  f. 

*)  Wattenbach  im  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.  N.F.  XXV  (1878)  S.  347. 

^)  La  parodia  Sacra  p.  308  sqq. 


110  Möndiskatediismus 


vantiae  S.  Francisci'  bloßzustellen,  das  Machwerk 
eines  Italieners  etwa  des  15.  Jahrhunderts.  Polemisch 
sind  die  'Metra  de  monachis  carnalibus',  die 
gegen  Ende  des  Mittelalters  in  Süddeutschland  beliebt 
waren,  vermutlich  damals  und  dort  entstanden  sind.  Ich 
kenne  sie  zurzeit  aus  drei  Handschriften  und  einer  Aus- 
gabe des  Mathias  Flacius  Illyricus^)  nach  einem  Basler 
Codex,  über  dessen  Verbleib  oder  Verlust  ich  nicht 
unterrichtet  bin.  Man  könnte  sie  eine  umgekehrte  Far- 
cierung  nennen:  auf  je  einen  satirischen  Hexameter  folgt 
als  Stütze  —  'auctoritates',  wie  sie  nicht  selten  mittel- 
lateinische Strophen  beschließen  —  ein  Bibel  wort,  das 
selbstverständlich  willkürlich  mit  verdrehtem  Sinn  an- 
geführt ist.  2) 

Boshafter  noch  erörtert  schließlich  ein  spätmittelalter- 
licher Anonymus  Wesen  und  Tun  des  Mönches  nach 
allerlei  grammatischen  Kategorien  '  M  o  n  a  c  h  u  s  q  u  e 
pars  est?'  „Leider  ist  es  unmöglich,  dieses  Stück  mit- 
zuteilen:  moderne  Ohren  vertragen  nicht  mehr,  woran 
man  im  15.  Jahrhundert  keinen  Anstoß  nahm."  Unter 
Wiederholung  dieser  Worte  Wattenbachs  3)  die  Erstver- 
öffentlichung^) zu  unterlassen,  schien  mir  unangebracht. 
Ich  schreibe  nicht  für  Kinder,  die  übrigens  das  Latein 
gar  nicht  verstehen  würden,  oder  für  sonstige  unreife 
Menschen,  schreibe  auch  nicht  in  kulturkämpferischer 
Erregung  und  um  Mißstimmung  zu  erwecken.  Meine 
katholischen  Freunde  wissen  das. 

Wer  das  ausgehende  Mittelalter  etwas  kennt,  dem  ist 
es  nichts  Neues,  daß  es  tatsächlich  viel  Fäulnis  im 
Mönchswesen  gegeben  hat,  daß  man  Grund  hatte,  das 
Akrostichon  'Monachus  Christi:  Miles  strenuus'"  etc.  zu 
parodieren  durch  das  von  uns  (S.  101)  vorausgeschickte 
Akrostichon  vom 'Monachus  diaboli',^)  der  berücksichtigt 

^)  De  corrupto  ccclcsiac  statu,  Nachdrude  von  1754  p.  481  sq. 

2)  Wattenbadi  veröffentlidite  ohne  Flacius'  und  der  Handschriften  Augsburg  2°  430 
und  München  lat.  4423  Text  zu  kennen,  die  Metra  aus  Codex  152  der  Stadtbibliothek. 
Lübeck,  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.   N.F.  XX  (1873)  S.  74. 

3)  Anzeiger  f.  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.   N.F.  XVIII  (1871)  S- 341. 
^)  Im  Textanhang.   . 

®)  Überliefert  z.  B.  in  Danzig  Ms.  Mar.  Q.  12  und  Erfurt  Ampi.  d.  13  a. 


Litanei  gegen  Geriditsbeamte  1  1  1 

anderseits  mit  mir,  daß  Satiren  und  Karikaturen  zwar 
wichtige  Stimmungsbilder  sind,  auf  denen  man  viel 
Wahres  und  Reizvolles  erblickt,  daß  sie  aber  mit  ihren 
scharfen  Linien  und  lebhaften  Farben  stets  übertreiben. 

3.  Gegen  die  übrige  Christenheit 

Kein  Stand  und  Rang  ist  im  Mittelalter  von  der  Satire 
verschont  geblieben.  Der  ganzen  Christenheit  sind  von 
witzigen  und  bissigen  Schriftstellern  Spiegel  vorgehalten 
worden,  die  durch  Vergrößerungen,  Verkleinerungen 
und  seltsame  Releuchtungen  bald  Lachen,  bald  Abscheu 
hervorriefen  und  noch  erregen  können.  Als  Geschichts- 
und Sittenspiegel  trotz  allen  Verzeichnungen  anziehend, 
stellen  die  Satiren  für  den  Erforscher  und  Genießer  der 
Literatur  oft  Kunstwerke  vor,  die  wir  nicht  missen 
möchten. 

Die  weltlichen  Stände  werden  in  den  mittellateini- 
schen Parodien  satirischen  Charakters  seltener  und 
meist  gemäßigter  behandelt  als  der  Papst  mit  seiner 
Umgebung,  als  die  Kirchenfürsten  und  die  Mönche. 
Wenn  z.  R.  im  Ysengrimus  Persönlichkeiten,  Sitten  und 
Gebräuche  eines  Fürstenhofes,  das  Leben  der  Gesell- 
schaft imitiert,  ja  parodiert  werden,  so  geschieht  das 
gewöhnlich  mehr  launig  unterhaltend  als  spöttisch  und 
angreifend.  Eine  große  Litaneienparodie  italienischen 
Ursprungs,  aus  dem  15.  Jahrhundert  überliefert^)  und 
beginnend:  "In  nomine  infinite  miserie  et  sue  follie  mi- 
serime  birVarie",  wünscht  den  Gerichtsbeamten, 
den  Häschern  und  Schergen  alles  Rose. 

Am  rohsten  sind  in  Parodien  die  Rauern  verhöhnt.  2) 
Roshaft  beten  die  Vaganten:  'Allmächtiger  Gott,  der  du 
Zwietracht  zwischen  den  Klerikern  und  den  Rauern  ge- 
sät hast,  laß  uns  von  der  Rauern  Arbeit  leben,  ihre 
Frauen  und  Töchter  genießen,  an  ihrem  Verderben  uns 

')  Straccali,  J  goliardi  p.  91  sq. 

*)  Über  bauemfcindlidic  Literatur  des  Mittelalters  vgl.  F.  Novati,  Carmina  medii  aevi^ 
Florenz  1883,  p.  25  ff. ;  Dom.  Merlini»  Saggio  di  riccrche  stilla  satira  contro  il  villano,  Turin 
1904;  L.  Bertalot,  Humanistisdies  Studienheft  eines  Nürnberger  Sdiolaren  aus  Pavia, 
Berlin  1910,  S.  82  ff. 


112  Bauernkatediismus 


erfreuen.'  In  den  Sauf-  und  Spielmessen  des  12./13.  Jahr- 
hunderts begegnet  uns  dieses  Schmähgebet  zuerst.  Es 
kehrt  wieder  in  der  spätmittelalterlichen  Grammatik- 
parodie 'Rusticus  que  pars  est?',  die  im  Aufbau 
den  Satiren  'Quid  est  nummus'  und  'Monachus  que  pars 
est'  gleicht.  Der  Wiener  Baccalar  Georg  Prenperger, 
der  in  der  überliefernden  Münchener  Handschrift  als 
Verfasser  des  Katechismus  ^)  genannt  wird,  geht  die 
grammatikalischen  Kategorien  durch,  fragt  und  sagt,  zu 
welcher  Art  von  Redeteilen,  zu  welchem  Geschlecht  und 
Numerus,  zu  welcher  Deklination  der  Bauer  gehöre  und 
wie  er  dekliniert  werde  usw.  Zur  Bekräftigung  der  Ant- 
worten werden  fast  immer  Verse  angeführt,  wobei  sich 
der  Abschreiber  nicht  gescheut  hat,  das  in  liturgischen 
Büchern  übliche  V  =  versus  oder  versiculus  zu  ge- 
brauchen. Einmal  beruft  sich  der  Parodist  auf  einen 
'Magister  Pharraphat  in  prophanica  sua  circa  rubricam 
in  corrupto  folio  ubi  nichil  est  scriptum'.  Was  folgt, 
ist  keineswegs,  wie  man  es  nach  der  Zitierweise  er- 
wartet, ein  bloßer  Scherz,  sondern  jenes  ausgesprochen 
bauernfeindliche  Gebet.  Von  Anfang  bis  zu  Ende  wird 
der  Bauer  lächerlich  gemacht  und  beschimpft,  weidlich, 
ja  widerlich  ist  unter  dem  Deckmantel  der  Grammatik 
der  Landmann  dumm,  schmutzig  und  schlecht  ge- 
scholten. 2) 

Mag  auch  ein  deutscher  Student  für  die  Abfassung 
oder  Überarbeitung  des  Pamphlets  verantwortlich  sein, 
die  Verachtung  und  Verhöhnung,  die  mitleidslose  Miß- 
handlung der  Bauern  war  bei  den  Bürgern  und  den 
Klerikern,  namentlich  den  vagierenden,  international. 
Und  so  findet  sich  denn  auch  die  Deklination  des 
Rusticus  ähnlich  in  einem  italienischen  Manuskripte, 
dem  Marcianus  XI  66  zu  Venedig:^) 

*)  Aus  München   lat.  18  287,  Vorsatzblatt   saec  XV   im  Anhang   wiedergegeben. 

^)  Den  Haß  der  Bauern  auf  ihre  Peiniger  bezeugt  audhi  die  Scherzpredigt  gegen  die 
Enthaltsamkeit :  'Talem  invidiam  videntur  habere  rustici  erga  presbiteros  et  nobiles,  ut 
patet  ex  natura,  in  tractatu  rusticorum  capitulo  'Gracia  plena',  unde  Boecius  de  consola* 
cione  Philosophie  'Natura'  dat  uniquique  quod  suum  est  et  quod  appetit'  Anzeiger  für 
Kunde  der  deutschen  Vorzeit.   N.  F.  XIII  (1866)  S.  395. 

')  Novati,  Carmina  p.  28. 


Bauerndeklination ;  Schmähgebet  113 


'Siiigulariter 

et  pluraliter 

Nom. :  hie  villanus, 

hi  maledicti. 

Gen.:    huius  rustici, 

horum  tristium. 

Dat.:    hiiic  tferfero, 

his  mendacibus. 

Acc. :    hunc  furem, 

hos  nequissimos. 

Voc. :    o  latro, 

0  pessimi. 

Abi. :    ab  hoc  depreda 

tore. 

ab  his  infidelibus.' 

Em  lateinisch-deutsches 

Kneiplied  1)  'Prima  declinacio 

ain    morgen    in    taberna' 

schließt   bezeichnet   mit   dem 

Wunsche  'Tu  autem,  Domine,  nulli  rustico  miserere!' 
Das  Schmähgebet  ist  schließlich  mit  anderen  Ver- 
wünschungen der  Bauern  einer  Gebetsparodie  ein- 
gegliedert, in  der  die  ganze  Christenheit  satirisch- 
humoristisch vorgenommen  ist.  Das  Muster  dieses 
gegen  die  verschiedensten  Würden  und  Stände  gerichte- 
ten Stückes  w^aren  die  bekannten  Fürbitten  in  der  Kar- 
freitagsliturgie, wo  eigene  Gebete  für  die  ganze  Kirche, 
den  Papst,  alle  kirchlichen  Oberen,  den  Kaiser,  die  Ka- 
techumenen,  die  Kranken,  die  auf  Reisen  befindlichen, 
die  Häretiker  und  Schismatiker,  die  Juden  und  Heiden 
vorgesehen  sind  und  nach  altem  Brauch  noch  heut- 
zutage mit  einigen  Änderungen  in  der  katholischen 
Kirche  feierlich  gebetet  werden.  Der  Parodist  führt 
das  bei  jeder  einzelnen  Kategorie  übliche  'Oremus'  nur 
zu  Beginn  auf  und  setzt  an  die  Stelle  des  eigentlichen 
Gebetstextes  Sätze  aus  der  Vulgata,  die  angeblich  auf  die 
einzelnen  Personen,  Stände  usw.  passen.  Abweichungen 
vom  Karfreitagsgebet  bestehen  ferner  darin,  daß  füi* 
viel  mehr  Kategorien  Fürbitten  aufgenommen  sind. 
Zur  Aufnahme  manchen  Stückes  haben  ohne  Zweifel 
Messen  und  Gebete  außerhalb  der  Karfreitagsliturgie 
Anregung  gegeben.  Noch  im  heutigen  Missale  Roma- 
nuni  findet  man  gelegentlich  zur  Verwendung  kom- 
mende 'Orationes  pro  omni  gradu  ecclesiae'  (vgl.  or.  1 
der  Parodie),  'pro  papa,  pro  imperatore,  pro  rege, 
pro  praelatijs  et  congregationibus  eis  commissis,  pro  se 
ipso    sacerdote    (vgl.    or.    25),   pro    devotis    amicis,    pro 

M  W.  Wattenbadi  im  Anzeiger  f.  Kunde  d.  d.  Vorzeit.   XXVI  (1879)  S.  100. 
Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  8 


114  Schmähgebet  gegen  alle  Stände 


navigantibus'.  Der  mittelalterliche  Gottesdienst  hatte 
außerdem^)  Messen  'pro  omni  gradu  ecclesiastico,  pro 
amicis,  pro  iter  agentibus,  pro  navigantibus,  pro  semet- 
ipso'.     Für   das   große   Schmähgebet   gegen   die   Bauern 

—  mir  fast  aus  einem  Dutzend  Handschriften  bekannt 

—  weiß  ich  kein  bestimmtes  Vorbild.  Im  ganzen  und  im 
einzelnen  ist  aber  der  Orationsstil  mit  teuflischer  Mei- 
sterschaft getroffen.  Forscher,  die  größere  Sonderkennt- 
nisse auf  dem  schwierigen  und  weitverzweigten  Gebiete 
der  alten  Liturgie  haben  als  ich,  werden  vielleicht  noch 
einige  andere  Entsprechungen  zu  den  beiden  Reihen 
der  Gebetsparodien  feststellen  können.  Für  die  Charak- 
teristik der  Satire  wird  das  oben  Gesagte  im  wesent- 
lichen genügen.  2) 

Ich  wage  es,  die  Parodie  zu  übersetzen  und  schicke 
folgendes  voraus:  Links  schließe  ich  mich  dem  von 
A.  Bernoulli  veröffentlichten^^)  Text  eines  Basler  Codex 
aus  der  ersten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts  an,  rechts 
gebe  ich  die  Entsprechungen  bzw.  Abweichungen  einer 
aus  Westfalen  vStammenden  Münchner  Handsclixift.*)  Zu 
einem  großen  Teile  stimmen  die  beiden  Zeugen  über- 
ein. Die  Reihenfolge  ist  allerdings  anders,  und  nicht 
immer  finden  sich  unter  denselben  Rubriken  dieselben 
Bibelstellen.  Ferner  hat  B  einige  Gebete,  die  in  M,  dieser 
Codex  einige,  die  in  B  fehlen.  B  ist  im  Zitieren  der 
Vulgata  weniger  sorgfältig  als  M.  Kleine  offensichtliche 
Fehler  von  B  habe  ich  bei  der  Übersetzung  stillschwei- 
gend beseitigt.  Erwähnenswert  ist,  daß  die  Anfangsworte 
von  B  13  iudica  illos  Dens  an  den  Schluß  von  12  ge- 
hören (vgl.  12*),  die  Schlußworte  von  B  13  in  M  auf 
die  Zisterzienser  gemünzt  sind  (14*).  Absichtliche  und 
deshalb  stehenzulassende  Abweichungen  von  der  Bibel 
trifft  man  in  B  bei  16,  19,  26,  27,  in  M  bei  16*,  17*,  30*, 
30*,  33*,  27*,  22*,  36*. 


')  M.  Gerbert,  Monumenta  veteris  liturgiae  Alemannicae.  I  271,  282  sqq.,  287 sq.,  290,  291  sq. 
2)  Für  RatsdilSge  danke  ich  meinem  Hörer  und  Schüler  Herrn  Kaplan  Leo  Kozelka. 
^)  In  der  Zeitschrift  für  Kirchengeschichte.   VII  (1885)  S-  141  ff. 
")  München  lat.  1782  9  f.  55  R— 56  R,  etwa  1528  abgeschrieben. 


1 


Sdimähgebet  gegen  alle  Stände 


115 


B 
1.  Lasset    uns    beten    für   jeden 
kirchlichen     Grad     und    zuerst 
für  das  Heil  der  Vaganten. 


2.  Für  unsern  Papst:  Er  liegt  im 
Hinterhalt  der  Gehöfte,  mordet  ins» 
geheim  Unschuldige.  (Ps.  X  8) 

3.  Für  unsern  König;  Seine 
Kinder  müssen  zu  Waisen  werden 
und  sein  Weib  Witwe.  (Ps.  CVIII  9) 

4.  Für  unsern  Bischofs  Seiner 
Lebenstage  seien  wenige  und  sein  Amt 
empfange  ein  anderer.   (Ps.  CVIII  8) 

5.  Für  unsern  Kaiser:  Er  wollte 
den  Fluch,  —  so  komme  er  über 
ihnl  Er  hatte  keinen  Gefallen  am 
Segen,  —  so  bleibe  er  fern  von  ihm  ] 
(Ps.  CVIII  18) 

6.  Für  Reisende:  Ihre  Wege 
mögen  finster  sein,  während  sie  der 
Engel  Jahwes  verfolgt.  (Ps.  XXXIV  6) 

7.  Für  Schiff ahrende:  Mögen 
sie  starr  werden  wie  ein  Stein,  auf 
dafe  sie  in  die  Hölle  stürzen  wie  Blei. 
(Exod.  XV  16  +  XV  5  +  Ps.  LIV  16) 

8.  Für  Streitende:  Schwerter 
dringen  in  ihr  Herz,  und  ihr  Bogen  wird 
zerbrochen  werden.    (Ps.  XXXVI  15) 

9.  Für  unsern  Abt:  Fett,  didc, 
hodifahrend  und  aufgeblasen  wurde  er 
uns.  (Deut.  XXXII  15,  etwas  variiert.) 

10.  Für  unsem  Prior:  Wenn  er 
gerichtet  wird,  möge  er  als  schuldig 
hervorgehen,  und  sein  Gebet  werde 
zur  Sünde.  (Ps.  CVIII  7) 

11.  Für  die  Zisterzienser:  Ihre 
Frucht  wirst  Du  von  der  Erde  hins 
wegtilgen  und  ihre  Nachkommen  aus 
den  Menschenkindern.     (Ps.  XX  11) 

12.  Für  die  sehwarzenMönche: 
Ein  offenes  Grab  ist  ihre  Kehle,  mit 
ihren  Zungen  heucheln  sie,  (Ps.  V  1 1 ) 


M 
1*.  Lasset  uns   beten  für  die  Ge« 
samtheit  der  Kirche:  Sie  sind 
alle  abgewichen  und  allesamt  un» 
tüchtig.     Da  ist  keiner,   der  Gutes 
tue,  auch  nicht  einer.  (Ps.  XIII  5) 
2*.  Für  die  Kardinäle  und  den 
Papst:  Gottlosigkeit   ist  von  den 
Altesten    in    meinem    Volke    aus« 
gegangen.  (Dan.  XIII  5) 
4*. 


=  6*. 


=  3*. 


34*.  Für  Schiffahrende:  Mögen 
sie  starr  werden  wie  ein  Stein 
und  hinabstürzen  in  die  Tiefe  des 
Meeres  wie  Blei. 


19*.  Für  unsern  Abt:  Fett  wurde 
er  und  schlug  aus,  dick  und  feist. 
(Deut.  XXXII  15) 

20*. 


14*.  Für  die  Zisterzienser:  Stets 
seien  sie  Gott  gegenwärtig,  daß  er 
ihr  Gedächtnis  von  der  Erde  hin« 
wegtilge.  (Ps.  CVIII  15) 

12*.  t  Richte  sie,  Gottl  (Ps.  XV  11) 


116 


Sdimähgebet  gegen  alle  Stände 


13.  Für  die  Minoriten:  Ihr 
Mund  ist  voll  Fluchens,  ihre  Zunge 
ist  Unheil  und  Verderben.  (Fs.  X  7. 
Irrtümlidi  am  Anfang  der  Schluß  von 
12*  und  am  Schluß  noch  14*  zugefügt.) 


14.  Für  die  Augustiner: 
Glühende  Kohlen  mögen  auf  sie 
regnen,  und  niemand  erbarme  sich 
ihrer.  (Ps.  CXXXIX  11  +  CVIII  12) 

15.  Für  die  Predigermönche: 
Laufe  mit  ihnen  und  dir  wird  nie» 
mals  wohl  sein. 

16.  Für  die  Nonnen:  Sie  opferten 
ihre  Söhne  und  Töchter  den  Priestern 
und  Mönchen.  (Ps.  CV  37  parodiert) 

17.  Für  die  Kreuzherren:  Sie 
mögen  ausgelöscht  werden  aus  dem 
Buche  der  Lebendigen  und  nicht 
aufgeschrieben  mit  den  Gerechten. 
(Ps.  LXVIII  29) 

18.  Für  die  Karmeliten:  Ein  ab» 
trünniges  und  widerspenstiges  Ge» 
schlecht.  (Ps.  LXXVII  8)  Verflucht 
seien  sie  in  alle  Ewigkeit. 

19.  Für  unsere  Pröpste:  Herr, 
gieße  Deinen  Grimm  über  sie  aus, 
und  die  Glut  Deines  Zornes  erreiche 
Sic.  (Ps.  LXVIII  25) 

20.  Für  die  Dekane,  Plebane 
und  Pfarre ktoren:  Wollte  ich  sie 
zählen,  würden  ihrer  mehr  sein  als 
Sandkörner.  (Ps.  CXXXVIII  18) 

21.  Für  die  Kanoniker:  Sie 
sind's,  die  sich  befleckt  haben  mit 
Weibern,  jungfräulich  sind  sie  nicht 
geblieben.    (Apoc.  XIV  4) 

22.  Für  die  Vornehmen  der 
Welt:  Möge  ihre  Wohnung  wüst 
werden  und  in  ihren  Zelten  kein 
Bewohner  sein.     (Ps.  LXVIII  26) 


18*.  Für  die  Minoriten:  Sie  haben 
ihre  Zungen  wie  die  Schlangen  ge^- 
spitzt,  Otterngift  ist  unter  ihren 
Lippen.  Deshalb  sollen  sie  hungern 
wie  Hunde  und  mit  dem  Bettel» 
sack  durch  die  Stadt  ziehen. 
(Ps.  CXXXIX  4  +  LVIII  15) 

16*.  Für  die  Augustiner:  Möge 
ihr  Tisch  vor  ihnen  zur  Schlinge, 
zur  Vergeltung  und  zum  Anstoß 
werden.  (Ps.  LXVIII  23) 

17*.  Für  die  Predigermönche: 
Sie  liebten  Gott  mit  ihrem  Munde 
und  im  Herzen  logen  sie  ihn  an. 
(Ps.  LXXVII  36) 

30*.  Für  die  Nonnen:  Erbarme 
Dich  meiner,  Gott,  denn  die  ganze 
Nacht  mißhandelt  und  plagt  mich 
der  Mann.   (Ps.  LV  1  f.  parodiert) 


15*.  Für  die  Karmeliten:  Seine 
Kinder  mögen  überall  umher» 
schweifen  und  betteln,  mögen  fort» 
getrieben  werden  aus  ihren  Häusern. 
(Ps.  CVIII  10) 


-  10*. 


5*. 


Sdimähgebet  gegen  alle  Stände 


117 


25.  Für  die  Landleutes  Er  wird 
die  Übeltäter  übel  umbringen  und 
seinen  Weinberg  an  andere  ver« 
mieten,     (Matth.  XXI  41) 

24.  Für  die  Bauern:  Der  Tod 
überfalle  sie ;  mögen  sie  bei  lebendigem 
Leibe  in  die  Unterwelt  hinabfahren. 
(Ps.  LIV  16) 


25.  Für  uns  selbst:  Bachus 
macht  uns  selig,  bei  ihm  vertrinken 
wir  unsere  Kleider.  (Vielleidit  Is. 
XXXVIII  20  parodiert) 

26-  Für  das  weibliche  Gea 
schlecht:  Selig  der  Mann,  der 
sein  Verlangen  an  ihnen  stillt,  er 
möge  in  Ewigkeit  nicht  gestört  werden. 
(Ps.  CXXVI  5) 

27.  Für  unsere  Weiber:  Sie 
laufen  von  Stamm  zu  Stamm  und 
von  Volk  zu  Volk  (Ps.  CIV  13)  und 
werden  in  <k>ein  Reich  kommen. 
(Luk.  XVIII  24) 

28.  Für  die  Bürger:  Lenke  sie 
mit  eisernem  Stab,  zersdimettere  sie 
wie  ein  Töpfergefäft.    (Ps.  II  9) 

29.  Für  die  Wucherer:  Die  zu 
mir  kommen,  werde  ich  alle  nicht 
versto&en  (Joh.  VI  37),  und  er  wird 
immer  und  ewig  herrsdien.  (Exod. 
XV  18) 


32*. 


=  33*.  Für  die  Bauern:  Sie  mögen 
ausgelöscht  werden  aus  dem  Buche 
der  Lebendigen  und  nicht  aufgeschrie« 
ben  mit  den  Gerechten.  (Ps.  LX VIII 29) 
Erlösung  von  unsern  Feinden  und 
von  der  Hand  aller,  die  uns  hassen. 
(Luk.  171).  Versus:  Wer  einen  Bauer 
liebt,  ist  ein  Menschenmörder  (I  Joan. 
III  15  parodiert)  alleluia.  Aber  wer 
dessen  Frau  liebt,  steht  höher  als 
ein  Prophet.  (Matth.  XI 9  oder  Luk. 
VII  26  parodiert)  alleluia.  Lasset  uns 
beten:  Gott,  der  du  Unfrieden  zwi» 
sehen  Klerus  und  Rusticus  gesät  hast, 
gestatte  uns  gnädig,  von  der  Bauern 
Arbeit  zu  leben,  ihre  Frauen  zu  ge» 
niesen,  mit  ihren  Töchtern  herrlich 
und  in  Freuden  zu  leben,  über  ihren 
Tod  zu  frohlocken. 


27*  Für  das  weibliche  Ge» 
schlecht:  ihre  Genüsse  er« 
quiekten  unsere  Seelen.  (Ps.XCIII  19 
parodiert) 

29*  Für  die  Weiber  der  Vas 
gierenden:  Sie  zogen  von  Volk 
zu  Volk,  von  einem  Reiche  zu  einer 
anderen  Nation.    (Ps.  CIV  13) 

31*  Für  die  Bürger:  Bedrückung 
und  Betrug  weichen  nicht  von 
ihrem  Markte.    (Ps.  LIV  12) 


118  Sdimähgebet  gegen  alle  Stände 

30.  Für  die  armen  Priester: 
Selig,  der  auf  den  Bedürftigen  und 
Armen  achtet,  am  Unglückstage  wird 
sie  der  Herr  retten.    (Ps.  XL  2) 

31.  Gebet:    Gott,    der    Du    die      =35* 
Menge   der  Bauern   gesät   und   zwi» 

sehen  uns  und  ihnen  ewige  Zwie« 
tracht  geschaffen  hast,  lafe  uns  von 
ihrer  Arbeit  gut  leben,  ihre  Frauen 
und  Töchter  genießen,  an  ihrem  Tode 
uns  immerdar  erfreuen  und  sie  auf 
Erden  quälen.  Durch  ihren  Herrn, 
nicht  Jesus  Christus,  sondern  ihren 
betrügerischen  Schöpfer,  den  Teufel, 
mit  dem  sie  leben  mögen  und  herr« 
sehen  auf  Stroh  1 


Zu  den  mitgeteilten  Fürbitten  kom» 
mcn  aus  M  hinzu: 

7*  Für  unsern  Suffragan:  Ich  bin  meinen 
Brüdern  fremd  geworden  und  unbekannt  den  Söhnen 
meiner  Mutter.    (Ps.  LXVIII  9) 

8*  Für  unsern  O  f  f  i  c  i  a  1 :  An  ihren  Händen 
klebt  Untat,  ihre  Rechte  ist  voll  durdi  Bestechung. 
(Ps.  XXV  10) 

9*  Für  die  Notare  und  Schreiber:  Ich 
sprach  in  meiner  Bestürzung:  Alle  Menschen  lügen. 
(Ps.  CXV  11) 

11*  Für  die  Mönche:  Ein  verkehrtes  Volk 
und  von  allem  Rate  verlassen  (Deut.  XXXII  28), 
ein  abtrünniges  und  widerspenstiges  Geschlecht. 
(Ps.  LXXVII  8,  vgl.  no.  18  Pro  Carmelitis) 

13*  Für  die  Prämonstratenser:  Ihre 
Augen  sind  verfinstert,  dafe  sie  nicht  sehen,  und  ihr 
Rücken  immer  gekrümmt.    (Ps.  LXVIII  24) 

21*  Für  unsern  Guardian:  Bestelle  Gottlose 
wider  ihn,  und  der  Teufel  stehe  zu  seiiiev  Rechten. 
(Ps.  CVIII  6) 

22*  Für  unsern  Provincial:  Herr,  mach  ihn 
gleich  wirbelndem  Staub,  gleich  Stoppeln  vor  dem 
Winde.    (Ps.  LXXXII  14) 

23*  Für  die  Ackersleute:  Wenn  sie  nicht 
satt  werden,    dann  murren  sie  gewife.    (Ps.  Lyill  16) 

24*  Für  die  abwesenden  Brüder:  Sie  sollen 
wie  das  Gras  auf  den  Dächern  werden,  das  verdorrt, 
ehe  man  es  auszieht.   (Ps.  CXXVIII  6) 


Spottepitaphien  119 


25*  Für  unsern  Pastor:  Er  liegt  mit  den 
Reidien  im  Hinterhalt  der  Gehöfte,  daß  er  Arme 
und  Unschuldige  morde.    (Ps.  X  8) 

26*  Für  die  Freunde  und  die  Deutschen: 
Abends  und  morgens  und  mittags  sind  sie  betrunken. 
(Ps.  LIV  18  und  LXXVII  65) 

28*  Für  unsere  Konkubinen:  Stelle  einen 
Gesetzgeber  für  sie  auf  (Ps.  IX  21),  sie  selbst  sind 
unsere  Richter.    (Matth.  XII  27) 

35*  Für  das  Geld:  Alle  Könige  werden  es  an- 
beten, alle  Völker  ihm  dienen.    (Ps.  LXX   11) 

36*  Für  die  Apotheker:  Dradiengeifer  ist  ihr 
Wein,  damit  der  Trank  recht  bitter  werde  {nach 
Deut.  XXXII  32)  für  alle,  die  uns  Gutes  tun.  O  Herr 
Jesus  Christus,  rechne  ihnen  das  nicht  als  Sünde  an; 
denn  sie  wissen  nidit,  was  sie  tun.  (Nach  Act.  VII  60 
und  Luk.  XXIII  34) 

4.  Einzelne  Persönlichkeiten,  Ereignisse  und 

Zustände  der  mittelalterlichen  Welt  in  der 

satirischen  Parodie. 

Sehen  wir  von  den  Angriffen  auf  die  römische  Kurie, 
auf  die  verschiedenen  geistlichen  und  weltlichen  Stände 
ab  und  fassen  wir  bestimmte  Personen,  Geschehnisse, 
Verhältnisse  ins  Auge,  so  sehen  wir  auch  die  kritische, 
kämpferische  und  frohlockende  Parodie  in  den  mannig- 
faltigsten  Konflikten  oft  voll  Abwechselung  gebraucht. 

Am  ältesten  und  häufigsten  sind  die  Spottepita- 
phien auf  einzelne  Päpste,  Bischöfe,  Äbte,  Könige, 
Herzöge  usw.  Sie  lassen  sich  von  den  ironischen  und 
polemischen  Epigrammen  der  Antike  her  durch  alle 
Jahrhunderte  des  Mittelalters  bis  in  die  Neuzeit  ver- 
folgen. Den  karolingischen  Erzeugnissen  dieser  Art  (vgl. 
oben  S.  31)  wären  z.  B.  anzureihen  die  satirische  Grab- 
schrift ^)  für  Herzog  Arnulf  den  Bösen  (f  937),  das  von 
Jakob  Werner^)  veröffentlichte  'Epitaphium  de  inpio 
hospite': 

'Quem  ^tegit  hie  cespes,  mundo  fuit  inpius  hospes. 
Nola  "Pater  noster",  perge,  viator,  iter,' 

^)  Neues  Ardiiv.  II  397.    '^)  Beiträge  (1905)  S.  24. 


1 20  Litanei  Benzos  von  Alba 

der  bissige  Titulus,  den  Nikolaus  von  Bibra^)  in  seinem 
1281—1283  verfaßten  'Occultus'  Papst  Martin  IV.  ge- 
widmet hat: 

'Hie  iacet  ante  chorum   submersor  Theutonioorum 
pastor  Martinus,  extra  qui  totus  ovinus 
et  lupus  introrsus,   cui  nulla  redemptio   prorsus, 
sed  Sit  ad  inferna  detrusus  ab  arce  superna' 
und  viele  andere  mehr.    Jedoch  bitte  ich  mir  die  Frei- 
heit aus,  die  Scherz-  und  Spottepitaphien  ein  andermal 
in   einer   besonderen   Studie   und  Ausgabe   vorzuführen 
oder  behandeln  zu  lassen,  fürs  erste  mit  dem  summa- 
rischen Hinweis  den  Lesern  genug  getan  zu  haben. 

Von  den  großen  Verwicklungen  ist  es  vorzugsweise 
der  Kampf  von  Kaiser  und  Papst  um  die  Supre- 
matie gewesen,  der  die  mittelalterliche  Publizistik  bis 
ins  13./14.  Jahrhundert  hinein  beschäftigt  hat.  Schon 
Bischof  Benzo  von  Alba  hat  seine  bizarre  Streit- 
schrift für  unsern  deutschen  Kaiser  und  König  Hein- 
rich IV.  mit  seltsamen  Namensverdrehungen  (oben 
S.  96),  gewagten  Zerrwendungen  heiliger  Worte  gefüllt, 
er  hat  in  einem  jener  eigentümlichen  Briefe,  durch 
die  er  Erzbischof  Adalbert  von  Bremen  anhalten  wollte, 
ja  treu  zum  jungen  Heinrich  zu  stehen,  einmal  ge- 
schrieben : 

'In  extremis  precibus  solemus  universaliter  dicere  "Ab 
omni  malo  libera  nos,  Domine".  Vos  autem  non  exclu- 
sistis,  quia  aliter  et  singulariter  et  seorsum  dicitis 

Ab  omni  bono  libera  nos,  Domine. 

Ab  arce  imperii,  libera  nos,  Domine. 

Ab  Apulia  et  Calabria,  libera  nos.  Domine. 

A  Benevento  et  Capua,  libera  nos.  Domine. 

A  Salerno  et  Malfia,  libera  nos,  Domine. 

A  Neapoli  et  Gerentia,  libera  nos.  Domine. 

A  felice  Sicilia,  libera  nos.  Domine. 

A  Corsica   et   Sardinia,  libera  nos.  Domine.' 


^)  Vgl.  die  Ausgabe  von  Theobald  Fisdier  (1870),  ferner  H.  v.  Grauert,  Magister  Heinridi 
der  Poet  S.  549- 


Tierbrief;  Satire  in  England  121 

Wenn  in  den  Monumenta  Germaniae  zur  stilistischen 
Erklärung  nur  an  das  Vaterunser  erinnert  wird,  führt 
das  irre.^)  Die  Abweichung  von  der  bekannten  letzten 
Bitte  des  Paternoster  'Sed  libera  nos  a  malo'  mahnt 
an  die  Parodierung  eines  anderen  Textes  zu  denken. 
Tatsächlich  hat  Benzo  die  Sterbelitanei  der  Commen- 
datic  animae'  nachgeahmt,  wo  es  noch  heute  heißt: 

'Propitius  esto,  libera  cum.  Domine 

Propitius  esto,  libera 

Ab  ira,  libera 

A  periculo  mortis,  libera 

A  poenis  inferi,  libera 

Ab  omni  malo,  libera 

A  potestate  diaboli,  libera'  usw. 

Eine  parodistische  Satire  kann  man  den  erfundenen 
Brief  der  Tiere  Apuliens^)  nennen.  In  schwül- 
stigem Kanzleistil,  unter  ironischer  Anführung  der  Bibel, 
erinnern  sie  an  den  zwischen  Kaiser  Friedrich  II.  und 
Papst  Innozenz  IV.  geschlossenen  Waffenstillstand,  war- 
nen vor  vertrauensseliger  Auffassung  der  Lage  und 
mahnen,  zu  der  großen  Beratung  wohlgerüstet  zu 
kommen.  Die  Beratung  ist  wahrscheinlich  das  Konzil 
von  Lyon,  das  1245  zusammentrat  und  später  im  'Pavo' 
unter  dem  Bilde  einer  Vögelversammlung  geschildert 
wurde.  ^) 

Weltlicher,  nationalpolitischer  als  in  Mitteleuropa  war 
die  Satire  auf  den  britischen  Inseln.  Im  Rin- 
gen um  die  Befestigung  und  Gestaltung  des  anglonorman- 
nischen  Reiches  ist  seit  dem  11. /12.  Jahrhundert  mit  dem 
frühen  Erwachen  des  Staatsgedankens,  der  frühen  und 
regen  Anteilnahme  weiter  Kreise  am  öffentlichen  Leben, 
dem  angelsächsischen  Sinn  für  Humor  und  Spott  die 
öffentliche  Kritik  und  Polemik  in  England  schnell  ge- 
reift.    Die    Geschichte    der   mittelalterlichen   Publizistik 


M  MG.  SS.  XI  623  sq. 

^)  Ich  schliefe  miÖi  der  geistvollen  Interpretation  bei  H.  v.  Grauert,  Magister  Heinridi 
der  Poet  S.  319  ff.  an. 

*)  Vgl.  die  neue  Abhandlung  von  Beatrix  Hirsch  in  den  Mitteilungen  des  österreidiischen 
Instituts  für  Geschichtsforschung   1921. 


122  Arthur  von  Bretagne 


—  die  ich  nicht  schreiben  will  —  muß  sich  besonders 
oft  mit  Schriftstücken  englischen  Ursprungs  befassen, 
und  manches  der  politischen  Pamphlete  war  eine  Pa- 
rodie. 

Das  fingierte  Privileg  ^)  'Arturus  rex  Britannorum  uni- 
versis  per  Britanniam  constitutis  caseum  bitirumque 
professis  —  —  Datum  corispici  per  manum  capalarii 
anno  C.  immortalitatis  regis  Arturii'  ist  wohl  eine  — 
die  Beliebtheit  der  Arthussage  sich  nebenbei  zunutze 
machende  —  Satire  zur  Verhöhnung  des  unglück- 
lichen Prätendenten  auf  den  englischen  Thron,  Ar- 
thurs von  Bretagne  und  seiner  Anhänger,  geschrie- 
ben, nachdem  König  Johann  Ohneland  den  jugendlichen 
Rivalen  1203  insgeheim  hatte  umbringen  lassen. 

Als  im  Mai  1286  Edward  I.  nach  Frankreich  zog,  den 
Earl  von  Pembroke  als  Regenten  zurücklassend,  da  be- 
drückten und  brandschatzten  seine  Beamten  England  so 
über  alle  Maßen,  daß  großes  Jammern  und  Wehklagen 
sich  erhob.  1289  kehrte  der  König  zurück  und  ging  nun 
scharf  gegen  die  ungetreuen  Richter  vor.  ^)' Die  Übel- 
stände und  das  Strafgericht  sind  von  einem  Zeitgenossen 
in  einer  Parodie^)  beschrieben  worden,  die  in  den  drei 
mir  bekannten  Handschriften  'Narratio  de  passione 
iusticiariorum',  'Passio  ministrorum  domini  Ed- 
wardi  regis  Anglie  secundum  opera  sua',  'Passio  iusti- 
ciariorum  Anglie  c.  IUI.  Sequencia  evangelii  secundum 
Bumbum'  betitelt  ist,  ganz  aus  Stellen  des  Alten  und 
Neuen  Testaments  gebildet  wird  und  mit  einem  Gedicht 
schließt. 

Effektvoller  noch  ist  die  Passio  Scotorum  per- 
iuratorum,  die  wahrscheinlich  im  Frühjähr  1307 
entstanden  ist  und  in  einer  Schottenchronik  der  Public 
library  of  Reigate  Church  Surrey  steht, ^)  wahrscheinlich 

1)  \'^gl.  Gh.  Ficrville  in  den  Lettres  de  rois,  reines  et  autres  personnages  de  cours  de 
France  et  d'Angleterre-  I  (Paris  1839)  p.  20  sq. 

-)  Vgl.  E.  Fo6,  Judges.  III  (1851)  p.  38  sq.;  Tout  bei  Hunt  and  Foole,  The  political  history 
of  England.  III  (1905) '^p.  172  sq.  Gedicht  über  die  Käuflidikeit  der  Richter  Edwards,  'Beati 
qui  esuriunt'  bei  Th.  Wright,  Political  songs,  p.  224  sqq. 

3)  Ausgabe  bei  Tout  and  Johnstone,  State  trials  of  the  reign  of  Edward  the  first, 
London  1906,  p.  95-99  auf  Grund  zweier  Codices.     Neuausgabe  im  Textanhang. 

*}  \'eröffentlidit  und  erklärt  vom  Marquess  of  Bute  in  den  Proceedings  of  the  Society 
of  antiquaries  of  Scotland.    New    Series.    VII    (Edinburgh  1885)    p.  166-192. 


Politische  Leidensgeschichten  123 

auch  durch  Matthaeus  von  Westminster  für  sein  Ge- 
schichtswerk benutzt  worden  ist.  Vorausgeht  mit  der 
parodistischen  Überschrift  'Lectio  actuum  Scotorum 
infra  librum  iudicum'  die  Parabel  von  den  Bäuinen,  die 
sich  einen  König  wählen,  aus  dem  Buch  der  Richter  IX 
8 — 15,  dann  folgt,  'Omelia'  überschrieben  mit  der  litur- 
gischen Eingangsformel  'In  illo  tempore',  die  'Leidens- 
geschichte'. Wiederum  hat  die  Bibel  aus  vielen  ihrer 
Bücher  die  meisten  Sätze  für  ein  politisches  Schmähen 
und  Frohlocken  liefern  müssen.  Wir  erfahren,  wie 
Robert  Bruce  zum  Könige  der  Schotten  erwählt  und 
gekrönt  wird,  wie  Edward  I.  1306  kommt,  das  Land 
erobert  und  seinen  Sieg  blutig  besiegelt.  Diabolisch  wird 
mit  den  Worten  der  Heiligen  Schrift  gearbeitet,  durch 
Zusätze  die  Schlagkraft  besonders  an  den  Stellen  ge- 
steigert, wo  mit  gräßlicher  Schadenfreude  und  Wollust 
die  Rache  geschildert  ist,  die  der  englische  König  an 
den  führenden  Anhängern  Roberts  genommen  hat.  Der 
Schluß  der  Erzählung  fehlt  leider. 

Die  parodistische  Passio,  durch  das  Geldevangelium 
längst  dem  Abendlande  vertraut,  ist  als  Triumphlied  an- 
scheinend um  1300  schriftstellerische  Mode  geworden, 
vielleicht  dank  dem  Einfluß  der  blühenden  satirischen 
Literatur  Englands. 

Als  am  11.  Juli  1302  das  französische  Heer  bei  Cour- 
trai  dem  Fußvolk  der  flandrischen  Städte  furchtbar  er- 
legen war,  da  wurden  die  Franzosen  obendrein  in  einer 
Passio  Francorum  secundum  Flemingos  ver- 
höhnt. Ein  englischer  Chronist,  Adam  von  Usk,  ist  es 
gewesen,  der  ein  Jahrhundert  später  diese  Evangelien- 
parodie im  Kloster  Eeckhout  bei  Brügge  gefunden  und 
sie  durch  Aufnahme  in  seine  Chronik  der  Nachwelt  er- 
halten hat.  In  der  modernen  Literatur  über  die  „Sporen- 
schlacht" wird  die  frei  nach  der  Bibel  zusammengestellte 
Passio  gewöhnlich  nicht  genannt.  Und  als  1904  E.  M. 
Thompson  »das  Chronicon  Adae  de  Usk  zum  zweiten 
Male  in  London  herausgab,  hat  er  den  parodistischen 
Text     zwar     lateinisch     wiedergegeben     (p.    107  — 110), 


124  Politisdie  Leidcnsgesdiiditen 


aber  aus  seiner  Übersetzimg  des  Gesamtwerkes  fort- 
gelassen. "The  mock  chronicle  is  so  offensively  pro- 
fane that  it  is  better  left  without  translation."  (Vgl. 
p.  288  und  XXXVII  sq.)  Auch  ich  verzichte  auf  eine 
Übersetzung.  Freilich  allein  deshalb,  weil  es  mir  besser 
zu  sein  scheint,  den  originalen  Wortlaut  einem  weiteren 
Gelehrtenkreise  zugänglich  zu  machen.  Wer  sich  an  der 
Profanierung  der  Bibel  stößt,  kann  das  Mittelalter  nicht 
verstehen  und  muß  zumal  englisch-französischen  Schrif- 
ten des  12.  bis  16.  Jahrhunderts  gegenüber  seine  Augen 
verschließen. 

1379  beleuchtete  ein  Pasquill,  das  sich  als  Schrei- 
ben der  Habsucht  an  alle  weltlichen  und  geist- 
lichen Fürsten  der  Erde  ausgab,  die  an  König  Wenzels 
Hofe  in  Prag  herrschende  Korruption,  die  Parodie  eines 
kaiserlichen  Mandats.^)  Die  Satire  bleibt  dort  verhältnis- 
mäßig zahm.  Doch  konnten  die  Böhmen  auch  anders. 
Der  Leidensgeschichte  der  schottischen  Verschwörer 
ähnlich  durch  eine  Brutalität,  die  selbst  den  antisemi- 
tischsten modernen  Christen  verletzen  muß  oder  müßte, 
ist  die  Passio  Judaeorum  Pragensium  secun- 
dum  Johann em  rusticum  quadratum.  Diese 
Parodie^)  erzählt  —  im  wesentlichen  offenbar  historisch 
getreu  —  die  maßlose  Judenhetze  von  Ostern  1389,  bei 
der  das  Prager  Ghetto  zerstört  und  die  Judenschaft  zum 
größten  Teil  von  den  erregten  Pöbelmassen  nieder- 
gemacht wurde.  Die  Veranlassung  zu  den  rohen  Aus- 
schreitungen war  eine  angebliche  Schändung  der  Hostie 
durch  Judenkinder  gewesen.  Zum  Vorbild  hat  sich  der 
christliche  Pamphletist  das  Leiden  Christi  bei  den 
Evangelisten  genommen.  Wenn  K.  Burdach ^)  von  einer 
Parodie  des  Johanneischen  Passionsberichtes  redet,  so 
kann  das  leicht  mißverstanden  werden.    Es  heißt  zwar 

')  Her.  von  G.  Sommerfeldt  in  den  Mitteilungen  des  Vereins  für  Gesdiidite  der 
Deutsdien  in  Böhmen.  XL VII  (1909)  S.  219  ff. 

'^)  Sdion  F.  M.  Pelzel,  Lebensgesdiidbte  des  römisdien  und  böhmisdien  Königs  Wenzeslaus. 
I  (Prag  1788)  S.  214  ff.  hat  sie  benutzt,  herausgegeben  aber,  aus  zwei  Präger  Handschriften, 
erst  V.  V.  Tomek  in  den  Sitz.sBer.  der  Kgl-  Böhmisdien  Gesellschaft  der  Wissenschaften  in 
Prag.  Jahrg.  1877,  S.  11  ff.  Die  Bemerkungen  in  tscheciiisciier  Sprache  hat  mir  im  Frühjahr 
1920  Herr  Prof.  E.  Berneker  (Mündien)  gütigst  übersetzt. 

^)  Sitzungsber.  der  Preuß.  Akademie  der  Wiss.  zu  Berlin.  1920  S.  313  f. 


Politische  Leidensgeschichten  125 

im  Titel  'iiacli  Johannes',  und  mehrfacli  sind  Johannes- 
worte übernommen  oder  nachgeahmt.  Jedoch  ist  nicht 
die  Erzählung  eines  Evangelisten  parodiert,  sondern 
neben  Johannes  haben  auch  Matthäus,  Markus  und 
Lukas  vieles  hergegeben,  und  zwar  Matthäus  sehr  viel 
mehr  als  Johannes.  Der  von  Burdach  versprochenen 
Darlegung,  daß  die  Passio  Judaeorum  Pragensium  auf 
den  Piers  Plowman  zurückweise,  sehen  wir  mit  Inter- 
esse entgegen.  Man  beachte  bereits  jetzt,  daß  mit  der 
lateinischen  Passio  dem  englischen  Peter  dem  Pflüger 
und  dem  Ackermann  aus  Böhmen  sich  der  böhmische 
Johannes  rusticus  quadratus  anreiht.  'Quadrati'  werden 
die  'Rustici'  auch  in  einem  die  Eignung  der  einzelnen 
Stände  für  die  Liebe  behandelnden  spätmittelalterlichen 
Gedichte^)  wohl  böhmischen  Ursprungs  'Filia,  si  vox  tua 
vellem  te  laudare'  genannt,  v.  30  ff.: 

'Rustici  quadrati 

semper  sunt  irati 

et  eorum  corda 

et  eorum  corda 

nunquam  letabunda.' 
Der  Ausdruck   erscheint  ferner  in  der  unten   zu  be- 
handelnden  Lectio    Danielis   prophetae   'Fratres  ex  ni- 
hilo  vobis  timendum  est'. 

Eine  in  der  Prager  Universitätsbibliothek  erhaltene 
'Passio  raptorum  de  Slapenicz  secundum 
Barthoss  tortorem  Brunensem'  benutzt  die 
Bibelkenntnis,  um  in  Form  einer  Perikope  die  Aus- 
rottung polnischer  Räuber  durch  die  Bürger  von  Brunn 
mit  Unterstützung  des  Markgrafen  Jobst  von  Mähren 
in  lebhaftem  Tone  zu  erzählen.  2) 

Die  Jahrzehnte  um  1400  sind  für  Böhmen  und  Mähren 
eine  Zeit  politischer  und  sozialer,  geistiger  und  religiöser 
Zerrissenheit  und  Gärung,  eine  Zeit  der  Rüstung  und 
des    Kampfes,    in    der    Satire,    Parodie,    Pamphlet    not- 

')  Vgl.  Fcifalik  irt  den  Sitz.oBer.  d.  Kaiserl.  Akademie  d.  Wiss.  Philos.«hist.  Kl.  XXXVI 
(Wien  1861)  S.  169- 

-)  Der  Text  mir  aus  dem  Berliner  Exemplar  der  Sbomik  historicky  III  (1885)  p.  245  sqq. 
von  Herrn  Dr.  F.  Schillmann  kopiert. 


126  Antihussitisdie  Messe 


wendige  Hilfen  und  Ausdrucksmittel  waren.  Ohne  damit 
alles  erklären  zu  wollen,  müssen  und  dürfen  wir  an 
die  Feuerwellen  erinnern,  die  von  der  Universität  Ox- 
ford nach  Prag,  vom  englischen  zum  böhmischen  Gei- 
stes- und  Gemütsleben  gingen.  Mit  den  Büchern  John 
Wiclifs  wurde  der  lange  vorbereitete,  hier  und  da 
schwälende  und  flackernde  Brand  zu  hellem  Auflodern 
gebracht. 

Aus  der  reichen  Kampf-  und  Spottliteratur 
der  Hussitenwirren  kommt  für  unsere  Studie 
eine  umfangreiche,  raffinierte  Meßparodie  in  Be- 
tracht. Schon  1413  gedenkt  Johann  Hus  selbst  ihrer  :^) 
'Forte  meminit  iste  fictor'  —  Stephan  Paletsch,  der  aus 
einem  Freunde  ein  heftiger  Gegner  geworden  war  — 
'missae  quam  Teutonici  blaspheme  confixerant.  In  qua 
per  modum  libri  generationis  primo  ponitur  Stanislaus 
qui  genuit  Petrum  de  Znoyma  et  Petrus  de  Znoyma 
genuit  Paletz  et  Paletz  genuit  Hus.  Ecce  istius  mendacii 
blasphemi  fictor  quidamista  haerens  vestigio  dicit,  "extra 
regnum  Bohemiae  exeant  quidamistae  et  absque  dubio 
cos  propriis  nominibus  designabunt,  quia  Stanislaus 
primum,  Petrus  Znoyma  secundum,  Paletz  tertium  et 
Hus  quartum."  Sed  dicit  fictor,  quod  iam  ipsi  tres  Sta- 
nislaus, Petrus  et  Paletz  abierunt  retro  et  per  conse- 
quens  debent  deleri  de  illa  compilatione  blasphema.' 
Man  hatte  es  demnach  mit  einer  von  Deutschen  ver- 
faßten Messe  zur  Verspottung  der  böhmischen  Anhänger 
Wiclifs  zu  tun,  die  neben  anderem  den  Anfang  des 
Matthäusevangeliums  parodierte.  Während  C.  Höfler  sie 
noch  vergeblich  gesucht  hatte,  haben  Job.  Loserth^) 
und  A.  Franz^)  Texte  entdeckt,  die  uns  zeigen,'  wie  die 
Parodie  aussah.  Freilich  ist  die  Messe  der  Deutschen, 
die  Hus  zitierte,  weder  mit  der  des  Wiener  Codex  bei 
Loserth  vollkommen  identisch,  obwohl  dieser  Gelehrte*) 

')  Vgl.  Historia  et  monumenta  Johannis  Hus  atque  Hieronymi  Pragcnsis  etc.,  Nürnberg 
1558,  tom.  I  fol.  CCLV  v  oder  1715  tom.  I  318  sq. 

2)  Hus  und  Wiclif,  Prag  und  Leipzig  1884,  S.  299  ff. 

^)  Die  Messe  im  deutschen  Mittelalter,  Freiburg  1902,  S.  759  ff. 

'')  Archiv  für  österreichische  Geschidite.  LXXV  (1889)  S.  330. 


Antihussitisdie  Messe  127 


SO  verstanden  werden  könnte,  noch  mit  jener  des 
Hohenfurter  Manuskriptes  bei  Franz,  noch  mit  der  des 
von  mir  als  erstem^)  herangezogenen  Codex  Ottobonia- 
nus.  Alle  drei  Handschriften  bieten  Bearbeitungen,  die 
nach  dem  6.  Juli  1415  entstanden  sind,  da  sie  bereits 
des  Feuertodes  von  Hus  gedenken,  wahrscheinlich  aber 
noch  vor  dem  30.  Mai  1416,  da  der  erwähnte  Hierony- 
mus  von  Prag  beim  Ursprünge  der  Texte  seinem 
Freunde  noch  nicht  auf  den  Scheiterhaufen  gefolgt  war. 
Die  Hohenfurter  Fassung  braucht  nicht  jünger  zu  sein. 
A.  Franz  wies  sie  der  Mitte  des  15.  Jahrhunderts  zu, 
da  Rokyzana  wiederholt  vorkäme.  Sah  er  darin  Jo- 
hann von  Rokyzana,  konnte  man  sich  die  Redaktion 
schon  in  den  zwanziger  Jahren  vorgenommen  denken; 
seit  1422  war  Johann  ein  Führer  der  Hussiten.  Meines 
Erachtens  ist  aber  Simon  von  R.  gemeint,  den  bereits 
ein  Dekret  des  Konstanzer  Konzils  unter  den  'princi- 
pales  haeresiarchae  ac  inductores  illius.sectae'  nennt.  ^) 

In  manchem  haben  die  Bearbeitungen  3)  —  für  die  am 
wichtigsten  die  Wiener  und  die  römische  Überlieferung 
ist  —  wohl  dieselben  oder  ähnliche  Bestandteile  wie  das 
heute  verschollene  Pamphlet  der  Deutschen,  gegen  das 
Hus  sich  wandte.  Außer  der  Genealogie  der  Wiclifiten 
dürfte  die  Urfassung  bereits  in  der  Prosa  '011a  mortis 
ebuliit'  und  im  'Liber  generacionis  maledicciionis'  die 
Erwähnung  der  drei  Nationen  und  die  Anspielung  auf 
deren  Auswanderung  von  der  Universität  Prag  im 
Jahre  1409  enthalten  haben.  Damit  ist  die  vordere  Zeit- 
grenze für  die  1413  bereits  vorliegende  Meßparodie  er- 
reicht. 

Halten  wir  uns  an  die  geretteten  Texte,  so  sehen  wir 
deutlich,  daß  die  Messe  eine  scharfe  und  wohlgelungene 
Verhöhnung  der  Hussiten  ist.  Sie  „feiert",  nachdem 
der  Introitus  gemäß  dem  'Commune  unius  martyris  non 

')  Vor  mir  erwähnten  bereits  Montfaucon,  Bibliotheca  bibliothecarum.  I  17  und  Novati, 
La  parodia  sacra  p.  195  sq.  die  Handschrift,  Novati  mißverständlich  als  Reginensis.  Sie 
stammt  allerdings  aws  dem  Fonds  der  Reginenses,  ist  aber  jetzt  Ottobonianus  lat.  2087, 
was  mein  treuer  Helfer  Herr  P.  Dr.  F.  Feister,  S.  j.  feststellte. 

'^)  Fontes  rerum  Äustriacarum.  1.  Abteil.  Bd.  VI  241. 

^)  Abdrudc  im  Textanhang. 


128  Antihussitisdie  Messe 


pontificis'  angedeutet  hat,  daß  Wiclifs  Leiche,  im  Früh- 
jahr 1415,  ausgegraben  und  verbrannt  worden  ist,  Jo- 
hann Hus,  der  würdig  befunden  ward  seines  englischen 
Meisters  Elire  und  Andenken  bis  zum  eigenen  Feuer- 
tode zu  verteidigen,  „feiert"  weiterhin  Hussens  An- 
hänger, die  Tag  und  Nacht  dem  Teufel  dienen.  Der 
Parodist  führt  die  Verzerrung  der  heiligen  Messe  bis 
ins  einzelne  genau  nach  dem  kirchlichen  Gebrauch, 
ohne  eine  bestimmte  Messe  zu  imitieren,  vom  Anfang 
bis  zum  Tte,  missa  est'  durch.  Nur  einem  gründlichen 
Kenner  des  katholischen  Gottesdienstes  und  der  bibli- 
schen wie  der  wiclifitisch  -  hussitischen  Lehren  und 
Bücher  konnte  eine  solche  Parodie  gelingen,  wo  unter 
dem  falschen  Schein  der  Liturgie  in  Introitus,  Epistel, 
Graduale,  Prosa,  Evangelium,  Credo  und  Predigt,  im 
Offertorium,  Sanctus  und  Agnus  bis  zur  Gomplet  und 
dem  feierlichen  'Gehet  hin'  die  hussitischen  Gegner  be- 
schimpft, verlacht,  verflucht  werden.  Manches  versteht 
man  heute  nicht  mehr  oder  nur  schwer  nach  müh- 
samem Suchen.  Z.  B.  ist  als  Leitspruch  des  Sermons 
ein  Wort  'Sequitur  patrem  sua  proles'  genommen,  das 
mich  lange  beschäftigt  hat,  bis  ich  es  mitten  in  einer 
Vorlesung,  die  ich  über  lateinische  Literatur  des  Mittel- 
alters hielt,  in  der  den  Gelehrten  und  Studierenden 
des  15.  Jahrhunderts  vertrauten  Ecloga  Theoduli  vor 
mir  sah.  Fernerhin  stecken  in  dieser  Predigt  außer 
kräftigem  Hohn  auf  V^iclifs  Erörterungen  der  Drei- 
faltigkeit noch  Anspielungen,  die  mir  bisher  unklar  ge- 
blieben sind.  Doch  fühlt  man  auch  so  schon  überall, 
daß  da  mit  grandioser  Perfidie  gearbeitet  ist,  mag  nun 
die  hussitische  Genealogie  oder  das  Glaubensbekenntnis 
an  Wiclif,  den  Fürsten  der  Unterwelt,  Böhmens  Patron, 
und  an  Hus,  seinen  eingeborenen  Sohn/)  unsern  Schur- 
ken, der  empfangen  ist  aus  dem  Geiste  Luzifers  usw.,  ! 
oder  sonst  etwas  vorgetragen  werden. 

Der   Verfasser   ist   sicher   ein   gutgläubiger   deutscher 

^)  So  nannte  audi  der  Karthäuserprior  Stephan  von  Dolein  Hus  ironisdi-  Vgl.  Loserth, 
Hus  und  Wiclif  S.  85. 


Passio  sacerdotum  129 


Katholik  gewesen  und  hat  unter  den  deutschen  An- 
hängern Roms  seine  Fortsetzer  und  Leser  gehabt. 
Keiner  von  ihnen  wird  in  seinem  Fanatismus  Anstoß 
daran  genommen  haben,  daß  eine  solche  Parodie  er- 
denken, billigen,  vervielfältigen  im  Grunde  doch  die  hei- 
lige Messe  entwürdigen  heißt.  Mit  welcher  Wut  werden 
die  Hussiten  diese  und  andere  Pamphlete,  z.  B.  das  gegen 
sie  gerichtete  deutsche  Vaterunser,  gelesen  haben!  Eine 
berechtigte  Wut;  denn  ihnen  waren  Wiclif  und  Hus 
wirklich  Personen  nationaler  und  religiöser  Verehrung. 
Ihren  Hus  haben  die  Böhmen  frühzeitig  als  National- 
heros und  heiligen  Märtyrer  offiziell  in  ihren  Kirchen 
gefeiert. 

Im  Zeitalter  des  Hussitentums  und  der  großen  Kon- 
zile sind  die  satirischen  Parodien  in  lateinischer  Sprache 
noch  einmal  schneidende  Waffen  der  großen  Öffentlich- 
keit gewesen.  Gelehrte  haben  damals  das  alte  Gegen- 
evangelium, die  Teufelsbriefe,  1)  die  antikurialen  Spott- 
gedichte wieder  hervorgezerrt,  neue  Pamphlete  verfaßt; 
Gelehrte  haben  sie  gelesen  und  angehört.  Aber  ^er  Kreis 
der  Gelehrten  war  groß;  denn  Tausende  strömten  nach 
Konstanz  und  Basel  hin.  Tausende  in  allen  Gebieten  des 
Abendlandes  horchten  damals  gespannt  auf  den  Lärm 
der  geistigen  Waffen,  die  in  den  Konzilstädten  wie  in 
und  um  Böhmen  aufeinanderschlugen. 

Was  nachher  im  15.  Jahrhundert  entstand,  ist  von 
begrenzter  Wirkung  gewesen  oder  ist  nicht  mehr  latei- 
nisch abgefaßt  worden,  wie  ja  schon  lange  zuvor  neben 
den  lateinischen  Satiren  deutsche,  tschechische,  franzö- 
sische,  englische,   italienische   usw.   aufgetaucht  waren. 

Eine  ziemlich  große  Verbreitung  hat  noch  die  Pas- 
sio dominorum  sacerdotum  gefunden.  Sie  er- 
schien, als  Kurfürst  Albrecht  Achilles,  Markgraf  von 
Ansbach  und  Bayreuth,  1480/81  seinen  Anteil  an  der  vom 
Reichstag  in  Nürnberg  bewilligten  Umwandlung  der  Stel- 
lung von  Truppen  in  eine  Geldabgabe  durch  eine  Be- 

')  Audi  den  Hussiten  wurde  das  alte  Sendsdireiben  Lucifers  zugesdirieben,  so  im  Codex 
Bern  434. 

Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  9 


130  Passio  sacerdotum 


Steuerung  der  Geistlichen  seiner  Lande  aufzubringen 
versuchte.  Der  Klerus,  auf  den  schon  die  Bischöfe  von 
Würzburg  und  Bamberg  die  Last  ihrer  Quoten  abwälzen 
wollten,  wehrte  und  sträubte  sich  lebhaft  gegen  die 
„Pfaffensteuer".  Aber  Albrecht  Achilles  ging  mit  Gewalt 
vor.  Und  in  dieser  Zeit  der  Bedrängung  und  des  Sich- 
aufbäumens  entstand  auf  seilen  der  Geistlichen  die 
Passio,  die  hauptsächlich  wohl  bei  den  anderen  Reichs- 
ständen Stimmung  gegen  den  Kurfürsten  machen  sollte. 

'Gantz  lesterlich,  smelig  und  hässig  auf  Matthei  Pas- 
sionsbeschreibung bezogen,  auf  Schutz  des  teuflischen 
Mammons  wider  der  obrigkeit  gehorsam  und  christliche 
lieb  für  vermeinte  pfaffenfreiheit  lautend'  erzählte  sie, 
wie  der  Markgraf  und  seine  Beamten  den  Steuerverwei- 
gern zusetzten.  Viele  historische  Einzelheiten  werden 
unter  möglichst  häufiger  Benutzung  der  Bibel  drama- 
tisch geschildert.  Die  Leidensgeschichte  sehen  wir 
hauptsächlich  gegen  Schluß  parodiert.  Gekreuzigt  ist  die 
Priesterschaft  des  Markgrafen;  er  selbst  aber  ist  ein 
Sohn  des  Teufels,  ein  Vorläufer  des  Antichristus,  ein 
neuer  Pharao,  Sanherib,  Eglon,  Herodes  und  wie  die 
größten  Übeltäter  bis  zu  dem  Staufenkaiser  Friedrich  IL 
alle  heißen.  In  die  Passio  werden  die  Prophezeiungen 
vom  nahen  Untergange  der  Welt  gemischt,  Methodius 
und  Vinzenz  Ferrer  als  Zeugen  angeführt.  Man  höre, 
wie  es  da  lautet: 

'Und  do  die  pristerschaft  war  in  trübsal  vor  engsten, 
ist  sie  mit  durst  gepeinigt  worden  ;zu  Kulmpach;  dan  der 
wein  was  pitter  und  das  pier  was  antzigig  und  essigett, 
das  man  in  fürsetzt,  und  sie  wollten  sein  nit  trincken 
und  haben  gesagt,  es  sein  alle  ding  volbracht  und  haben 
gepeet  "Vater,  vergibs  in,  dan  sie  wissen  nit  was  sie 
tliunl"  Nun  als  Volck  ist  gestanden  und  hat  gewart  des 
ents.  Es  was  geschriben  ain  uberschrifft  zu  teutzsch 
"Der  pristerschafft  unter  der  herschafft  des  marggraven 
ist  widerspennig  dem  kurfürsten  des  römischen  reichs. 
Dorumb  wirt  sie  beraubt  und  vertriben." 

Es  was  nahent  in  dem  sibende  altter  und  es  sein  fin- 


Passio  saccrdotum  131 


sternis  der  unwissenhait  worden  in  dem  gantzen  land 
des  marggraffen.  Der  schein  der  sunnen  des  rechtten 
glaubens  ist  finster  worden  und  der  fürhanck  des  tem- 
pels  ist  zerissen  worden  und  zertrümmert  in  der  mitten, 
und  die  pristerschaft  hat  geschrien  mit  lautter  stymm 
"Vatter,  in  dein  hend  bephelen  wir  unnser  gutt  leib  und 
seel".  Do  die  das  gerett  haben,  sein  sie  ausgetriben  wor- 
den, und  alles  volck  das  do  gegenwertig  was  bey,  dem 
geschieht  und  sahen  die  ding  die  do  geschahen,  klopften 
an  ir  prust  und  kerent  wider  haim.  Es  stunden  all  ge- 
poren  freund  und  güner  der  priester  in  den  andern 
landen  des  marggrafen  die  do  gegenwertig  warden  bey 
dem  specktackel  und  sahen  das  geschieht,  die  schrien 
mit  der  stym  centurionis  und  sprachen  "Fürwar  ain  sun 
des  teuffels  und  ain  vorläuffer  des  anticrist  ist  der  fürst" 
und  legentten  aus  die  figur  der  schrifft  von  im  und  spra- 
chen "Das  ist  der  ander  Pharo  der  do  vervolgtt  das 
volck  gotz  und  mit  seinem  beer  ertrenckt  ward  in  der 
tyffe  des  meers.  Das  ist  der  ander  Sennacherib  der  do 
got  lestert,  des  beer  hundert  und  achytz  tausend  der 
enget  erschlug  dorumb  er  von  seinem  aygen  sun  der- 
schlagen  ward.  Das  ist  der  ander  Eglon  der  allfayste, 
der  do  zyns  hat  gelegt  uff  das  volck  gottes  uf  die  Juden, 
von  Aman  mit  ainem  legen  erstochen.  Das  ist  der  ander 
kirchenprüchel  Antiochus  der  mit  der  kranckheit  ge- 
plagt ward,  das  im  die  därmm  ussgingen  und  die  würmm 
in  verzerten.  Das  ist  der  ander  Nero  der  do  die  starcken 
seul  der  kirchen  die  balligen  merteerer  krönet,  der  ist 
unsinig  worden,  das  er  sich  mit  aigener  hant  hat  getött. 
Das  ist  der  ander  Dyocletianus  uss  finsterm  stammen 
geporen,  der  grewlichst  durchaichtter  der  kirchen,  den 
der  teuffei  hat  angenommen  und  ersteckt.  Das  ist  der 
ander  Julianus  abtrünnig  vom  glauben,  der  von  dem 
haiigen  merter  Mercurio  mit  dem  schwert  durchrant 
wart.  Das  ist  der  ander  Leo  der  tritt,  der  die  pild  der 
heiigen  hat  ^eprent  die  prister  hat  umbgetriben,  dorumb 
er  mit  streiten,  pestilentz  und  anderm  unglück  gepeinigt 
ist  worden.    Das  ist  der  ander  Leo  der  viert,  den  die 

9* 


132  Passio  saccrdotum 


geittikeit  überwant  das  er  ain  krön  auss  der  kirchen 
nam  und  setzt  die  uff  sein  haupt,  aber  von  stund  an  ist 
er  mit  dem  fiber  geplagt  worden  und  hat  den  gaist  uff- 
geben.  Das  ist  der  ander  Henrich  der  trit  des  namens 
gar  ain  ungerugs  mensch  der  do  peinigt  die  kirchen, 
dorumb  er  auch  erpermmlichen  todes  in  gefencknis 
seines  suns  das  leben  hat  geendet  und  tot  ist.  Das  ist 
der  ander  Fridrich  secundus  der  angefangen  hat  die 
kirchen  zu  drennen,  dorumb  er  gespannt  wurd  und  in 
sein  widerspenung  on  die  sacrament  von  sainem  aigen 
sun  er  st  eckt  wurd." 

Nun  uff  den  andern  tag  nach  ostern  sein  zusammen 
kummen  die  größern  amptleut  des  fürsten  und  haben 
zu  im  gesagt  "Herr,  wir  haben  bedacht,  das  die  ver- 
fürer,  dieweil  sie  noch  uff  iren  pfründen  saßen,  haben 
gesagt,  sie  wollen  über  ettlich  tag  wider  zu  iren  pfreun- 
den  kummen  und  die  besitzen.  Schaff  das  man  das 
verküm,  das  sie  nit  aber  herschen  über  uns  und  werd, 
der  letzt  irsal  pöser  dan  der  erst".  "Ja",  antwurt  der 
fürst,  "habt  hutt  und  get  hynn  und  hütt  wie  ir  wist." 
Und  belegten  mit  hüttern  die  tür  gezaichnet. 

Und  do  es  nun  spot  wurd  und  war,  do  kam  ain  man 
mit  namme  Methodius  pischoff  ain  bewertter  lerer  der 
kirchen,  der  umb  cristenlichs  glaubens  willen  gekerckert 
war  und  durch  die  engelischen  Offenbarung  ain  puch 
geschrieben  hat  von  aller  quäl  der  kirchen.  Der  redt 
also:  'In  den  letztten  sibentausentten  jaren  der  weit 
Wirt  aussgeen  der  samen  Ismael  von  dem  verlassen 
wüsten  geschlecht  und  wirt  in  zukunfft  sein  on  all 
parmhertzigkait  und  wirt  got  der  herr  geben  in  iren 
gewalt  alle  zeug  der  völcker  —  —  — .*  Es  i^t  auch 
kummen  Vincencius  und  hat  tragen  ain  mixtur  uss  den 
Sprüchen  der  lerer  gesamt  die  er  gemüscht  hat  in  sei- 
nem püchlein  von  dem  Ende  der  weit,  von  der  anderen 
durchechttung  der  kirchen  durch  gehaim  fürsten  die 
vor  sein  gewest  schirmer  der  kirchen,  ytzund  wüster 
ettlich  zeit  werend.  Aber  darnach  so  wirt  die  kirch 
viel  zeit  in  dem  allersichersten  frid  seyn,  welchen  frid 


Passio  sacerdotum  133 


got  der  her  geh  der  kirchen  seiner  spons  von  ewigket 
ymer  ewiglich  gesegent  und  gelobt.  Amen.  Ex  cancel- 
laria  nemonis.* 

Die  deutsche  Übersetzung/)  der  obiges  Stück  ent- 
nommen ist,  hat  vielleicht  den  Heilsbronner  Zister- 
zienser Johann  Seyler  zum  Autor.  Sie  ist  sehr  bald 
nach  dem  lateinischen  Urtext  ^)  angefertigt,  der  als 
'Passio  dominorum  sacerdotum  sub  dominio  marchionis 
secundum  Mattheum'  mit  den  Worten  'In  illo  tempore 
dixit  princeps  consulibus  et  ministris  suis'  beginnt  und 
handschriftlich  z.  B.  in  Bamberg,  Hannover,  Melk 
und  Quedlinburg  überliefert  ist.  Einen  zweiten  Wort- 
laut 'Passio  dominorum  sacerdotum  sub  principatu 
marchionis  secundum  Mathiam.  In  illo  tempore  con- 
siliariis  suis'  ist  eine,  nach  meinen  bisherigen  Ermitte- 
lungen seltenere  Abschwächung  des  ursprünglichen 
Wortlautes.  3)  Die  dritte  Passio*}  ist  eine  Gegenschrift 
gegen  die  beiden  ersten  und  zugunsten  des  Markgrafen 
abgefaßt.  Sie  rührt  von  dem  Heilsbronner  Mönch 
Dr.  Johann  Seyler^)  her,  scheint  zuerst  lateinisch  kon- 
zipiert, aber  sogleich  für  den  Fürsten  ins  Deutsche 
übertragen  zu  sein,  das  ist^)  'Die  Passion  unseres  Herrn 
M&rggraven  unter  dem  Fürsten  den  Priester  Annas  und 
Caiphas  secundum  Johannem'.  „Sie  zeigt  nicht  weniger 
Witz  und  ist  mit  mehr  Scharfsinn  als  die  erstere  aus- 
gestattet, hat  aber,  scheint  es,  ihren  Eindruck  dadurch 
verfehlt,  daß  sie  den  Markgrafen  als  Christum  auftreten 
läßt,  ein  Kontrast,  der  wohl  nicht  geeignet  war,  günstig 
zu  wirken."  Alle  drei  nennen  sich  Erzeugnisse  der  Kanz- 
lei „Niemands",  einer  Person,  der  wir  im  zweiten  Haupt- 
teil als  einem  „Heiligen"  begegnen  werden.    In  den  Ver- 

M  Im  Ardiiv  für  Gesdiidite  und  Altertumskunde  von  Oberfranken  X  (1866)  S.  36-53 
nicht  sehr  gut  herausgegeben. 

^)  Vgl.  Lorenz  Kraussold,  Dr.  Theodoridi  Morung,  der  Vorbote  der  Reformation  in 
Franken.  I.  Teil  (Erlangen  1877)  S.  V  und  41-49  nach  dem  Plassenburger  Text  in  Bamberg 
ohne  Kenntnis  der  sonstigen  Überlieferung. 

')  Kraussold,  a.  a.  Q.  S.  49-58  und  S.  V  f. 

*)  Kraussold  S.  «9-96  und  S.  VI,  31  f. 

^)  Studierte  in  Heidelberg  und  Wien,  starb  1502.     Von   ihm  wurden  geschrieben  bzw. 
erworben  die  Heilsbronner  Handschriften  Erlangen  438,  481,  669,  713,  850,  1975  1. 
«)  Kraussold  S.  89-96  imd  VI. 


134  Passio  sacerdotum 


dacht  der  Urheberschaft  des  ältesten  Pasquills  kam  bei 
A] brecht  Achilles  der  Kanonikus  von  Bamberg,  Eich- 
stätt,  Freising  und  Würzburg,  Dr.  Dietrich  Morung.  Ob- 
wohl er  leugnete,  wurde  er  von  den  Markgräflichen 
verfolgt  und,  nachdem  er  heftig  Kritik  an  den  Zustän- 
den des  päpstlichen  Hofes  und  am  Ablaßwesen  in 
Deutschland  geübt  und  der  Legat  Raimund  Peraudi 
seine  Auslieferung  vom  Nürnberger  Rat  verlangt  hatte, 
1489  vom  Markgrafen  Friedrich  gefangen  genommen  und 
trotz  der  Vermittlung  König  Maximilians  erst  1498  aus 
der  Haft  entlassen.  Wieweit  er  an  der  alten  Streitschrift 
wirklich  Anteil  gehabt  hat,  ließ  sich  noch  nicht  ganz 
sicher  feststellen.  ^)  Der  markgräflichen  Partei  war  die 
Passio  nicht  zuletzt  deshalb  unangenehm,  weil  sie  so- 
fort sogar  gedruckt  verbreitet  wurde,  wie  der  Zeitgenosse 
Seyler  meinte,  von  Ingolstadt  aus.  Im  19.  Jahrhundert 
hat  man  die  gedruckte  Flugschrift  vielfach  vergeblich 
gesucht;  so  konnte  Kraussold  sie  nicht  auftreiben,  und 
selbst  in  den  großen  bibliographischen  Repertorien  von 
Hain  und  Copinger  fehlt  die  Inkunabel.  Aber  sie  exi- 
stiert, z.  B.  in  der  Staatsbibliothek  zu  München,  und  ist 
1906  von  Dietrich  Reichling  beschrieben  worden.  2)  Das 
dünne,  nur  sechs  Blätter  umfassende  Heft,  ohne  Name, 
Ort  und  Jahr  des  Druckers  und  Druckes,  vielleicht  von 
Martin  Flach  in  Straßburg  1482  schnell  und  fehlerhaft 
hergestellt,  leitet  zu  einer  neuen  Zeit  der  Parodie  hin- 
über, zu  einer  Zeit,  wo  Gutenbergs  Kunst  die  Pamphlete 
von  Ort  zu  Ort  flattern  ließ. 

Ich  bescheide  mich,  beim  Ende  des  Mittelalters  halt- 
zumachen, ohne  zu  vergessen  und  zu  verschweigen, 
daß  die  mittelalterlichen  Formen  der  lateinischen  Pa- 
rodie noch  lange  nachwirkten.  Von  den  Parodien  vor 
1522  lasse  ich  auch  die  der  Renaissance  aus  unserer  Be- 

*)  Vgl.  außer  Kraussolds  Budi  Joh.  Schneider,  Die  kirdilidie  und  politische  Wirksamkeit 
des  Legaten  Raimund  Peraudi,  Halle  1881,  S-  16  ff.;  Dr.  Theodorich  Morungs  Gefangen» 
nähme  und  Freilassung:  Ärdiiv  für  Geschichte  und  Altertumskunde  von  Oberfranken. 
XVII  (1888)  S.  5  ff.;  Willy  Böhm,  Die  Pfaffensteuer  von  1480/81  in  den  fränkischen  Ge« 
bieten  des  Markgrafen  Albrecht  Achilles.  Ein  kirchenpolitischer  Konflikt,  Berlin  1882 
(Programm  der  Sophienschule  in  Berlin). 

^)  Appendiccs  ad  Hainii»Copingeri  repertorium  bibliographicum.  fasc.  II  (München  1906) 
p.  77. 


Rüdcblidc  und  Ausbilde  135 


tröclitung  fort;  ihre  Formen  und  ihr  Geist  sind  nur  zu 
einem  Teile  mittelalterlicli. 

Der  Kampf  gegen  die  Kurie  hat  die  Parodien  im 
Mittelalter  zu  wirksamen  Waffen  gemacht.  Jahr- 
hundertelang hat  man  sich  dieser  Schwerter,  Pfeile  und 
Nadeln  bedient,  die  alten  wieder  hervorziehend,  neue 
oft  schmiedend  und  spitzend;  Päpste  und  Kardinäle,  der 
ganze,  riesig  angewachsene  Beamtenhaufen  Roms  haben 
sie  zu  fühlen  bekommen  und  mit  ihnen,  nach  ihnen 
die  hohe  und  niedere  Geistlichkeit,  das  Ordenswesen, 
in  dem  manche  ein  Unwesen  sehen  mußten,  ja  die  ge- 
samte Christenheit  bis  zu  den  verachteten  Bauern  Jiinab. 
Die  Verfasser  und  Abschreiber  der  satirischen  Paro- 
dien waren  zugleich  derbe  Spaßmacher,  und  es  kam 
ihnen  nicht  immer  darauf  an,  bestimmte  Personen  zu 
treffen,  nicht  immer  sie  geistig  totzuschlagen.  So  hat 
mancher  mittelalterliche  Mensch,  der  zu  den  Betroffenen 
gehörte  oder  ihnen  treu  war,  die  Parodien  als  lustige 
Sticheleien  hingenommen  und  mitgelacht.  Aber  letzten 
Endes  hat  die  Verspottung  doch  zermürbönd,  zersetzend 
in  Kirche  und  Gesellschaft  gewirkt.  Die  Parodien  haben 
die  kirchlichen  und  sozialen  Umwälzungen  der  Neuzeit 
vorbereiten  helfen. 


1 36  Narrenfeste 


IL  DIE  HEITERE,  ERHEITERNDE, 
UNTERHALTENDE  PARODIE 

Daß  hier  den  bissigen  und  grimmigen  die  heiteren 
Parodien,  den  satirischen,  tendenziösen  die  humoristi-  || 
sehen,  unterhaltenden  folgen,  bedeutet  nicht  eine  streng 
zeitliche  Anordnung.  Ich  halte  es  für  müßig,  lange  dar- 
über nachzugrübeln,  ob  man  im  Mittelalter  früher  bos- 
haft als  scherzhaft  parodiert  hat.  Es  schien  mir  prak- 
tisch, nach  dem  Hinweis  auf  die  Ansätze  zu  beiden  Arten 
die  Betrachtung  anzuknüpfen  an  die  der  Parodie  sich 
besonders  früh  in  starkem  Umfang  bedienende  anti- 
kuriale  Publizistik,  anzuknüpfen  an  die  heute  wohl  be- 
kannteste und  im  Mittelalter  einflußreichste  lateinische 
Parodie,  an  das  Geldevangelium  und  kam  so  zuerst  zum 
bitteren  Spott  und  bösen  Scherz. 

Man  ist  und  hat  versucht,  die  humoristische  Parodie 
von  den  kirchlichen  Narrenfesten  abzuleiten. 
Diese  mit  den  antiken  Saturnalien  zusammenhängenden 
Belustigungen*,  die  von  der  mittelalterlichen  Schuljugend 
und  niederen  Geistlichkeit  jahrhundertelang  am  Ste- 
phanstag, am  Tag  der  unschuldigen  Kindlein,  Neujahr, 
Epiphanie,  an  Johanni  in  und  bei  den  Kirchen  begangen 
wurden,  später  auf  die  Straßen  und  in  die  Kneipen 
zogen,  um  schließlich  im  Studentenulk  und  Fastnachts- 
treiben zu  münden,  wichtig  z.  B.  wegen  ihres  Einflusses 
auf  das  komische  Theater,  ahmen  in  der  Tat  die  kirch- 
lichen Riten,  Zeremonien  lustig  nach.  Die  Texte  möchte 
ich  nicht  durchweg  parodistisch  nennen:  viele  sind  nur 
fröhlich,  sind  bloß  dadurch  komisch,  daß  sie  von  Kin- 
dern oder  Geistlichen  niederen  Grades  in  Verkleidungen 
ausgelassen  vorgetragen  wurden,  nicht  alle  im  Wortlaute 
komisch.  Man  vergleiche  zur  Probe  die  harmlosen  Lie- 
der im  20.  Bande  der  Analecta  hymnica  S.  217  ff.  Je- 
doch sind  die  Feste  vielfach  ausgeartet,  besonders  das 
der  Subdiaconen  (Neujahr,  Epiphanie),  das  zum  eigent- 
lichen Festum  stultorum,  fatuorum,  follorum  geworden, 
in  Frankreich  ausschweifend  gefeiert  wurde.   Schon  im 


Eselsprose  1 37 

13.  Jahrhundert  ging  man  an  die  Revision  des  Officiums 
und  ließ  in  Sens  eigentlich  nur  einen  anstößig  zu 
nennenden  Text,   die  Eselsprose^)  übrig : 

Orientis  partibus 
adventavit  asinus, 
pulcher  et  fortissimus. 
sarcinis  aptissimus. 
Hez,  Sir  asne,  hez! 
usw. 

1.  Aus  dem  Morgenlande  kam 
uns  ein  Esel  lobesam, 

Esel   schön   und   tapfer   sehr, 
Keine  Last  ist  ihm  zu  schwer. 
He,  Herr  Esel,  he! 

2.  Rüben  zog  auf  Sichems  Höh'n 
auf  den  Esel  stark  und  schön, 
durch  des  Jordans   Bette  tief 
er  gen  Bethlem  hurtig  lief. 

He,  Herr  Esel,  he! 

3.  Also  zierlich  tanzt  einher 
Rehlein,  Zicklein  nimmermehr, 
also  hurtig  traben  kann 

kein  Kamel  aus  Madian. 
He,  Herr  Esel,  he! 

4.  Goldbeladen  kam  J-ah 
fernher  aus  Arabia, 

fern  aus  Saba  hat  beschafft 
Gold  und  Weihrauch  Eselskraft. 
He,  Herr  Esel,  he! 

5.  Während  er  im  Karren  keucht 
und  gar  schwere  Lasten  zeucht, 
mahlt  sein  starkes  Backenbein 
hartes  Futter  kurz  und  klein. 

.    He,  Herr  Esel,  he! 

*)  Anal.  hymn.  XX  217  f.    Gute  Übersidit  über  die  Probleme  bei  G.  M.  Drcves,   Zur 
Geschichte  der  fete  des  fous:  Stimmen  aus  Maria  Laach.  XL VII  (1894)  S.  571-587. 


138  Auswüdise  der  Narrenfeste 


6.  Gerstenstroh  mit  Acheln  dran. 
Disteln  er  verknausen  kann, 
auf  der  Tenne  mit  Bedacht 
drischt  von  früh  er  bis  zur  Nacht. 

He,  Herr  Esel,  he! 

7.  Amen  sprich  nun,  Eselein, 
wirst  wohl  satt  vom  Grase  sein, 
Amen,  Amen  früh  und  spät, 
alles  Alte  sei  verschmäht. 

He,  Herr  Esel,  he! 

Die  Übersetzung,  die  ich  dem  Aufsatz  von  G.  M.  Dre- 
ves  entnommen  habe,  zeigt,  daß  selbst  diese  parodisti- 
sche  Eselssequenz  im  Grunde  sehr  zahm  ist.  Die  sich 
gegen  die  sonstigen  —  zumeist  nicht  literarischen  — 
Auswüchse  richtenden  Reformversuche  hatten  vor  der 
Mitte  des  15.  Jahrhunderts  wenig  Erfolg.  „Die  Kleriker^) 
erschienen  in  der  Kirche  Ende  des  14.  Jahrhunderts 
nicht  bloß  in  Tiermasken,  sondern  auch  als  Weiber,  Zu- 
hälter, Gaukler  verkleidet.  Anstatt  mit  Weihrauch  räu- 
cherten sie  mit  Blutwurst  oder  altem  Stiefelleder.  Statt 
der  Responsorien  sangen  sie  schmutzige  Lieder.  Statt 
der  Hostie  genossen  sie  am  Altar  fette  Würste.  Auch 
vergnügten  sie  sich  während  der  kirchlichen  Feier  mit 
Würfelspiel  und  führten  zum  Ergötzen  der  Zuschauer 
sehr  unpassende  Reigentänze  auf.  Fast  noch  schlimmer 
waren  die  Prozessionen,  die  sich  an  die  kirchliche  Feier 
anschlössen.  Junge  Leute  produzierten  sich  dabei  wohl 
im  Adamskostüm  und  suchten  den  Pöbel  durch  unan- 
ständige Gebärden  und  Reden  zu  amüsieren."  Bei  diesen 
Ausschweifungen  wurden  tatsächlich  liturgische  For- 
meln parodiert,  zumal  bei  der  Wahl  des  „Abtes"  oder 
„Bischofs".  2)  Die  Texte  sind  aber  nur  selten  aufgezeich- 
net worden  und  bedienen  sich  weit  mehr  der  Volks- 
sprachen als  des  Lateinischen.  Von  den  erhaltenen 
mittellateinischen  Parodien,  die  ich  zu  besprechen  habe, 
ist  teils  nicht  nachgewiesen,  teils  bestimmt  nicht  richtig 

^)  Realencyklopädie  für  protestantische  Theologie  und  Kirdie.  XIIF  652. 
^)  Vgl.  in  Ducanges  Glossarium  unter  'Äbbas  Cornardorum'  und  'Kalendae'. 


Der  Erzpoet  139 

oder  nicht  anzunehmen,  daß  sie  direkt  aus  dem  Reper- 
toire der  kirchlichen  Narrenfeste  stammen.  Daß  die 
oder  jene  Messe  der  Spieler  und  Trinker  in  die  Kirchen 
gedrungen  ist,  halte  ich  immerhin  nicht  für  unmöglich. 
Wahrscheinlicher  noch  ist  der  ursprüngliche  Zusammen- 
hang der  Scherzpredigten,  der  Sermons  joyeux  mit  der 
Parodie  des  christlichen  Gottesdienstes.  Nur  darf  man 
sich  ganz  und  gar  nicht  vorstellen,  daß  jeder  solche  Ulk 
zu  den  Festen  gehört.  Viele  Parodien  sind  Buchscherze 
geblieben,  viele  in  übermütiger  Laune  für  Kneipe  und 
Straße  und  weltliche  Bühne  geschrieben.  Und  alle  über- 
lieferten, an  die  man  denken  konnte,  sind  jung. 

Es  empfiehlt  sich,  daß  wir  uns  einen  anderen  Führer 
ins  Reich  der  heiteren  Parodie  suchen;  wir  finden  ihn 
in  einem  genialen  Sänger  des  12.  Jahrhunderts,  dessen 
Namen  wir  nicht  kennen,  dessen  deutscher  Herkunft 
wir  uns  aber  freuen  dürfen,  in  jenem  Dichter,  der  als 
Archipoeta  unsterblich  ist. 

Unter  den  wenigen  Gedichten,^)  die  wir  von  ihm  ken- 
nen, ist  keine  Vollparodie,  die  sich  streng  vom  Anfang 
bis  zum  Schluß  an  den  Wortlaut  einer  anderen  literari- 
schen Schöpfung  hält.  Vielleicht  war  seine  Eigenheit 
und  Eigenwilligkeit,  sein  Drang,  ursprünglich  zu  ge- 
stalten, für  ein  Nachbeten,  Nachsingen,  sei  es  auch  nur 
im  Spaß,  zu  groß.  Für  Einzelheiten  und  in  freier  Form 
hat  er  parodistischen  Humor  gelegentlich  gebraucht. 
Sein  Gedicht  (Manitius  no.  II): 

'Lingua  balbus,  hebes  ingenio 

viris  doctis  sermonem  facio. 

Sed  quid  loquor,  qui  loqui  nescio? 

necessitas  est,  non  presumptio' 
usw. 
ist  scheinbar  eine  ernste  Predigt,  letzten  Endes  aber  eine 
an   christliche   Gedanken  gebundene,   mit  Anspielungen 

♦ 

*)  Letzte,  nidit  voll  befriedigende  Ausgabe  von  M.  Manitius,  Mündien  1913,  als  6.  Heft 
der  Münchener  Texte  herausgeg.  von  Friedridi  Wilhelm.  Der  Aufsatz  von  W.  Meyer 
Der  Kölner  Ardiipoeta :  Nadiriditen  der  K.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Göttingen, 
Geschäftlidie  Mitteilungen,  1914,  2.  Heft  hat  mich  enttäusdrt. 


140  Der  Erzpoet 

"  —         ■  " "    '  ■ —  h 

auf  Bibel   und   Gottesdienst  geschickt  arbeitende  Mah- 
nung zu  Freigebigkeit  und  schließt: 

'Viri  digni  fama  perpetua, 

prece  vestra   complector  genua: 

ne  recedam  hinc  manu  vacua,  J 

fiat  pro  me  collecta  mutua. 

Mea  vobis  patet  intencio, 

vos  gravari  sermone  sencio. 

Unde  finem  sermonis  facio, 

quem  sie  finit  brevis  oratio/ 
Es  folgt  also  nun  ein  Gebet,  jdas  doch  halb  Parodie  ist: 

'Prestet  vobis  creator  Eloy 

caritatis  lechitum  olei, 

spei  vinum,  frumentum  fidei 

et  post  mortem  ad  vitam  provehi. 

Nobis  vero  mundo  fruentibus, 

vinum  bonum  semper  bibentibus, 

sine  vino  deficientibus, 

nummos  multos  pro  largis  sumptibus. 
Amen/ 
Parodistisch  sind  die  beiden  Beicht-  und  Bußgedichte 
des  Erzpoeten  (Manitius  no.  III  und  VIII).  Der  bibel- 
feste Dichter  spielt  darin  den  reumütigen  Sünder,  die 
christlichen  Schuldbekenntnisse  werden  zu  Verteidigun- 
gen und  Anklagen.  Ob  Ganszyniec  ^)  eine  bestimmte  Se- 
quenz im  Auge  hatte,  als  er  die  Scheinbuße  'Fama  tuba 
dante  sonum'  eine  „köstliche  Parodie  zur  Sequenz" 
nannte,  möchte  ich  bezweifeln.  Es  ist  von  ihm  wohl 
im  allgemeinen  die  humoristische  Nachahmung  des  Se- 
quenzenstiles gemeint.  Auch  Manitius'  Bezeichnung 2)  des 
Gedichtes  als  einer  „höchst  gelungenen  Parodie  auf  die 
Schicksale  des  Jonas"  ist  nicht  gerade  glücklich.  Man 
liest  erst  im  21.  Verse,  daß  sich  der  Archipoeta  mit 
Jonas  vergleicht  und  hört  immer  nur  Anklänge  an 
dessen  Schicksale.  Charakteristisch  für  die  parodistisch 
freche  Komik  ist,  daß  er  am  Schluß,  ein  Wort  Christi 

*)  München  er  Museum,  her.  von  Friedrich  Wilhelm.  IV  117. 
*)  Ausgabe  S.  5. 


Der  Erzpoet  141 

aus  dem  Johannesevangelium  (XV  5)  auf  seinen  Herrn 
und  sich  anwendend,  sich  verabschiedet  mit  der  Strophe: 

'Pacis  auctor,  ultor  litis, 

esto  vati  tuo  mitis 

neque  credas  imperitis! 

Genetivis  iam  sopitis, 

sanctior  sum  heremitis. 

Quicquid  in  me  malum  scitis, 

amputabo,  si  velitis; 

ne  nos  apprehendat  sitis, 

ero  palmes  et  tu  vitis.V 
Ähnliche  parodistische  Plünderung  der  Bibel  begegnet 
auch  sonst  bei  ihm.  Statt  auf  all  die  kühn  mit  heiligen 
Worten  umspringenden  Stellen  einzugehen,  möchte  ich 
an  des  Erzpoeten  berühmte  Beichte  (Manitius  no.  IIP 
'Estuans  intrinsecus  ira  vehement! 
in  amaritudine  loquor  meae  menti: 
Factus  de  materia  levis  elementi 
folio  sum  similis,  de  quo  ludunt  venti' 
erinnern.  Denn  da  enthüllt  der  Dichter  in  der  Form 
einer  freien  Parodierung  der  echten  kirchlichen  Beichte 
seine  weltfreudige  Lebensauffassung,  die  ebenso  Tau- 
sende seiner  Zeitgenossen  und  Nachfahren  erfüllt  hat. 
Besonders  am  Anfang  muß  man  mehrfach  an  bestimmte 
Bibelverse  denken.  Das  hat  gewiß  in  der  Absicht  des 
Schalkes  gelegen.  Was  er  erstrebt  und  erreicht  hat,  ist 
beim  Vortrag  der  biblische,  kirchliche  Ton,  beim  An- 
hören und  Lesen  ein  lustiges  Schmunzeln  derer,  die  mit 
der  Bibel  vertraut  waren.  Man  kann  von  einem  Paro- 
dieren reden,  wenn  man  nicht  zuviel  in  das  Wort 
hineinlegt.  Parodistisch  ist  es  jedenfalls,  daß  er  sich 
für  sein  letztes  Stündchen  (Str.  11  u.  12)  einen  guten 
Wein  und  ein  Requiem  der  Engel  wünscht,  daß  er  die 
himmlischen  Chöre  nach  Lukas  XVIII  13  'Dens  pro- 
pitius  est  mihi  peccatori'  singen  läßt:  'Dens  sit  pro- 
pitius  huic  potatorü'  Zum  richtigen  Verständnis  gehört, 
daß  man  jeweils  weiß,  was  imitiert  und  zitiert  ist.  Für 
die  Strophe  23 


142  Der  Erzpoet 

'lam  virtutes  diligo,  viciis  irascor, 
renovatus  animo  spiritu  renascor; 
quasi  modo  genitus  novo  lacte  pascor, 
ne  Sit  meum  amplius  vanitatis  vas  cor' 
behaupten  sowohl  Manitius  (S.  29)  wie  Frantzen^)  Be- 
nutzung von   Petr.  112  der  Vulgata,  wo  es  heißt:   'Si- 
cut  modo  geniti  infantes'.    Jedoch  hat  der  Dichter  die 
Messe  vom  Weißen  Sonntag  in  Ohr  und  Feder  gehabt. 
Dort  sind  im  Introitus  die  Petrusworte  von  alters  her 
variiert:    'quasi   modo    geniti   infantes,   alleluia,   ratio- 
nabiles,  sine  dolo  lac  concupiscite,  alleluia'.    Außerdem 
spielt  in  die  Verse  Ev.  Joh.  III  5  f.  hinein.    Bei  Str.  23 
und  24  ist  der  Reuige  schon  am  Ende.   Was  vorausgeht 
und  von  ihm  behandelt  wird,  sind  drei  Vorwürfe,  die 
man  ihm  gemacht  hatte:   sein  Liebeln,  sein  Spielen  und 
Zechen.   Wie  er  sich  zu  den  Anklagen  gestellt  hat,  sollte 
man  lesen.    Seine  Beichte  ist  ein  Hohes  Lied  ungebun- 
denen Lebensgenusses  einer  Künstlernatur. 

1.  Liebesleben 

Presul  discretissime,  veniam  te  precor» 
morte  bona  morior,  dulci  nece  necor, 
meum  pectus  sauciat  puellarum  decor, 
et  quas  tactu  nequeo,  saltem  corde  medior. 

Res  est  arduissima  vincere  naturam, 
in  aspectu  virginis  mentem  esse  puramj 
iuvenes  non  possumus  legem  sequi  duram 
leviumque  coiporum  non  habere  curam. 

Quis  in  igne  positus  igne  non  uratur? 
Quis  Papie  demorans  castus  habeatur, 
ubi  Venus  digito  iuvenes  venatur, 
oculis  illaqueat,  facie  predatur? 
Si  ponas  Ypolitum  hodie  Papie, 
non  erit  Ypolitus  in  sequenti  die. 
Veneris  in  thalamos  ducunt  omnes  viae, 
non  est  in  tot  turribus  turris  Ariciae. 

(Ärdiipocta.) 

Venantius  Fortunatus,  der  an  der  Schwelle  vom  Alter- 
tum   zum    Mittelalter   stand,    hatte  noch   antike   Form- 

^)  Neophilologus  V  174- 


Liebeslyrik  1 43 

gewandtheit,  hatte  Empfindsamkeit,  Einfühlungsfähig- 
keit, um  Liebestöne  wenigstens  mitschwingen  und  mit- 
khngen  zu  lassen.  Dann  kamen  zwei  Jahrhunderte  dich- 
terischer Roheit  oder  Rauheit  und  ihnen  folgt  mit  der 
karolingischen  Renaissance  ein  Zeitalter,  das  ehrlich 
nach  den  antiken  Formen  der  Poesie  strebt,  indes  zu- 
meist nicht  über  das  Gelehrte,  Schulmeisterliche  und 
Schülerhafte  hinausdringt  und  in  den  Dichtungen  dem 
Gefühlsleben  eigentlich  nur  auf  religiösem  Gebiet  frei- 
eren Lauf  läßt.  Erst  seit  dem  lO./ll.  Jahrhundert  findet 
man  hie  und  da  die  frischen  Farben,  die  hellen  Laute 
irdischer  Liebe.  Und  bald  tönt  uns  aus  den  sogenannten 
Cambridger  Liedern,  aus  den  Weisen  Abaelards  und 
seiner  Schüler,  aus  den  Gesängen  der  Goliarden  ein 
Vielerlei  von  zartem  Sehnen,  stürmischem  Werben,  von 
dreistem  und  frechem  Liebesgenuß,  von  jauchzendem 
Jubel  entgegen.  Wie  ein  Wunder  mutet  uns  das  Er- 
wachen der  weltlichen  Lyrik  an.  Doch  dieses  Wunder 
ist  bis  zu  einem  gewissen  Grade  erklärbar.  Eine  Er- 
klärung ist  wohl  die,  daß  die  himmlische  Liebe  längst 
und  in  stets  wachsendem  Maße  poetischen  Ausdruck  ge- 
funden hatte.  Die  religiöse  Hymnen-  und  Sequenzen- 
dichtung ist  den  reifenden  Menschen  des  Mittelalters 
eine  mächtige  Lehrmeisterin  der  erotischen  Lyrik  ge- 
worden, für  Metrum  und  Rhythmus,  für  Melodie  und 
Strophenbau,  für  sprachliche  Wendungen,  Vergleiche 
und  Bilder.  Umgekehrt  sind  die  geistlichen  Ergüsse 
nicht  frei  von  Weltlichem  geblieben.  Der  religiöse  Dich- 
ter versucht,  sich  die  Sinnenwelt  Untertan  zu  machen 
und  ahmt  bald  die  Sänger  der  fleischlichen  Liebe  so 
nach,  daß  man  oft  erstaunt  über  die  Leidenschaftlich- 
keit des  Verlangens,  über  das  sinnliche  Schildern,  z.  B. 
in  den  Marienhymnen. 

Bei  dieser  gegenseitigen  Beeinflussung,  die  für  die 
mittellateinische  Literatur  näher  erforscht  zu  werden 
verdient,^)  bei  der  allgemeinen  Freiheit  in  der  Verwer- 

')  Vgl.  z.  B.  O.  Hubatsdi,  Vagantenlieder  S.  28  ff.  u.  77  ff. ;  Allen  in  Modern  PhilologyV. 
428  sqq.,  454  sqq. 


144  Liebesgebet  und  Liebesklage 

tung  fremden  schriftstellerischen  Gutes  ist  es  oft  schwer, 
ja  nicht  selten  unmöglich  festzustellen,  ob  und  wo  der 
Liebesdichter  bei  der  Nachdichtung  und  Zitierung  geist- 
licher Texte  bewußt  parodistisch  arbeitete,  d.  h.  mit  der 
Imitation  eine  komische  oder  doch  unterhaltende  Wir- 
kung beabsichtigte.  Ruft  der  Liebende^)  aus: 
'Nobilis  mei  miserere  precor, 

tua  facies  ensis  est  quo  necor 

nam  medullitus  amat  meum  te  cor. 

Subvenü' 
so  ist  das  dem  Ton  und  den  Worten  nach  ein  Liebes- 
gebet  und   doch   für   mich   keine   Parodie   christlichen 
Flehens.    Auch  der  dann  erschallende  Refrain 

'Amor  improbus  omnia  superat* 

klingt  wohl  an  Vergil,  Georg  II  383  'Labor  omnia  vincit 
improbus'  an,  schwerlich  aber  würde  man  daraus  eine 
Spottabsicht  mit  Recht  herauslesen,  zumal  da  Ver- 
mischung mit  Aen.  X  69  'omnia  vincit  amor  et  nos  ce- 
damus  amori'  vorliegen  dürfte,  das  in  mittelalterlichen 
Gedichten  oft  zitiert  und  variiert  erscheint.  ^) '  Die  Klage 
des  Liebenden^) 

'Vertitur  in  luctum 

Organum  amoris 

canticum  subductum 

absinthio  doloris* 
erinnert  durch  Zeilenbau  und  die  Reimung  'luctum  — 
ductum'  stark  an  Walther  von  Chatillon.*) 

'Versa  est  in  luctum 

cythara  Waltheri, 

non  quia  se  ductum 

extra  gregem  cleri', 
erinnert  im  übrigen  wie  die  Waltherstelle  an  Job  XXX  31 
'Versa  est  in  luctum  cithara  mea  et  Organum  in  vocem 

»)  C  B.  no.  166. 

^)  Als  Kehrreim  des  Gedidites  'Preclusi  viam  floris'  bei  W.  Meyer,  Die  Arundelsamm» 
lung  mittcllateinisdier  Lieder,  Berlin  1908  '.(Abhandl.  d.  Kgl.  Ges.  d.  Wiss.  zu  Göttingen, 
Philol.«hist.  Kl.  N.  F.  XI  no.  2),  S.  11. 

8)  C  B.  no.  156  Str.  6. 

*)  C  B.  no.  LXXXVI;  über  die  Echtheit  dieses  Gedidites  F.  Novati  in  der  Romania 
XVni  (1889)  p.  283  sqq. 


Liebesfreuden;  Liebesjammer  14-5 

flentium'.  Folgte  der  Dichter  nur  Hiob  oder  Hiob  und 
Walther,  so  bediente  er  sich  ihrer  doch  wie  Krücken. 
Der  Hiobvers  ist  auch  sonst  während  des  Mittelalters 
in  vollem  Ernste  gebraucht  und  nachgeahmt  worden.^) 

Beim  weiteren  Durchlesen  der  Carmina  Burana  hat 
man  zwischen  dem  zu  den  Liebesfreuden  des  Frühlings 
auffordernden  Liede  (no.  79): 

'Congaudentes  ludite, 

choros  simul  ducite! 

Juvenes  sunt  lepidi, 

senes  sunt  decrepiti. 
Audi  bela  mia, 

mille  modos  Veneris 
da  hizevaleria' 
usw. 
und  der  geistlichen  Poesie  insofern  einen  Zusammenhang 
festzustellen,  als  'Congaudentes'  ein  beliebter  Hymnen- 
anfang der  Kirche  ist  und  'choros  ducite'  auch  bei  geist- 
lichen Festen  gesungen  wird.  ^)  Meines  Erachtens  hat 
sich  da  der  Poet  tatsächlich  mit  der  Entlehnung  eine 
kecke  Wendung  zum  Weltlichen  erlaubt.  Von  Parodie 
zu  reden,  wäre  allerdings  gewagt.  Immerhin  ist  hier 
dank  der  Wortwahl  der  Abstand  vom  Parodistischen 
nicht  mehr  weit,  ähnlich  wie  durch  die  Feierlichkeit 
der  sonst  für  religiöse  Klagelieder  beliebten  Achtsilber 
in  jenem  Poem,  wo  ein  Schwerenöter  seine  Liebes- 
beteuerung mit  Jammern  und  Fluchen  über  die  bösen 
Lästermäuler  einleitet:^) 

'Lingua   mendax   et  dolosa, 
lingua  procax,  venenosa, 
lingua  digna  detruncari 
et  in  igne  concremari.' 
usw. 

^)  Vgl.  Bernhard  von  Clairvaux,  Migne  CLXXXII  305;  Sugcr  über  den  Tod  Karls  des 
Guten  von  Flandern,  Du  M6ril,  Poesies  (1847)  p.  270;  Dolopathos  des  Johannes  de  Alta 
Silva  ed.  A.  Hilka,  Heidelberg  1913,  S.  33  Z.  28 ;  Johann  von  Salesbury,  Migne  CXCIX  97 ; 
Peter  von  Blois,  Mfgne  CCVII  487 ;  Vita  ven.  Odae :  Acta  sanctorum.  Aprilis  tom.  II  775 ; 
Epitaphium  für  Thomas  Aquin. :  Archiv  für  Literaturgesdiidite.  VII  (1878)  S.  429- 

^)  Vgl.  etwa  Analecta  hymnica.  LH  232. 

^)  C  B.  no.  168. 

Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  10 


1 46  Quasimodogcniti 


Den  'senes  decrepiti'  wurden  in  kurz  vorher  von  mir 
angeführten  Versen  die  'iuvenes  lepidi'  gegenübergestellt, 
in  anderen  Liedern  von  Lenz  und  Liebe  sind  die  zu 
neuer  Sinnenlust  Erweckten  'quasi  modo  geniti'  genannt. 

'Juvenes  nunc  transeunt 

limites  illiciti 

senes  et  decrepiti 

modum  .  .  .  nesciunt, 

teuere  lasciviunt 

quasi  modo  geniti' 
heißt   es   in   'Frigescente    caritatis'   der   Sammlung   von 
St.  Omer  saec.  XII  ex/)  in  'Licet  eger  cum  egrotis'  der- 
selben Liederhandschrift  der  Carmina  Burana  und  noch 
fünf  Codices:  ^) 

'Senes  et  decrepiti 
quasi  modo  geniti 
nectaris  illiciti 
hauriunt  venenum.' 
Schon    mit    'senes    decrepiti'    wird   vielleicht   auf   die 
Bibel   oder   einen  von   ihr  abhängigen   geistlichen  Text 
angespielt;    denn  2  Par.  XXXVI  17  findet  sich  der  Satz 
'interfecit  iuvenes,  non  est  misertus  adolescentis  et  vir- 
ginis  et  senis  nee  decrepiti  quidem'.    Sicher  ist  'quasi- 
modogcniti'  parodistisch    gebraucht.     Den    Hörern   und 
Lesern  jener  Liebeslieder  konnte  und  sollte  diese  Ent- 
lehnung aus  dem  Introitus  der  Messe  am  Weißen  Sonn- 
tag nicht  entgehen,  wurde  dieser  Introitus  doch  gerade 
an  einem  Frühlingssonntage  angestimmt.   Der  Gegensatz 
zwischen   der   Heiligkeit   des   Weißen   Sonntags   in   der 
Kirche,   der   die   Wiedergeburt  durch  die  Taufe   feiert, 
und  der  Ausgelassenheit  der  Reigen  und  Chöre  zu  Ehren 
des  Wiedererwachens  der  Liebe  draußen  in  Wald  und 
Flur    mußte    wirken.     Daß    auch   der    Archipoeta    sich 
'quasimodogenitus'  nennt  und  die  modernen  Gelehrten^) 

^)  Mone  im  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.  VII  110. 

^)  W.  Meyer,  Die  Arundelsammlung  S.  41.  Zur  Überlieferung  vgl.  meinen  im  Drude 
befindlidien,  am  6.  Mai  1922  in  der  Bayer.  Akademie  der  Wissenschaften  gehaltenen  Vor» 
trag  "Mittellateinische  Verse  in  Distinctiones  monasticae  et  morales  vom  Anfang  des 
13.  Jahrhunderts".  ^ 

^)  Selbst  W.  Meyer,  Die  Arundelsammlung  S.  43,  hat  offenbar  das  'quasi'  für  'sicut 
nicht  ganz  verstanden. 


„Sprach*  idi  mit  Menschens  und  Engelszungen"  14-7 

die   Beziehung    auf    die    Liturgie    nicht    recht    gesehen 
haben,  ist  bereits  (oben  S.  142)  bemerkt. 
Fraglich  ist  mir,  ob  in  der  Strophe^) 

'Amat  me  fideliter,  fidem  meam  nota 
de  corde  totaliter  et  ex  corde  tota, 
sum  presentialiter  absens  in  remota. 
Quisquis  amat  taliter,  volvitur  in  rota' 
die  Erinnerung  an  Matth.  XXII  37  'Diliges  Deum  tuum 
ex  toto  corde  tuo  et  in  tota  anima  tua  et  in  tota  mente 
tua'  noch  lebendig  war  und  sein  sollte. 

Einen  der  stärksten  Beweise,  daß  die  mittellateini- 
schen Liebeslyriker  parodierten  oder  der  Parodie  sehr 
nahe  kamen,  liefert  mir  das  Gedicht^) 

'Si  Unguis  angelicis        loquar  et  humanis'. 
Der  Poet  schildert  eine  Begegnung  zweier  Liebenden 
und  beschreibt  ganz  eindeutig,  was  das  Ende,  die  Krö- 
nung des  Gespräches  der  beiden  ist: 
'Quid  plus?  Collo  virginis       brachia  iactavi, 
mille  dedi  basia,  mille  reportavi 

atque  saepe  saepius  dicens  affirmavi: 

Gerte,  certe  illud  est  id  quod  anhelavi! 

Quis  ignorat  amodo  cuncta  quae  secuntur? 

Dolor  et  suspiria  procul  repelluntur, 

paradisi  gaudia  nobis  inducuntur 

cunctaeque  deliciae  simul  apponuntur. 

Hie  amplexus  gaudium  est  centumplicatum, 

hie  meum  et  dominae  puUulat  optatum 

hie  amantum  bravium  est  a  me  portatum 

hie  est  meum  igitur  nomen  exaltatum.' 

Wie  aber  beginnt  dieses  bald  gezierte  und  zierliche, 
bald  feuerige  erotische  Lied?  Ein  bekanntes  herrliches 
Bibelwort  des  Apostels  Paulus  'Spräche  ich  mit  Men- 
schen- und  Engelszungen'  (1.  Kor.  XIII  1)  bildet  den  Ein- 
gang. Die  zweite  Strophe  hebt  an  mit  den  seit  Venantius 
Fortunatus  unzählige  Male  gesungenen,  oft  in  frommem 
Sinne  für  .neue  Dichtungen  verwandten  Worten  des 
Hymnus  auf  das  Kreuz  Christi  'Pange  lingua'.    So  atmen 

')  C.  B.  no.  99  p.  178.     ^)  C  B.  no.  50. 

10* 


148  Liebeslicd  und  Maricnverehning 

die  ersten  Strophen  Feierlichkeit  und  Zurückhaltung  der 
irdischen  Gefühle.  Dann  steigert  der  Künstler  den  Ef- 
fekt, indem  er  nach  der  Begegnung  den  Liebhaber 
Strophe  6  und  7  in  Begeisterung  und  Anbetung  vor  der 
Auserkorenen  niederknien  und  sie  so  begrüßen  läßt,  daß 
der  Hörer  immer  noch  zweifeln  konnte,  ob  er  nicht 
die  heilige  Jungfrau  Maria,  die  süße  Gottesmutter, 
meinte:^) 

'Ave  formosissima,  gemma  pretiosa, 

ave  decus  virginum,         virgo  gloriosa, 
ave  mundi  luminar,         ave  mundi  rosa!' 

Und  nun  mit  neuen  Vergleichen  die  Lösung: 
'Blanziflor  et  Helena,  Venus  generosa/ 

Der  Morgenstern,  der  ihm  leuchtet,  ist  ein  holdes 
Mägdelein  von  Fleisch  und  Blut,  kein  himmlisch  Wesen. 
In  heißer  Frauenliebe  betet  er  (Strophe  9  und  19  f.)  zu 
Gott  und  Christus.  Ich  kann  nicht  anders,  als  planvolles 
Einführen  der  kirchlichen  Sprache,  der  religiösen  Be- 
zeichnungen und  Bilder  aus  Bibel  und  Marienhymnen 
in  die  Erotik  anzunehmen.  Für  Zufall,  Unbewußtheit, 
harmlose  Imitation  sind  die  parodistisch  anmutenden 
Elemente  zu  sehr  gehäuft,  arbeitet  der  Dichter  in  allen 
33  Strophen  zu  überlegt.  Wie  er  damit  rechnen  mußte, 
daß  die  Zeitgenossen  aus  Strophe  19  einen  lauten  Nach- 
hall der  damals  immer  und  immer  wieder  gelesenen 
Pamphiluselegie  (v.  Iff.)  heraushörten,  ebenso  wurde 
es  von  ihm  vorausgesehen,  beabsichtigt,  daß  sein  Publi- 
kum an  die  religiöse  Sprache  und  Literatur  erinnert 
wurde. 

Nur  parodieähnlich  könnte  man  solche  Anlehnungen 
nennen,  weil  nicht  von  Haschen  nach  einem  eigentlich 
komischen  Effekt  gesprochen  werden  darf,  die  An- 
lehnungen reizen,  die  Aufmerksamkeit  anregen,  aber 
nicht  gerade   Lachen  hervorrufen   sollen.  ^)    Die  Komik 

^)  Aus  H.  Süfjmildis  Bemerkungen,  Die  lat.  Vagantenpoesie  S.  37,  scheint  mir  hervor» 
zugehen,  daß  er  übersah,  wie  der  Dichter  nicht  naiv  im  berauschenden  Glück  der  Liebe 
gedichtet,  sondern  aus  der  Mariologie  und  anderem  geschöpft  hat. 

*)  Audi  der  Anfang  des  Gedichtchens  (C  B.  no.  119)  von  der  Schäferin,  die  ihre  Un» 
schuld  opfert,  um  ein  vom  Wolf  bedrohtes  Lamm  zu  retten  'Lucis  orto  sidere',  ist  hier  zu 
erwähnen.  Er  imitiert  die  sehr  häufigen  Eingänge  kirchlicher  Hymnen  'lam  lucis  orto  sidere' 
und  'Lucis  orto  sidere'. 


Die  moderne  Leda  149 


der  Parodie  findet  man  in  den  erotischen  Possen 
und  Schwänken.  Je  schwächer  die  Sentimentalität 
und  Innigkeit,  je  stärker  die  Sinnlichkeit  hervorgekehrt 
wird,  um  so  deutlicher  und  häufiger  tritt  die  Parodie 
in  der  Liebesliteratur  auf. 

Lockere  Poeten  haben  sich  nicht  gescheut,  mit  der 
Antike  ihr  Spiel  zu  treiben.  Im  12.  Jahrhundert  erzählt 
ein  schalkhafter  Dichter,  daß  Leda  aus  den  Wolken  zu 
ihm  herabgeschwebt  wäre,  ihn  zärtlich  begrüßt  und  ihr 
erotisches  Erlebnis  mit  Jupiter,  von  der  Geburt  des 
Kastor,  des  Pollux,  der  schönen  Helena  berichtet  hätte, 
wie  er  der  Göttin  in  die  Rede  gefallen  wäre,  um  seine 
Albors  über  die  Helena  zu  stellen.  Von  Neugier  gequält, 
hätte  Leda  mehr  über  dieses  Mädchen  erfahren  wollen 
und  ihm  alles  versprochen.  So  wäre  ihm  als  Preis  und 
Lohn  gestattet  worden,  Ledas  Leib  in  Wonne  zu  ge- 
nießen, und  er  so  Jupiter  gleich,  ja  größer,  glücklicher 
als  dieser  gemacht.  W.  Meyer,  der  das  vermutlich  in 
England  entstandene  Gedicht  von  der  „modernen*'  Leda 
herausgab  und  erörterte, i)  fragt:  „Wollte  der  Dichter 
das  gepriesene  Altertum  parodieren?  Zu  ein- 
zelnen Menschen  des  bewunderten  Altertums  kamen 
Götter  oder  Göttinnen  herab,  wie  Venus  zu  Anchises,  und 
minnten  sie.  Oh,  darin  stehen  wir  ihnen  nicht  nach  — 
—  — ."  Ich  kann  die  Frage  nicht  mit  Ja  beantworten, 
weise  des  Göttinger  Meisters  Gedanken  an  eine  absicht- 
liche „Verhöhnung  der  Mythologie"  als  zu  weitgehend 
zurück.  Den  Erotikern  des  12./13.  Jahrhunderts  lagen 
Angriffe  auf  die  Antike  fern.  Man  braucht  nur  in  den 
Carmina  Burana  zu  blättern,  um  zu  sehen,  wie  vertraut 
sie  mit  den  Gestalten  der  griechisch-römischen  Sagen- 
welt gewesen  sind.  Zum  höchsten  Lob  der  angebeteten 
Schönen  weiß  da  einer  zu  sagen  :^) 

'O,  si  forte  Jupiter  hanc  videat, 
timeo,  ne  pariter  incaleat 
et  ad  fraudes  redeat 

')  Zeitschrift  für  dcutsdies  Altertum.  L  (1908)  S.  289  ff.  Sperrdruck  meinerseits- 
2)  C.  B.  p.  149. 


150  Jupiter  und  Danae;  Caecilia 


sive  Danaes  pluens  antrum 
imbre  dulci  mulceat 
vel  Europes  intret  taurum 
vel  et  haec  congaudeat 
riirsus  in  olore/ 

Und  wenn  der  andere,  wie  wir  hörten,  einen  Triumph 
über  Leda  erdichtet,  so  ist  das  ein  parodistisches  Spie- 
len mit  den  Kenntnissen  antiker  Göttergeschichten,  kein 
Höhnen  oder  Spotten.  Nicht  über  die  vielen  Liebe- 
leien der  Olympier,  sondern  durch  die  leichten  Er- 
zählungen und  Anspielungen  macht  man  sich  lustig. 
Auch  das  mit  der  Geschichte  vom  Liebesabenteuer  Ju- 
piters mit  Danae  endende  Poem^) 

.  'Primo  veris  tempore,  vere  renascente, 

sole  pene  penitus  taurum  attingente' 
ist   ein   Erzeugnis   heiteren   Übermutes,  ein   Repertoire- 
stück  der   Unterhaltung.    Man   kann  es   eine   Travestie 
heißen.    Wie  in  einer  Posse,  einer  Offenbachschen  Ope- 
rette werden  die  Götter  höchst  amüsant  geschildert. 

Mit  dem  Hinweis  auf  die  Macht  der  Liebe'  über  die 
Götter  Zeus,  Neptun,  Pluto,  auf  die  Allmacht  der  Liebe 
über  die  Menschen  und  Tiere  beginnt  in  einer  heute  in 
Florenz  liegenden  Handschrift  ein  mittellateinisches 
Lied.^)  „Das  in  allen  Einzelheiten  und  im  ganzen  Auf- 
bau vortreffliche  und  humorvolle  Gedicht  —  —  —  ist 
durch  eine  plumpe  Hand  verknittert  und  verbogen  zu 
dem  Text,  der  in  den  Garmina  Burana^)  vorliegt."  Die 
Plumpheit  wird  aufgewogen  durch  die  von  W.  Meyer 
fein  beobachtete  und  beleuchtete  Tatsache,  daß  Str.  9 
bis  16  des  Benediktbeurer  Textes  eine  offensichtliche 
Parodie  von  Str.  1  bis  8  bilden,  welche  Strophen  eine 
leichte  Umarbeitung  des  Florentiner  Wortlautes  vor- 
stellen. Hatte  der  ursprüngliche  Dichter  nach  den  all- 
gemeinen Gedanken  über  die  Gewalt  der  Liebe  gesagt: 

^)  W.  Wattenbach  in  der  Zeitsdirift  für  deutsches  Altertum.  XVIII  (1875)  S.  475,  vgl. 
auch  B.  Haureau  in  den  Notices  et  cxtraits.  XXIX  2  p-  504  sq. 

'^)  W.  Meyer   in   der  Festsdirift   für   Pio  Rajna :  Studi   letterari . .  a  P.  R.,   Milano  1911, 
S.  161  ff. 
^)  no.  61. 


Caecilia  151 

Auch  ich  liebe  ein  Mädchen  von  unbeschreiblichem 
Liebreiz,  Caecilia.  Doch  schone  und  hüte  ich  ihre  Tu- 
gend; ich  hoffe  dabei  auf  dereinstige  Freuden  und  hasse 
überhaupt  alle,  die  nicht  mehr  Jungfrauen  sind.  Also, 
Geliebte,  wollen  wir  nur  zartes  und  zahmes  Liebesspiel 
treiben,  von  derber  Sinnenlust  uns  fern  halten,  —  so 
prshll  der  Parodist,  Caeciliens  Keuschheit  besiegt  zu 
haben :  ^) 

„Als  Merkur  und  Jupiter 
sich  im  Zwilling  grüßten, 
Mars  zugleich  und  Venus  sich 
in  der  Wage  küßten, 
kam  Caecilchen  auf  die  Welt  — 
Stier  war  in  der  Rüsten. 


Ganz  dieselbe  Conjunctur 
hat  sich  mir  gefunden. 
So  bin  ich  ihr  zugesellt 
von  der  Gunst  der  Stunden 
und  durch  meine  Sterne  schon 
meinem  Stern  verbunden. 


Könnte  sie  des  Cephalus 
spröder  Blick  erreichen, 
dann,  Aurora,  dürftest  du 
Paris'  Weibe  gleichen  — 
alle  deine  Herrlichkeit 
müßte  hier  erbleichen. 

Könnte  Gott  Mercurius 
meine  Holde  sehen, 
dann,  Frau  Philologia, 
wär's  um  dich  geschehen: 
Ihr  zuliebe  würd'  er  dir 
flugs  den  Rücken  drehen. 


')  Es  folgt  oben   die   Übertragung  von   Ludwig  Laistner,    Golias,   Studentenlieder  des 
Mittelalters  aus  dem  Lat.,  Stuttgart  1879,  S.  45-47. 


1 52  Caecilia 

Unsre  Liebe  bietet  uns 

beiden  voll  Genügen 

und  kein  Schleicher  soll  fortan 

sich  dazwischen  trügen: 

So  spricht  unsre  Sternenschrift, 

und  die  kann  nicht  lügen. 

Ei,  da  mag  sie  sonst  vielleicht 

Minnegunst  gewähren, 

und  was  ich  vorzeiten  sang, 

scheint  sich  aufzuklären. 

Nein,  ihr  Herrn,  es  bleibt  dabei, 

laßt  euch  nur  belehren. 

Lieben  ist  bekanntlich  ein 
Verbum  transitivum ; 
des  Transites  Medium 
heißt  man  das  Passivum: 
folglich  ohne  Passion 
gibt  es  kein  Activum. 

Wer  das  Datum  wissen  will: 
zehnter  Tag  im  Maien; 
da  war  große  Passion 
und  zwar  ohne  Schreien. 
Laßt  auch  dieser  Fortsetzung 
Beifall  angedeihen." 

In  der  zweitletzten  Strophe 

'Est  hoc  verbum  „diligo" 

verbum  transitivum, 

nee  est  per  quod  transeat 

nisi  per  passivum: 

ergo  cum  nil  patitur 

nil  valet  activum' 
stößt   man   wieder   einmal   auf  das   so   gern^)   von   den 
mittelalterlichen  Scholaren  betriebene  Scherzen  mitAus- 

')  Vgl.  auch  oben  S.  75  ff. 


Liebesdeklination  1 53 


drücken  des  Unterrichts.  Mit  der  Hoffnung  auf  die 
„Deklination"  schließt  ein  Sehnsüchtiger  sein  Loblied 
geradezu  obszön:  i) 

'Non  in  visu  defectus 
auditus  nee  deiectus 
eius  ridet  aspectus. 
Sed,  et  istis  iocundius: 
locus  sub  veste  tectus. 
In  hoc  declinat  melius 
non  obliquus,  sed  rectus. 

Ubi  si  recubareni 

per  partes  declina rem, 

casum  pro  casu  darem 

nee  praesens  nee  praeteritum 

tempus  considerarem, 

sed  ad  laboris  meritum 

magis  accelerarem.' 

Ein  Vagant,  der  an  der  Donau  ein  singendes  Mädchen 
trifft  und  sich  in  sie  verliebt,  beginnt:  'Dum  transirem 
Danubium'  und  endet  :^) 

Tam  dilecta  lectio 

quo  legatur  nescio; 

ex  hoc  participio 

declinatur  cupio. 

Sine  magisterio 

scitur  haec  coniunctio/ 
Was  und  wie  hier  dekliniert  und  konjugiert  ist,  ver- 
steht sich  wohl  von  selbst.    Das  Liebeslied   'Spoliatum 
flore  pratum'  schließt  mit  der  Bemerkung,  daß  die  Liebe 
den  Armen  zurückstößt,  dem  Freigebigen  sich  verbindet:  ^) 

'dum  adquisitivo 
construendi  genere 
se  copulat  dativo.' 


^)  C.  B.  no.  126  p.  200  sq. 

^)  Mone  aus  einer  Lüttidier  Hs.  13.  Jahrhunderts  im  Anzeiger   für  Kunde  der  teutschen 
Vorzeit.  V  (1836)  S.  448. 

')  Die  Arundelsammlunö  S.  31. 


154  Erotisdie  Kasusspielereien 

Die  grammatikalische  Bezeichnung  der  Fälle  kommt 
mehrfach  in  der  Erotik  vor.  Genitivus  ist  bald  der  Ge- 
schlechtsteil, bald  der  Geschlechtsakt  und  der  dem  Koitus 
frönende  Mann.^)  Fast  alle  Kasus  weiß  folgende  spät- 
mittelalterliche Reimerei  mit  der  fleischlichen  Liebe  in 
Verbindung  zu  bringen. 

'  V  o  c  a  t  i  V  o  s  oculos, 
ablativos  loculos 
gerunt  mulieres. 
Si  dativus  fueris 
quandocunque  veneris 
genitivus  eris.' 

So  lautet  in  München  lat.  641  die  'Doctor(is)  Noe 
declina(cio)';  in  einer  Wettinger  Handschrift  vom  Jahre 
1455  mit  Variation  der  letzten  beiden  Kurzzeilen  :^) 

'genitivus  fieri   potueris, 
sed  queris.' 

Bezeichnend  fürs  Mittelalter  ist,  daß  neben  dem  Geni- 
tivus eroticus  ein  Genitivus  mysticus  einhergeht,  daß  die 
grammatischen  Ausdrücke  auch  in  der  theologischen 
Nomenklatur  erscheinen. 

'Prima  declinatio 
casuum  regulatio 
misit  genitivum' 

beginnt  ein  die  Menschwerdung  Christi  behandelnder 
Leich,  den  wohl  ein  junger  böhmischer  Kleriker  er- 
sonnen hat.  ^)  Daß  der  Dichter  in  allen  Versen  die  uns 
für  das  heilige  Thema  unpassend  dünkende  Schul- 
sprache spricht,  soll  uns  hier  nicht  weiter  beschäftigen. 
Bloß  auf  den  Anfang  der  zweiten  Strophe  sei  noch  auf- 
merksam gemacht: 


^)  Vgl.  W.  Meyer,  Die  Oxforder  Gedidite  des  Primas  (1907)  S-  146;  ders-,  Das  erste 
Gedidit  der  Carmina  Burana  :  Nadiriditen  der  K.  Ges.  d.  Wissensdiaften  zu  Göttingen. 
Philol.«hist.  Kl.  1908  S-  190  ff.;  J.  J.  Frantzen  im  Neophilologus.  V  (1920)  S.  69,  181,  357; 
van  Poppel  ebenda  S.  180. 

^)  Vgl.  W.  Wattenbadi  im  Anzeiger  für  Kunde  der  deutsdien  Vorzeit.  XVIII  339; 
Jak.  Werner,  Beiträge  zur  Kunde  der  lateinisdien  Literatur  des  Mittelalters,  Aarau  1905, 
S-  134;  Frantzen  im  Neophilologus.  V  357. 

^)  Analecta  hymnica.  I  83.     Vgl.  dazu  J.  Sdnrijnen  im  Neophilologus.  VI  88  f. 


Liebesgrammatik  1 S5 


'Scribere  clericulis 

cuiictis  cristicolis 

nobis  instat  cura.' 
Man  hat  übersehen,  daß  mit  diesen  Versen  der  Beginn 
des  von  jedem  Studierenden  und  Studierten  gelesenen 
Doctrinale  des  Alexander  de  Villa  Dei  (verfaßt  gegen  1200) 
nachgeahmt  ist.  Und  das  ist  nicht  der  einzige  Fall  von 
poetischer  Verwendung  des  berühmten  Lehrbuches.  Ein 
Vagantenlied  böhmischen  Ursprungs,  das  'Littera  cleri- 
corum  scolipetarum'  betitelt  ist,  hat  den  Anfang  des  Doc- 
trinale als  Einführung:^) 

'Scribere  clericulis  paro  doctrinale  novellis.' 
Ein   aus   demselben  Lande   stammendes  Scholaren- 
bettellied hebt  an: 

'Scribere  clericulis 

verisque  Christi  famulis 

nostrum  est  intentum' 
und   läßt   die   übrigen   Strophen  stets  rnit  Versen   sehr 
bekannter  Hymnen  anfangen.-) 

Wirklich  eine  erotische  Parodie  auf  die  Grammatik 
ist  ein  anscheinend  sogar  für  musikalischen  Vortrag 
bestimmtes  Gedicht,  das  im  Anhang  aus  zv^ei  Münche- 
ner Handschriften  saec.  XHI  und  XHI/XIV  abgedruckt 
wird:  Allen  jungen  Klerikern  schreibe  ich  in  dieser 
Lenzeszeit.  Verlaßt  die  gestrengen  Herren  Doctoren, 
kommt  eiligst  her  zu  mir,  Scholaren,  und  nehmet  fröh- 
lich das  Doctrinale,  das  ich  schreibe,  auf.  Ich  führe 
nicht  die  Rute,  frage  nicht  mit  Schlägen  die  Redeteile 
ab.  Fort  die  Schultafeln!  Lasset  uns  erproben,  wie 
man  mit  jungfräulicher  'Species'  spielt,  was  der  ersten 
und  nicht  der  dritten  Deklination  angehört!  Nun  ist 
es  Zeit,  zu  erkennen,  wie  des  weiblichen  Geschlechtes 
Figur  ist,  was  es  heißt  zu  flektieren  mit  den  Töchtern 
der  Venus,  was  'Copula,  Goniunctio,  Interiectio'  be- 
deutet,   wenn    sich    die    Glieder    ineinander    schlingen. 

Vom    Xachtigallengesang   hallen   die   Wälder  wider,   in 

* 

1)  Feifalik  in  den  Sitz»Ber.  der  Kaiserl.  Akad.  d.  Wiss.  Philos.=hist.  Kl.  XXX VI  (1861) 
S.  187. 

^)  Feifalik,  a.  a.  Q.  S.  185. 


156  Liebeskonzil  von  Remiremont 


Blüten  prangen  die  Wiesen.  Gern  geben  sich  die  Mäd- 
chen neuen  Umarmungen  hin.  Welcher  Art,  lernet  das; 
welcher  Form,  suchet  das  und  welcher  Qualität.  Da 
im  Praesens  die  erste  Konjugation  lautet  'amo,  amas, 
amat',  wollen  wir  sie  eifrig  lernen.  Schule  sei  uns  der 
schattige  Hain,  Buch  des  Mädchens  Angesicht,  das  uns 
zur  Lektüre  ladet.  Wenn  im  Plural  man  zum  Tanze 
schreitet,  wenn  Lieder  ertönen  und  das  Echo  erklingt, 
dann  schmiege  sich  Leib  an  Leib  nun  fest,  nun  voll 
Bewegung. 

'Hie  instat  disputacio, 

vincant  promissis  precibus 

non  tandem  ludo  pari. 

Amoris  sit  relacio, 

sit  fervor  in  amplexibus, 

dum  demum  verno  tempori 

iam  pratis,   campis,  nemori 

potestis  colluctari.' 

Die  kirchlichen  Sitten  und  Einrichtungen  parodiert 
zwecks  scherzhafter  Beantwortung  der  Frage,  ob  in 
der  Liebe  der  Kleriker  oder  der  Ritter  den  Vorzug  ver- 
diene, eine  Dichtung  aus  der  Mitte  des  12.  Jahrhunderts, 
die  ein  grelles  Licht  auf  die  in  der  Diözese  Toul  einge- 
rissene sittliche  Verwilderung  wirft:  das  sog.  Liebes- 
konzil   von    Remiremont.^) 

'Verls  in  temporibus  sub  Aprilis  idibus 

habuit  concilium  Romarici  moncium 

puellaris  concio  montis  in  cenobio. 

Tale  non  audivimus  nee  fuisse  credimus 

in  terrarum  spacio  a  mundi  principio, 
tale  nunquam  factum  est,       sed  neque  futurum  est. 

In  eo  concilio  de  solo  negocio 

amoris  tractatum  est,  quod  in  nullo  factum  est.* 

l)  Kritische  Ausgabe  von  W.  Meyer  in  den  Nachrichten  der  K.  Ges.  d.  Wiss.  zu 
Göttingen.  Phil.=hist.  Kl.  1914.  Man  beachte  auch  die  von  Meyer  nicht  zitierten  ausländischen 
Arbeiten:  E.  Langlois,  Origines  et  sources  du  roman  de  la  rose,  Paris  1890,  p.-6  sqc[.; 
F.  W.  Warren  in  Modern  language  notes.  XXII  (1907)  p.  137  sqq.;  Gh.  Oulmont,  Les  d6bats 
du  clerc  et  du  chevalier,  Paris  1911,  p.  93  sqq.;  E.  Faral,  Recherdhes  sur  les  sources  lat.  des 
contes  et  romans  courtois,  Paris  1913,  p,  210  sqq.  Ferner  H.  Walther,  Das  Streitgedicht  In 
der  lat.  Literatur   des  Mittelalters,  München  1920,  S.  145  f. 


Liebeskonzil  von  Remircmont  157 

Kein  Mann  erhält  Einlaß,  wenigstens  kein  Laie,  nur 
die  Kleriker,  die  von  weither  kommen.  Auch  alten 
Frauen  ist  der  Zutritt  verboten.  Sorgsam  bewacht  Si- 
bilia,  von  früh  an  eine  treue  und  freudige  Venusdienerin, 
die  Pforte.  Nachdem  sich  alle  versammelt  haben,  wer- 
den feierlich  als  'quasi  evangelium'  die  'Praecepta  Ovidii 
doctoris  egregii'  von  Eva  de  Danubrio  verlesen.  Der 
Chor  der  Jungfrauen  läßt  Liebeslieder  folgen.  Dann 
erhebt  sich^)  die  prächtig  gekleidete  Cardinalis  domina, 
die  wohl  nicht  absichtslos  mit  sonst  namentlich  für 
Maria  gebrauchten  Beiwörtern  'virgo  regia',  'mundi  flos 
et  gloria'  genannt  wird,  und  verkündet,  daß  Amor,  der 
Gott  aller,  ihr  den  Auftrag  gegeben  habe,  das  Leben 
der  Versammelten  zu  prüfen  und,  wo  nötig,  zu  bessern. 
Als  erste  Sprecherin  ergreift  Elisabeth  de  Oranges  das 
Wort  und  bekennt,  daß  sie  sich  gemäß  der  Regel  (!) 
keinem  Manne  verbunden  habe,  —  er  sei  denn  von 
ihrem  Orden,  d.  h.  ein  Geistlicher  gewesen.  Elisabeth 
de  Falcon  bricht  in  ein  begeistertes  Lob  der  Kleriker 
aus  und  schilt  die  verwerfliche  Liebe  zu  den  Rittern, 
von  der  sie  sich  nach  kurzer  schlechter  Erfahrung  in 
die  Arme  des  Klerikers  zurückgezogen  habe,  und  Agnes 
schließt  sich  an.    Hertha  erklärt: 

'Amor,  deus  omnium,  iuventutis  gaudium, 
clericos  amplectitur  et  ab   eis  regitur. 
Tales  ergo  diligo,  stultos  quoque  negligo.' 

Die  Kardinälin  lobt  ihre  Ansichten.  Doch  nun  be- 
ginnen die  Freundinnen  der  Ritter,  rühmen  die  waffen- 
kundigen Liebhaber,  die  für  ihre  Damen  ohne  Todes- 
furcht kämpfen.  Ein  Disput  entspinnt  sich,  bei  dem 
die  liebenden  Geistlichen  von  neuem  begeistert  gepriesen 
werden,  bis  die  Kardinal  in  zum  Urteilsspruch  auf- 
fordert. Das  Konzil  entscheidet  sich  für  die  Kleriker. 
Die  Cardinalis  domina  bedroht  alle  mit  Strafe,  die  sich 
künftig  mit  Rittern  einlassen  würden.  Es  folgt  die  Con- 
firmatio  von  selten  des  Konzils  und  eine  scherzhafte 
Exkommunikation  mit  fürchterlichen  Verwünschungen. 

M  Idi  wiederhole  z.  T.  Walthers  Inhaltsangabe. 


158 


Liebeskonzil  von  Remiremont 


'Quicquicl  vestra  probitas    firmat  et  auctoritas, 


nuncietur  alias 
Nostrisque  sororibus, 
faciamus  cognitum, 
Oninia,  que  diximus 
non  ullo  sophismate 
Sed  racionabiliter 
iiisl  sie  peniteant, 
Hiüus  banni  racio 
isitur  attendite. 


per  omnes  ecclesias. 
puellis  claiistralibus 
quid  Sit  eis  vetitum. 
et  que  confirmavimus, 
sint  sub  anathemate. 
fiat  et  perhenniter, 
clericis  ut  faveant. 
vestro  sit  consilio: 
Amen !   Amen !    dicite. 


Excommunicacio : 
Vobis  iussu  Veneris  et  ubique  ceteris. 


que  vos  militaribus 
maneat  confusio, 
labor,  infelicitas, 
timor  et  tristicia, 
fex  insipiencie, 
dedecus  et  tedium 
furiarum  species, 
Luna,  Jovis  famula, 
propter  ista  crimina 
Sic  sine  solamine 
NuUa  dies  celebris 
Ira  Jovis  celitus 
Huius  mundi  gaudia 
Omnibus  horribiles 
semper  sitis  clericis 
Nemo  vobis  etiam 
Vestra  quoque  gaudia 
Vobis  sit  intrinsecus 
Vivatis  cotidie 
Pudor,  ignominia 
Laboris  et  tedii 
sed  si  quid  residuum, 
nisi  spretis  laicis 
Si  qua  penituerit 
dando  penitentiam 
Ad  confirmacionem 


subditis  amoribus, 
terror  et  contricio, 
dolor  et  anxietas, 
bellum  et  discordia! 
cultus  inconstancie, 
longum  et  obprobrium, 
luctus  et  pernicies! 
Phebus,  suus  vermula, 
negent  vobis  lumina! 
careatis  lumine! 
trahat  vos  de  tenebris! 
destruat  vos  penitus! 
vobis  sint  obprobria! 
et  abhominabiles 
que  favetis  laicis! 
ave  dicat  obviam! 
sint  sine  concordia! 
dolor  et  extrinsecus! 
in  lacu  miserie! 
vobis  sint  per  omnia! 
vel  pudoris  nimii, 
sit  vobis  perpetuum. 
faveatis  clericis! 
atque  satisfecerit, 
ccnsequetur  veniam. 
omnes  dicimus:   Amen.* 


Liebesdekrete;  Liebesversammlungen  159 


Wenn  in  dieser  ausgelassenen  Dichtung  die  Liebes- 
poesie Ovids  als  Evangelium  hingestellt  wird,  so  cha- 
rakterisiert das  gut  die  Autorität,  die  jener  antike  Dichter 
im  12.  Jahrhundert  besaß  und  hat  ein  Seitenstück  z.  B. 
in  Versen  auf  einen  eifersüchtigen  Priester,  die  uns 
durch  einen  Vorauer  Codex  überliefert  sind:^) 

'Prespiter  Algere  tibi  consilium  dare  vellem, 
si  velles  nostro  cedere  consilio. 
De  mutiere  tua  Walpurgi  quam  tenuisti 
per  longum  tempus  longa  querela  tibi 


Hoc   in   decretis   pape   Nasonis   habetur, 
quod  mulier  plures  possit  habere  viros. 
Hoc  tu  decretum  firmum   sub  pectore  serva, 
ne  sis  catholica  pulsus  ab  ecclesia.' 
Also  auch  in  der  Erotik  Dekretparodien. 

Neben  das  Liebeskonzil  von  Remiremont  sind  ferner 
als  Pendants  zu  halten  die  Satiren,  in  denen  Priester 
auf  Synoden  und  in  Kapitelsversammlun- 
gen gegen  ein  Verbot  Konkubinen  zu  haben 
auftreten. 

Da  die  ebenso  interessante  wie  schwierige  .Überliefe- 
rung noch  nicht  untersucht  ist  und  hier  nicht  be- 
sprochen werden  kann,  halten  wir  uns  an  die  Texte 
in  Wrights  Ausgabe  der  Mapesgedichte.  Es  handelt  sich 
um  drei  Gedichte: 2) 

1.  'Prisciani  regula  penitus  cassatur'; 

2.  'Clerus  et  presbyteri  nuper  consedere'; 

3.  'Rumor  novus  Angliae  partes  pergiravit'. 

Sie  stimmen  verschiedentlich  im  Wortlaut  überein 
und  gehen  vielleicht  alle  auf  eine  Satire  zurück,  die 
erst  nach  genauer  Prüf ung  der  sonstigen  Textzeugen  und 
nach  sorgfältiger  Einzelinterpretation  wird  klar  heraus- 
geschält werden  können.  Rhythmus  und  Sprache  passen 
ins  12./13.   Jahrhundert.    Den  historischen  Hintergrund 

^)  Ardiiv  d.  Ges.  f.  altere  deutsche  Gesdiiditskunde.  X  627. 
^)  L.  c  p.  171  sqq. 


1 ÖO  Liebesversammlungen 


bildet  die  Zeit,  wo  Alexander  III.  und  Innozenz  III.  den 
schon  von  Leo  IX.  und  Gregor  VII.  geführten  Kampf 
für  den  Priesterzölibat  energisch  wiederbelebt  hatten. 
Der  Konkubinat  hatte  sich  besonders  fest  in  England 
eingenistet.  Aus  England  stammt,  was  die  Überlieferung 
und  die  Anfangszeile  'Rumor  novus  Angliae'  usw.  zeigen, 
bestimmt  das  Gedicht  'De  convocatione  sacerdotum'.  In 
den  ersten  sieben  Strophen  weiß  der  Satiriker  unsere 
Aufmerksamkeit  zu  fesseln  durch  die  Erzählung,  wie  auf 
das  Gerücht  von  einem  Erlaß  des  Papstes  oder  seines 
Legaten  mehr  als  zehntausend  Priester  von  allen  Seiten 
zusammeneilen  und  sich  auf  einer  großen  Wiese  zu 
einem  Konzil  vereinigen. 

'Posito   silentio  pax  tranquilla  datur, 
surgit  quidam  veterum  primitus  et  fatur' 
"Fratres,  vobis  omnibus  legatus  minatur, 
et  post  minas  metuo,  quod  peius  sequatur. 
Pro  nostris  uxoribus  sumus  congregati. 
Videatis  provide,  quod  sitis  parati, 
ad  mandatum  domini  papae  vel  legatt 
respondere  graviter  ne  sitis  dampnati." 

Und  nun  bringt  einer  nach  dem  anderen  vor,  daß  und 
warum  er  an  seiner  Konkubine  festhalten  wolle.  Der 
Schluß  ist  leider  nicht  vollständig  in  Wrights  Hand- 
schriften. Schon  deshalb  ist  es  von  Wert,  daß  wir  in 
der  'Clerus  et  presbyteri  nuper  consedere'  beginnenden 
'Consultatio  sacerdotum'  eine  ausführliche  Variation  des- 
selben Themas  haben.  Der  Schauplatz  ist  dieses  Mal 
eines  Stiftes  Kapitelsaal.  Nicht  weniger  als  30  geben 
ihrer  Meinung  über  den  Befehl,  die  Kebsen^),  zu  ent- 
fernen, lebhaften  Ausdruck,  zuerst  der  Dekan,  dann  der 
im  kanonischen  Recht  erfahrene  Doctor  capituli,  der 
Kantor,  Kellermeister,  Scholastikus,  Baumeister  und 
alle  möglichen  Priester.  Außer  einem  zitterigen  Greise 
schimpfen  oder  spotten  sie  alle  und  weigern  sich  zu 
gehorchen.  Vielerlei  Ausreden  werden  vorgebracht  unter 

*)  Es  sind  nidit  (oder  nidit  aussdiließlidi)  die  Ehefrauen  der  Geistlichen  niederen  Grades 
gemeint. 


Liebesversammlungen  161 


komischer  Berufung  auf  die  Bibel,  auf  das  Recht,  die 
Natur,  auf  persönliches  Belieben.    So  v.  53  ff.: 

'Venit  ad  presbyteros  ordo  circularis. 

Primus  in  urbe  fuit  olim  curialis 

atque  in  iure  canonum  tritus  et  vocalis. 

Huius  ergo  allegatio  erat  talis.' 

"Credo  quod  hanc,  domini,  nostis  Clementinam: 
omnis  debet  clericus  habere  concubinam. 
Hoc  dixit  qui  coronam  gerit  auro  trinam, 
hanc  igitur  retinere  decet  disciplinam." 
Was    da    zitiert    und    parodiert   wird,    ist    vermutlich 
Canon  6    der    Papst    Klemens    I.    zugeschriebenen,    von 
Dionysius  Exiguus  übersetzten  Canones  apostolorum:^) 
'Episcopus  aut  presbyter  uxorem  propriam  nequaquam 
sub    obtentu    religionis    abiiciat.     Si   vero    reiecerit,    ex- 
communicetur,  sed  et  si  perseveraverit,  deiiciatur.'    Ein 
anderer  Priester  beruhigt  sich  und  seine  Genossen,  v. 
86  sqq.: 

"Non  opus  est"  dicens  "hoc  nobis  timere. 
Qui  nos  ab  uxoribus  iubet  abstinere, 
debet  in  redditibus  plura  providere." 

'Nonus  ait'  (v.  93  sqq.)  "Veterem  non  dimitto  morem. 
Dedit  mihi  calidum  natura  cruorem, 
oportet  me  vivere  carnis  per  laborem, 
nolo   propter  animam  linquere  uxorem." 

Der  philosophisch  Geschulte  erklärt  gewichtig,  v. 
122  sqq. : 

"Omne  Quare",  ait,  "habet  suum  Quia. 
Si  mihi  mea  famula  toUitur  e  via, 
extra  volo  alere  scorta  pulcra  tria." 

Den  Schluß  macht  der  Prediger,  v.  145  sqq.  Unmög- 
Uch  billige  der  Schöpfer,  daß  der  Priester  aufhören 
müsse,  die  Frauen  zu  lieben,  für  die  der  Heiland  am 
Kreuze  gestorben  sei.  Zacharias  habe  eine  Frau  und 
einen  Sohn,*  Johannes  den  Täufer,  Christi  Vorläufer,  ge- 

')  Migne,  Patrol.  lat.  CXXX  15. 
Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  11 


1 62  Liebesversammlungcn 


habt,  David  noch  im  hohen  Alter  der  Liebe  sich  hin- 
gegeben, Gott  den  Unfruchtbaren  verdammt.  Wie  der 
Hund,  der  einmal  Fleisch  gestohlen  habe,  nicht  auf- 
hören könne  und  sich  nicht  fürchte,  so  kümmere  sich 
der  an  nächtliches  Liebesringen  gewöhnte  Kleriker  nicht 
um  die  Drohungen  und  Strafen  des  Präsul,  v.  165  sqq.: 

"Coram  tota  curia  papa  declaravit 
sacerdotem,  qui  hie  et  haec  et  hoc  declinavit, 
omnem  non  generantem  excommunicavit, 
ex  sorore  filium  ipse  procreavit. 

Quod  papa   concesserat,   quis  potest  vetare? 
Cuncta  potest  solvere  solus  et  ligare, 
laborare  rusticos,  milites  pugnare 
iussit,  at  praecipue  clericos  amare. 

Habebimus  clerici  duas  concubinas, 
monachi,  canonici  totidern  vel  trinas, 
decani,  praelati  quatuor  vel  quinas. 
Sic  tandem  leges  implebimus  divinas." 

Worauf  die  Verse  'Coram  tota  curia  —  procreavit'  Be- 
zug nehmen,  ist  mir  noch  nicht  klar.  Es  scheint  Persi- 
flage eines  bestimmten  Dekrets  vorzuliegen.  Die  Zu- 
weisung an  Deutschland,  die  in  der  Histoire  litteraire  de 
la  France^)  versucht  wird,  ist  unbegründet.  Daß  man 
bei  uns  das  Spottgedicht  kannte  und  kopierte,  z.  B.  auch 
in  einer  braunschweigischen  Chronik,^)  beweist  nichts 
für  die  Herkunft.  Daß  man  es  um  1545  als  Mittelstück 
einer  modernen  Konzilsparodie  drucken  ließ,^)  zeugt  für 
die  Dauer  seiner  Beliebtheit 

Angesichts  der  nahen  Verwandtschaft  mit  dem'  sicher 
englischen  Gedichte  'De  convocatione  sacerdotum'  sehe 
ich  einstweilen  keinen  hinreichenden  Grund,  von  der 
Annahme  englischer  Herkunft  auch  der  Consultatio  ab- 

')  XXII  151  sq. 

^)  Vgl.  H.  Deiter  in  der  Zeitschrift  der  Gcsellsdiaft  für  niedersädisische  Kirchengeschidite. 
XVIII  (1913)  S.  231  ff.  Von  den  sonstigen  Handschriften  und  Drudcen  des  Gedichtes  sagt 
Deiter  gar  nichts. 

'■")  Vgl.  O.  Giemen  im  Zentralblatt  für  Bibliothekswesen.  XXXIX  (1922)  S.  103  f.  Weife 
selbst  Giemen  nichts  von  der  mittelalterlichen  Verbreitung? 


Liebcsversammlungcn  1 Ö3 


zugehen.  Über  die  Entstehungszeit  sagt  H.  Walther  :^) 
„Man  hat  angenommen,  daß  sich  das  Gedicht  auf  einen 
Konzilsbeschluß  von  1205  beziehe-  ich  möchte  eher 
glauben,  daß  es  sich  um  eine  bischöfliche  Verordnung 
handele,  doch  dürfte  die  Zeit  etwa  durch  jenen  Kon- 
zilsbeschluß gegeben  sein."  In  der  Jahreszahl  hat  Wal- 
ther denselben  störenden  Fehler  wie  E.  Du  Meril^)  und 
M.  Haeßner.  ^)  Bekanntlich  ist  der  14.  Kanon  des  zwölf- 
ten ökumenischen  Konzils,  der  von  Papst  Innozenz  III. 
einberufenen  Lateransynode  von  1215  gegen  die  'Incon- 
tinentia' der  Geistlichen  gerichtet.  H.  Walthers  Voraus- 
setzung einer  bischöflichen  Verordnung  ist  begreiflich, 
da  die  betrübten  'Clerus  et  presbyteri'  im  Kapitel 
nirgendwo  gegen  ein  Konzil  oder  direkt  gegen  den  Papst 
Stellung  nehmen,  sondern,  was  Walther  deutlicher  hätte 
sagen  sollen,  von  dem  Mandat  ihres  Traeses  vel  lega- 
tus'  (v.  3,  11)  sprechen.  Wir  nehmen  hinzu,  daß  auch 
in  der  Fassung  'Rumor  novus  Angliae'  ein  Legat  be- 
kämpft wird.  Es  kann  sich  darum  handeln,  daß  ein 
päpstlicher  Bevollmächtigter  zu  dem  Beschluß  der  La- 
teransynode von  1215  scharfe  Ausführungsbestimmungen 
erlassen  hatte.  Jedoch  habe  ich  derartige  Verfügungen 
für  die  englische  Kirche  jener  Jahre  nicht  zu  finden 
vermocht.  Dagegen  gibt  es  aus  anderen  Zeiten  des 
13.  Jahrhunderts  mehrere  Erlasse  päpstlicher  Legaten, 
worin  ausdrücklich  —  was  1215  auf  dem  ökumenischen 
Konzil  nicht  geschah  —  die  Vertreibung  der  Priester- 
frauen verlangt  wird,  so  aus  den  Jahren  1200,  1246,  1268. 
Ich  ziehe  es  vor,  die  beiden  Gedichte  mit  dem  Jahre 
1200  in  Verbindung  zu  bringen:  Auf  dem  Landeskonzil 
von  London  ö)  erneuerte  1200  Hubert,  Erzbischof  von 
Canterbury  (f  1205),  das  die  Abschaffung  der  Priester- 
weiber   fordernde    päpstliche    Dekret^)    von    1179.     Hu- 

M  Streitgedicht  S.  143. 

^)  Po6sies  populaires  latines  du  moyen  age,  Paris  1847,  p.  179- 

^)  Die  Goliardendiditung  und  die  Satire  im  13.  Jahrhundert  in  England,  Leipzig  1905,  S.  32  ff. 

*)  Vgl.  Concilia  magnae  Britanniac,  ed.  Wilkins.  I  (1737)  p.  692-,  II  5. 

^)  Vgl.  Roger i  de  Hoveden  dironica,  ed.  W.  Stubbs.  IV  134. 

^)  Die  englischen  Chronisten  haben  nidit  versäumt  das  zu  notieren-,  vgl.  beispielsweise 
Rogeri  de  Hoveden  diron.  II  186;  Benedict  of  Peterborough,  Gesta  regis  Henrici  secundi, 
ed.  Stubbs.  I  234. 

11* 


1 64  Konkubinenkapitel 


bert  war  Legat  von  Innozenz  III.  Dieser  Papst  aber  ist 
Zeit  seines  Lebens  ein  Verfechter  der  Sittenreinheit 
und  des  Zölibats  der  Geistlichkeit  gewesen.  Diesem 
Papst  überreichte  um  1200  Giraldus  Cambrensis  seine 
'Gemma  ecclesiastica',  wo  in  Dist.  II  cap.  6  gegen  die 
rigorose  Handhabung  der  Zölibatsverpflichtung  polemi- 
siert wird.  Dieser  Papst  kommt  in  der  Satire  'Prisciani 
regula  penitus  cassatur',  die  sich  an  mehreren  Stellen 
bald  mit  dem  Schwank  vom  Priesterkonzil,  bald  mit 
dem  von  der  Kapitelsversammlung  deckt,  in  folgenden 
Versen  vor:  ^) 

'Non  est  Innocentius,  immo  nocens  vere, 
qui  quod   Dens   docuit,   studet  abolere; 
iussit  enim  Dominus  feminas  habere, 
sed  hoc  noster  pontifex  iussit  prohibere.' 
Im   Codex  latinus  215   saec.  XV  der   Staatsbibliothek 
München  begegnete  mir  f.  60^  nach  dem  besprochenen 
Gedichte  vom  Kapitel  der  Priester  ein  bisher  anschei- 
nend nicht  gedrucktes  und  nicht  erörtertes  Poem^)  von 
15   Konkubinen,   die  sich  wie  vorher  die  15  Presbyter 
in  feierlicher  Versammlung  gegen  das  Verbot  des  Zu- 
sammenwohnens  der  Geistlichen  mit  Frauen  wehren. 
'Alias   dum    synodum    clericis    celebraret 
et  tunc  cunctis  clericis  episcopus  mandaret, 
ne  quis  in  hospicio  feminam  servaret, 
per  quam  coram  populo  sese  defamaret, 
mulieres   quindecim   illud   perceperunt, 
clericorum  lectulis  que  attenuerunt. 
Hoc  mandatum  presulis  minus  egre  ferunt, 
propter  quod  capitulum  inter  se  fecerunt.' 
Parodistisch   ist  vor  allem,   wie  die   Fünfzehnte   auf- 
tritt und  spricht: 

'Surgit   quintadecima,    omnium   magistra, 
cui  multum  nota  sunt  codicum  registra, 
tangens  evangelia  dextra  et  sinistra. 
Dixit  "Ego  Veneris  sancte  sum  ministra, 

.      ^)  Wright  p.  172. 

2)  Überliefert  auch  in  Mündhen  lat.  14634  f.  3  und,  wie   idi  von  Dr-  L.  Bertalot  erfuhr, 
in  Göttingen  Luneb.  2  f.  221  ;  Leipzig  Univ.  1369  f.  146  V. 


Satire  auf  die  Frauen  165 


me  Venus  edocuit  plurimum  amores. 
Quod  nullus  nos  audiat,  reclaudantur  fores. 
Vos  capitulariter  docebo  sorores, 
nolite  metuere  tarn  varios  errores. 
Oportebit  clericos  ferre  disciplinam, 
quoniam  precipitur  legem  per  divinam, 
ne  ad  donium  clericus  sumat  concubinam. 
Nullus  tarnen  cogitur  odire  vicinam". 
Das    „Konkubinenkapiter'    kann    schon    im    13.    Jahr- 
hundert gedichtet  worden  sein. 

Mit  den  kirchlichen  Beschlüssen  gegen  die  Priester- 
ehe haben  E.  du  MeriP)  und  M.  Haeßner^)  eine  derb- 
humoristische Satire  auf  das  weibliche  Ge- 
schlecht verknüpft,  die  in  vielen  z.  T.  noch  zu 
untersuchenden  Handschriften  und  Drucken,  auch  in 
englischen  und  französischen  Übersetzungen  des  Mittel- 
alters auf  uns  gekommen  ist.^)  Du  Meril  war  der  Mei- 
nung gewesen,  der  Dichter  hätte  in  religiöser  Absicht 
die  Bestimmungen  des  Konzils  von  1215  poetisch  sanktio- 
nieren und  dem  Klerus  das  Heiraten  verleiden  wollen. 
Haeßner  glaubte  ebenfalls,  daß  diese  Laterans^mode  den 
Anlaß  gegeben  hätte,  bezweifelte  aber  —  mit  Recht!  — 
die  kirchliche  Tendenz  des  Gedichtes.  „Wir  können  uns 
nicht  vorstellen,  daß  ein  Geistlicher,  auch  wenn  er  sicli 
drastischer  Beispiele  bediente,  um  auf  das  Publikum 
abschreckend  zu  wirken,  zu  solch  unmoralischen  Schil- 
derungen griff,  wie  sie  unsere  Satire  enthält,  sehr  wohl 
aber,  daß  den  Goliarden  die  ganze  damalige  Zölibats- 
bewegung, sowohl  die  Ursachen  als  auch  die  Wirkun- 
gen, eine  willkommene  Zielscheibe  war. Es  hat 

vielmehr  den  Anschein,  als  ob  die  Satire  ein  Spott- 
gedicht auf  die  Bemühungen  der  Geistlichen  gewesen 
ist,    welche    es  unternahmen,    in  poetischen  wie  prosa- 

')  L.  c  p.  179 

'')  a.  a.  O.  S.  34  f. 

^)  Viele  Codices'saec  XIII-XV  und  Drudcc  saec  XVI  in.  -XIX  sind  verzeidinet  in  der 
Biblioth^que  de  TEcole  des  diartes  1886  p.  95 ;  bei  L.  Bertalot,  Humanistisches  Studienheft 
eines  Nürnberger  Scholaren,  Berlin  1910,  S-  74  f.;  bei  M.  Esposito  in  The  English  Historical 
Review.  XXXII  (1917)  p.  400.  Die  meist  benutzten  Ausgaben  sind  die  von  Th.  Wright,  Poems 
attrib.  to  Walter  Mapes  p.  77  sqq.  und  E.  du  Meril,  Poesies  populaires  (1847)  p.  179  sqq. 


166  Satire  auf  die  Frauen 


ischen  Schriften  die  Eiie  als  unvereinbar  mit  dem  geist- 
lichen Beruf  hinzustellen."  Diese  Vermutungen  be- 
dürfen der  Prüfung:  Für  sie  spricht,  daß  in  den  Versen 
Petrus  de  Corbolio  auftritt: 

'Petrus  de  Corbolio  uxorem  fragilem 
probat,  Laurentius  stultam  et  labilem 


Datur  potentia  P.  de  Corbolio, 

quae  notat  firmitas  et  petrae  ratio; 

Hie  prius  loquitur  de  matrimonio 

et  de  nubentium  labore  vario, 
Pierre  de  Corbeil  war  ein  Pariser  Lehrer  des  Papstes 
Innozenz  III.  und  1199 — 1222  Erzbischof  von  Sens.  Es  ist 
möglich,  daß  dieser  Mann,  dem  große  Sittenreinheit  nach- 
gesagt wurde  und  der  bei  den  Goliarden  wegen  seiner 
Reform  ^)  des  Officium  festi  stultorum  nicht  sehr  beliebt 
gewesen  sein  dürfte,  sich  irgendwie  in  auffälliger  Weise 
über  die  Ehe  ausgesprochen  hat.  Ob  vor  oder  nach  dem 
Konzil  von  1215  und  überhaupt  im  Zusammenhange  mit 
den  Bestrebungen  des  Papstes  muß  noch  dahingestellt 
bleiben.  Gleichwohl  halte  ich  es  schon  jetzt  für  falsch, 
die  Satire  ein  Spottgedicht  gegen  die  schriftliche  oder 
mündliche  Bekämpfung  der  Priesterehe  zu  nennen.  Nir- 
gendwo in  all  den  Versen  ist  die  Verheiratung  der  Geist- 
lichen angegriffen  oder  empfohlen  oder  auch  nur  er- 
wähnt. Die  Ehe  und  die  Ehefrau  schlechthin  werden  in 
den  Staub  gezogen.  Der  Goliarde  trägt  die  gar  oft  im 
Mittelalter  gegen  die  Frau  erhobenen  Anklagen  vor,  und 
zwar  humoristisch,  um  Lachen  zu  erregen,  v/eniger 
Lachen  über  Eiferer  als  das  Vergnügen  derer,  die  der 
Weiber  Schwächen  kennen,  selbst  zu  heiraten  sich 
scheuen  oder  die  eigene  Ehe  bereuen  und  stets  die  Reize 
der  Frauen  anderer  zu  schätzen  wissen.  Parodistisch 
arbeitet  er  insofern,  als  er  sein  lustiges  Poltern  mit 
einem  frommen  W^unsch  einleitet: 

'Sit  Deo  gloria,  laus,  benedictio 

Johanni,  pariter  Petro,  Laurentio, 

^)  \'gt.  H.  Villetard,  Office  de  Pierre  de  Corbeil.  Paris  1907. 


Satire  auf  die  Frauen  167 


quos  misit  triiiitas  in  hoc  iiaufragio, 
ne  me  permitterent  uti  coniugio', 

sich  scheinbar  der  Argumente  des  Peter  von  Corbeil 
und  anderer  Streiter  für  die  Moral  bedient  und  seine 
Warnungen  vor  der  Ehe  einkleidet  in  eine  Erscheinung 
dreier  Engel  im  Tale  Mambre.  Man  soll  an  die  Er- 
zählung von  Genesis  XVIII  denken,  wonach  dem  Erz- 
vater Abraham  in  jenem  Tale  drei  Engel  entgegentraten 
und  ihm  verkündeten,  daß  seine  Frau,  die  alte  Sara, 
ihm  endlich  einen  Sohn  gebären  werde.  Die  Engel  in 
der  Satire  reden  von  der  Mangelhaftigkeit  der  Ehe- 
frauen. Daß  der  eine  nach  dem  Erzbischof  von  Sens 
Petrus  genannt  wird,  ist  schon  besprochen.  Warum  der 
Zweite  Laurentius  heißt,  ist  nicht  klar.  Wenn  Wright, 
Du  Meril  u.  a.  ihn  mit  Laurentius  von  Durham  identi- 
fizieren und  glauben,  daß  der  Satiriker  auf  ein  Gedicht 
dieses  Mannes  anspiele,  das  in  einem  Vossianus  erhalten 
sei,  laufen  sie  nutzlos  im  Kreise  herum;  denn  die  'Ver- 
sus Laurentii  de  dissuasione  coniugii'  des  fraglichen 
Codex  Leiden  Voss.  Lat.  Fol.  31  f.  222^  sind  nichts  anderes 
als  das  Gedicht  'Sit  Deo  gloria,  laus,  benedictio'  selbst.^) 
Von  dem  Dritten,  von  Johannes,  wird  v.  28  gesagt  'os 
habens  aureum',  in  v.  123  dagegen  'hie  sicut  aquila  videt 
subtilia'.  Man  setzt  ihn  also  einmal  mit  Johannes  Chry- 
sostomus,  das  andere  Mal  mit  dem  Evangelisten  Johannes 
gleich.  Häßners  Meinung,  die  Dichtung  müsse  nach 
dem  Tode  des  Petrus  de  Corbolio  entstanden  sein,  da 
der  Goliarde  einen  Lebenden  in  solcher  Weise  nicht 
lächerlich  zu  machen  gewagt  haben  würde,  halte  ich 
für  falsch.  Ist  Petrus  selbst  etwa  der  Verfasser?  Man 
hat  es  behauptet,  in  neuerer  Zeit  (1860)  Ed.  Tricotel  in 
einer  mir  nicht  zugänglichen,  von  U.  Chevalier  in  der  Bio- 
Bibliographie  II  3706  zitierten  Studie,  bereits  früher  im 
Codex  latinus  2962  der  Nationalbibliothek  Paris  ^)  und  in 
undatierten  Inkunabeldrucken.  ^)  Von  einem  dieser  Drucke 

^)  Vgl.  die  Besdireibung  durdn  L.  Delis'.e  in  den  Notices  et  extraits.  XXXVIII  741  sq. 
®)  Vgl.  Nouvelle  biographie  universelle  XI  771. 
3)  Hain  5690  u.  11623. 


lös  Satire  auf  die  Frauen 


(Hain  11623)  habe  ich  das  mir  von  der  Auskunftsstelle 
der  deutschen  Bibliotheken  nachgewiesene  Exemplar  der 
Berliner  Staatsbibliothek  in  der  Universitätsbibliothek 
München  benutzen  können.  Als  zweites  Stück  steht 
darin  das  Gedicht  'Sit  Deo  gloria,  laus,  benedictio'  mit 
sehr  viel  mehr  Versen  als  Wright  bietet  und  mit  dem 
Titel  'Remedium  contra  concubinas  et  coniuges  per  mo- 
dum  abbreviationis  libri  Matheoli  a  Petro  de  Corbolio 
archidiacono  Senonensi  et  eins  sociis  compilatum'.  Die 
Bezeichnung  'Remedium*  =  Heilmittel  ist  natürlich 
scherzhaft  gemeint  und  ist  jung.  Als  Exzerpt  aus  einem 
Buch  des  Matheolus  geht  das  Poem  entweder  deshalb, 
weil  Mattioli  ein  berühmter  italienischer  Arzt  des 
15.  Jahrhunderts  gewesen  ist,  von  dem  mehrere  Werke 
frühzeitig  gedruckt  wurden,  i)  oder  weil  kurz  vor  1300 
ein  Matthäus  von  Boulogne  eine  erfolgreiche  Satire 
gegen  die  Frauen  verfaßt  hatte,  die  im  15.  Jahrhundert 
als  'Lamentationes  Matheoli'  wohlbekannt  waren.  2)  Die 
Ansicht,  daß  Peter  von  Corbeil  das  Gedicht  verfaßt 
hätte,  ist  einfach  aus  dem  Vorkommen  des  Namens  in 
den  Versen  fälschlich  erschlossen.  Die  von  A.  Molinier^) 
als  wahrscheinlich  hingestellte  Zuweisung  an  Walter 
Map  ist  ebenso  unglaubhaft.  Wieviel  Wahres  in  dem 
ironischen  Titel  'Guillelmi  Loret  XV  gaudia  matrimonii' 
steckt,  der  in  dem  Mazarincodex  3890  saec.  XV  aufge- 
führt wird,  entzieht  sich  bisher  meiner  Beurteilung. 

Ein  außerordentlich  oft  im  Mittelalter  abgeschriebenes 
frauenfeindliches  Gedicht  etwa  des  12.  Jahrhunderts  be- 
ginnt gewöhnlich  mit  den  Hexametern 

'Arbore  sub  quadam  dictavit  clericus  Adam, , 
quomodo  primus  Adam  peccavit  in  arbore  quadam' 
und  parodiert  so  die  Dichter,  die,  wenn  sie  auf  'Adam' 

^)  Vgl.  Hain  10905  f. 

^)  Herausgegeben  und  erläutert  durdi  A.  G.  van  Hamel,  Paris  1892  u.  1905,  im  95-  u. 
96.  Fascicule  der  Bibliotheque  de  l'Ecole  de  Hautcs  Etudes. 

^)  Catologue  des  manuscrits  de  la  Bibliotheque  Tvlazarine.  III  (1890)  p.  220. 

*)  Die  überliefernden  Handsdiriften  hier  aufzuführen,  würde  zuviel  Raum  beanspruchen. 
Abdruck  und  Besprechung  in  den  Münchener  Sitzungsberichten.  III  (1873)  S.  709 ;  Anzeiger, 
für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.  XX  (1873)  S.  255  ff- ;  Neues  Ardiiv  der  Ges.  für  ältere 
deutciie  Gesdiichtskundc.  VIII  291  ;  The  English  historical  review.  II  (1887)  p.  525  sq. ;  lak. 
Werner,  Beiträge  (1905)  S.  28f. ;  C-  Pascal,  Letteratura  Latina  medievale,  Catania  1909, 
p.  108  sq. 


Parodierte  Liebesdiditunö 


169 


zu    reimen    hatten,    stets   Wendungen  wie   'arbore   sub 
(oder  'pro'  oder  'de')  quadam'  gebrauchten: 

'Arbore  sub  quadam  protoplastus  corruit  Adam 

pomi  l^ge  data,  petulanter  ea  violata' 
dichtet^)  Baudry  de  Bourgueil  (f  1130), 

'Arbore  sub  quadam  stetit  antiquissimus  Adam' 
Hildebert  von  Le  Mans;^) 

'Arbore  pro  quadam  protoplastus  corruit  Adam 

quinque  per  etates  condempnans  posteritates' 
beginnt  in  einem  Vorauer  Codex  saec.  XII  ein  längeres 
Poem  über  (he  Erlösungsgeschichte ;0 

'Arbore  de  quadam  fructum  gustaverat  Adam' 
lesen    wir    in    einem  Totenrotel    für    S.   Bruno   Carthu- 
siensis.*) 

Mehr  Spielerei  als  Parodie  ist  es,  wenn  ein  die  fleisch- 
liche Liebe  bereuender,  die  Vergänglichkeit  der  Welt  be- 
tonender Dichter  mit  Cato  beginnt  'Cum  animadverte- 
rem'  und  das  immer  von  neuem  variiert  'Cum  animad- 
vertero',  'Cum  animadverteris'  usw.^) 

Die    Liebespoesie,   die   kein    Bedenken   trug,   aus 
geistlichen  und  sonstigen  ernsten  Texten  zu  schöpfen,  ja 
diese  gelegentlich  zu  parodieren,  ist  selbst  nicht  dem 
Schicksal    des    Parodiert  Werdens    entgangen.     Ein 
Beispiel  muß  hier  besprochen  werden,  da  das  Gedicht, 
wie  es  auch  interpretiert  werden  mag,  auf  dem  Gebiet 
der  Liebe  geblieben  ist.    Ich  habe  das  Lied 
'Frigus  hinc  est  horridum, 
tempus  adest  floridum, 
veris  ab  instantia 
tellus  iam  fit  gravida' 
der  Carmina   Burana   (no.   55)  im  Auge.     L.   Laistner,  ■) 
S.  JaffeJ)  H.  Walther ^)  halten  es  für  eine  Parodie  des 

')  Notices  et  extraits.  XXXVIII  2  p.  410. 

')  V^l  Miiine,  Patrol.  lat.  CLXXI  1224,  dazu  Haur^au  in  den  Notices  et  extraits.  XX VIII  2 

0878)  p.  409  sq. 

•')  Neues  Ardiiv  d.  Ges.  f.  ältere  deutsche  Gesdiiditskunde.  II  402. 

*)  Migne.  PatroJ.  lat.  CLII  584  sq. 

•)  Analecta  hymnica.  XXI  109  aus  drei  Handschriften  des  13.  Jahrhunderts. 

')  Golias  S.  115. 

')  Die  Vaganten  und  ihre  Lieder,  Berlin  1908,  S.  11. 

*")  Das  Streitgeditht  in  der  lateinischen  Literatur  des  Mittelalters,   München  1920,  S.  149. 


1 70  Streitgedicht 


Streitgedichtes  von  Phyllis  und  Flora.  „Die  Wendung 
der  Flora  in  Str.  21  'dicis  quod  prevaleat  lilio  cicuta' 
hat  vielleicht  zu  der  Parodie  der  Altercatio  Anlaß  ge- 
geben, die  in  dem  äußerst  schlecht  überlieferten  Stück 
no.  55  der  C.  B.  vorliegt.  Dieselbe  Streitfrage  wird  hier 
von  Quendel  und  Ampfer  erörtert;  die  eine  der  beiden 
Blumen  ist  für  den  Ritter,  die  andere  für  den  Kleriker; 
die  erste  führt  an,  daß  die  Ritter  Blumen  auf  Gewand 
und  Schild  führen,  die  andere  sieht  keinen  Nutzen  dar- 
in, da  sie  ja  doch  dabei  zugrunde  gehen  müßten.  Der 
Gang  des  Dialogs  ist  nicht  recht  klar;  es  sprechen  außer 
den  beiden  Blumen  auch  zwei  junge  Mädchen,  die  aber 
nirgends  eingeführt  sind,  Oulmont  (p.  50)  hält  es  daher 
für  möglich,  daß  hier  zwei  Gedichte  in  der  Überliefe- 
rung vermengt  sind.  Sicher  scheint  mir  jedoch  nur, 
daß  die  Überlieferung  lückenhaft  ist;  denn  in  der  auf 
uns  gekommenen  Gestalt  ist  kein  Zusammenhang  darin 
zu  finden."  (H.  Walther.)  Gleich  die  erste  Vermutung 
halte  ich  für  hinfällig.  Sollte  der  Hörer  merken,  daß 
eine  ganz  bestimmte  Strophe  eines  bestimmten  Gedich- 
tes parodiert  wurde,  so  war  es  gewagt,  ganz  andere 
Blumen  zu  wählen,  Thymian  und  Ampfer,  die  keines- 
wegs solche  Gegensätze  wie  Lilie  und  Schierling  sind. 
Und  in  der  Parodie  ist  gar  nicht  vom  'Praevalere'  der 
einen  vor  der  anderen  Blume  die  Rede.  Gewiß,  das 
Hauptthema,  der  Kampf  um  die  Bevorzugung  von  Ritter 
oder  Kleriker,  ist  dasselbe,  und  auch  im  einzelnen  kann 
man,  wenn  man  will.  Anklänge  finden.  Aber  diese  weni- 
gen Anklänge  sind  schwach  und  könnten  ohne  Annahme 
einer  Parodie  aus  rein  äußerlicher  Beeinflussung  des 
kleineren  Gedichts  durch  das  größere  erklärt  werden, 
und  der  Liebeswettstreit  zwischen  Ritter  und  Kleriker 
ist  im  12./13.  Jahrhundert  etwas  ganz  Gewöhnliches. 
Ch.  Oulmont  1)  betrachtet,  ohne  von  einer  Parodie  zu 
reden,  Thymus  und  Lapathium  als  Streitrichter.  Sie 
sind,  das  glaube  auch  ich,  an  die  Stelle  von  Usus  und 
Natura  getreten,  die  in  der  Altercatio  Phyllidis  et  Florae 


M  Les  d^bats  du  clerc  et  du  dievalier,  Paris  1911,  p.  48  sqq. 


Leidensgeschichte  des  ehebredierischen  Möndies  171 

als  Judices  vorgeführt  sind.  Die  beiden  sind  sich  in  den 
erhaltenen  Versen  vollkommen  einig.  Der  eigentliche 
Streit  steht  in  unserem  Texte  nicht.  Man  nimmt  ge- 
wöhnlich an,  daß  die  Überlieferung  starke  Lücken  habe. 
Meiner  Meinung  nach  fehlt  nichts  oder  wenig.  Denn 
von  Anfang  an  zeigt  der  Dichter  Streben  nach  großer 
Kürze.  Von  einigen  Einzelheiten  abgesehen,  ist  nun 
der  Gang  des  Dialogs  klar.  Der  Dichter  sagt:  Jetzt  ist 
Frühling.  Alles  grünt  und  blüht,  die  Vögel  singen,  — 
die  Zeit  der  Liebe  ist  wieder  da.  Nun  hört  mich  an,  ihr 
Mädchen!  Des  Ritters  Liebe  ist  nicht  die  rechte.  Die 
Blumen  da  rings  umher  auf  den  Wiesen,  sie  können 
euch  belehren.  Thymian  und  Sauerampfer  haben  ihr 
Gutachten  zugunsten  des  Klerikers  abgegeben,  Amor  für 
ihn  entschieden.  Was  die  Blumen  für  den  jungen  Geist- 
lichen und  gegen  den  Ritter  einnimmt,  ist,  daß  dieser 
Blumen  gemalt,  gestickt,  irgendwie  nachgebildet,  auf  dem 
Zeuge  trägt,  sie  selbst  aber  vergehen  läßt,  der  Geistliche 
dagegen  die  Früchte,  den  Samen  des  Geruches  wegen 
zwischen  die  Kleidungsstücke  streut,  in  Büchsen  aufbe- 
wahrt. —  Da  merkt  man  gleich,  wie  das  bis  Str.  4  ganz 
ernsthafte  Frühlinas-  und  Liebes^edicht  auf  einen  bur- 
lesken  Ton  sinkt.  Man  kann  kaum  von  einer  Parodie  der 
Altercatio  Phyllidis  et  Florae,  vielleicht  jedoch  der  Lie- 
beswettstreite überhaupt  reden. 

In  der  Prosa  führt  die  Parodie  zur  Facetie,  zur  ero- 
tischen Novelle. 

Häufig  kommt  seit  dem  13.  Jahrhundert  eine  Ge- 
schichte vom  ehebrecherischen  Mönche  vor, 
der  in  sündiger  Liebe  zu  einer  Frau  entbrennt,  sich 
mit  ihr  verabredet  und  nächtlich  bei  ihr  liegt,  als  der 
betrogene  Mann  zurückkehrt.  Der  Mönch  versteckt  sich 
in  einem  Korbe,  wird  schließlich  durch  seine  Tonsur 
verraten  und  nun  verhöhnt  und  mit  Verstümmelung 
der  Genitalien  grausam  bestraft.  Die  Anekdote  wäre 
nicht  sonderlich  interessant  und  würde  wenig  komisch 
wirken,  wenn  sie  nicht  in  geborgte  literarische  Sätze 
gekleidet,  wenn  sie  nicht  wie  ein  geistliches  Stück  dar- 


172  Leidensgeschichte  des  ehebrecherischen  Mönches 


geboten  wäre.  Die  wohl  älteste  —  bisher  ungedruckte i) 
—  Form,  die  ich  aus  Codices  von  Besancon,  Cambridge, 
Oxford  und  Rom  kenne,  gibt  sich  als  eine  Predigt,  als 
ein  erbaulicher  Vortrag  über  das  Leben  und  Wesen 
eines  Mönches.  Die  Einleitungsphrasen  'Fratres  illu- 
strissimi,  parumper  disserere  cupiens  ad  reverentiam 
vestram  subsistere  dignum  duxi  et  ideo  loqui  pro- 
h  1  b  e  o  r ,  eins  tamen  innumeris  animatus  excessibus 
avito  incedendi  affectu  totus  aestuo  et  ideotacere 
n  o  n  p  o  s  s  u  m  ,  verumptamen  tantae  professionis  pre- 
rogativam  convitiis  vel  insultationibus  exacerbare  turpe 
est  et  ideo  loqui  prohibeor'  erinnern  stark  an  Wal- 
ter Maps  Dissuasio  Valerii  ad  Rufinum  philosophum  ne 
uxorem  ducat,  die  mit  den  Worten  'Loqui  prohibeor  et 
tacere  non  possum'  beginnt  und  diese  Sätze  oft  wieder- 
holt. 2)  Auch  Peter  von  Blois  fängt  einen  Brief  an  den 
König  von  England  mit  'Loqui  vereor  et  tacere  non 
expedit'  an.  ^)  Obwohl  ich  die  Möglichkeit  zugeben  muß, 
daß  eine  rhetorische  Wendung  mir  unbekannten  Ur- 
sprungs zugrunde  liegt,  halte  ich  es  doch  für  das  Wahr- 
scheinlichste, daß  die  erotische  Parodie,  die  in  England 
oder  Frankreich  entstanden  ist,  die  Phrase  aus  der  sehr 
beliebten  Dissuasio  Valerii  ad  Rufinum  genommen  hat. 
Nach  der  Einleitung  schildert  unser  Text  den  Mönch 
und  sein  schlimm  verlaufenes  Liebesabenteuer  mit  Wor- 
ten der  Bibel!  Ziehe  ich  im  allgemeinen  die  Oxforder 
HLndschrift  vor,  so  sind  doch  auch  die  anderen  Text- 
zeugen von  großem  Interesse,  zum  Beispiel  deshalb,  weil 
si3  nicht  selten  an  bestimmten  Stellen  mit  der  jüngeren 
Redaktion  übereinstimmen.  Es  erscheint  nämlich  in  der 
rberlieferung  des  15.  Jahrhunderts  dieselbe  Anekdote 
als  'Passio  cuiusdam  (nigri)  monachi  (secundum  luxu- 
riam'  oder  'sec.  Fabianum')  in  Codices  von  Graz,  Leipzig, 
Lübeck,  Mailand,  Paris  und  Prag.  Da  jeder  Textzeuge 
von   dem  anderen  mehr  oder  weniger  abweicht,  ist  es 

')  Vgl.  Textanhang.  - 

2)  Vgl.  De  nugis  curialium,  ed.  AI.  R.  James  p.  143  Z.  2,  5;    144  Z.  2  f.,  4  f.,  7.  10,  15,  20;    145 
Z.  2,  5,  9. 

^)  Migne,  Patrol.  lat.  CCVII  298. 


Leidcnsgesdiichte  des  ehebrecherischen  Mönches  173 

wiederum  schwer,  ja  wohl  unmöglich,  einen  Normal text 
zu  rekonstruieren.  Die  Überschrift  soll  natürlich  an  die 
Passio  Domini  nostri  Jesu  Christi,  die  Anfangsformel 
'In  illo  tempore'  an  die  Evangelienperikopen  des 
christlich-katholischen  Gottesdienstes  erinnern.  Der  Er- 
zähler gellt  gleich  medias  in  res,  ist  auch  bei  Beschrei- 
bung der  Buhlerin  wortkarger,  bietet  indessen  im 
Grunde  das  gleiche.  Die  Bibelzentonen  sind  fast  immer 
dieselben  wie  in  der  älteren  Redaktion.  Ob  es  sich  um 
Psalmensprüche  oder  um  Jesusworte,  um  was  sonst 
handelt,  ist  dem  Parodisten  ganz  einerlei,  wenn  er  aus 
ihnen  den  Text  seiner  Novelle,  die  Gespräche  seiner 
Personen  zusammenstellen  und  recht  starke  Kontraste 
erzielen  kann  zwischen  der  Heiligkeit  des  Ursprungs 
und  der  Profanität  der  Verwendung.  Ihrerseits  hallt 
die  Geschichte  vom  ehebrecherischen  Mönch  nach  in 
der  Unsinnspredigt  vom  Nichts.^)  Man  vergleiche  z.  B. 
den  Satz  'Erat  autem  puella  pulchra  facie  decoraque 
aspectu,  supra  quam  nullus  hominum  sedit  nisi  144000 
ex  omni  natione  quae  sub  coelo  est.  Et  osculatus  est 
eam  et  dixit  „Quid  adhuc  egemus  testibus?"  Im  Ox- 
forder und  römischen  Text  der  erotischen  Predigt  steht 
die  Zahl  der  Liebhaber  der  Frau  noch  nicht,  wohl  aber 
in  der  Handschrift  von  Besancon  und  in  allen  Manu- 
skripten der  Passio.  So  hat  die  Lübecker  Fassung 
'vidit  unam  pulchram  circa  ignem  sedentem  que  garru- 
labat  se  esse  virginem,  supra  quam  nullus  hominum 
solus  sedebat,  sed  144000  hominum  qui  empti  sunt  pre- 
cio  magno,  et  in  die  omnium  sanctorum  12000  signati 
et  in  die  palmarum  turba  multa  et  in  die  ascensionis 
omnes  gentes  et  in  actibus  apostolorum  ex  omni  gene- 
racione  quae  sub  celo  est,  et  in  3.  declinacione  Donati 
78  vel  paulo  plus  et  in  medio  eiusdem  relique  pene  omnes 
et  in  fine  psalterii  "Quicumque  wlt",  et  post  hec  venit 
turba  magna  quam  nemo  diminuare  poterat'  Daß  der 
Ehemann  den  nackend  in  einem  Korbe  Ertappten  fragt: 
'Freund,  warum  bist  du  hierher  gekommen?'  findet  sich 

*)  Vgl  unten  S.  244  f. 


1 74  Trinklieder 

Überall,  der  Zusatz  'ohne  hochzeitliches  Gewand'  nur 
in  der  Passio.  Und  so  sind  dem  erotischen  Schwank 
in  den  verschiedenen  Abschriften  verschiedene  Nuancen 
gegeben.  Zotig,  derb,  voll  Grausamkeit  und  dabei  durch 
die  Parodie  fast  immer  witzig,  gehört  die  Geschichte  zu 
den  besten  Vorläufern  der  Novellen  und  Fazetien  Boc- 
caccios, Poggios  u.  a. 


2.   Zechen,  Schlemmen  und  Spielen 

Secundo  redarguor  etiam  de  ludo, 
sed  cum  ludus  corpore   me  dimittat  nudo, 
frigidus  exterius,  mentis  estu  sudo, 
tunc  versus  et  carmina  meliora  sudo. 

Tertio  capitulo  memoro  tabernam: 
illam  nullo  tempore  sprevi  neque  spernam, 
donec  sanctos  angelos  venientes  cernam, 
cantantes  pro   mortuis  'Requiem  eternam*. 

Meum  est  propositum  in  taberna  mori, 
ut  sint  vina  proxima  morientis  ori. 
Tunc  cantabunt  letius  angelorum  diori: 
'Sit  Deus  propitius  huic  potatori*. 

Poculis  accenditur  animi  lucerna, 
cor  inbutum  nectare  volat  ad  superna. 
Mihi  sapit  dulcius  vinum  de  taberna, 
quam  quod  aqua  miscuit  presulis  pincerna. 

(Ardiipoeta.) 

Viele  Parodien  des  Mittelalters  sind  in  der  Studier- 
stube erdacht  und  haben  zumeist  in  den  Büchern  der 
Gelehrten  gelebt.  Zu  denen,  die  aus  frischem  Genießen 
hinaus  in  andere,  weitere  Kreise  gedrungen  sind,  ge- 
hören hauptsächlich  diejenigen,  die  von  Zechen,  Schlem- 
men und  Spielen  sowie  von  den  Freuden  und  Leiden 
des  Bummel-  und  Vagantenlebens  singen  und  sagen. 

Manches  mittelalterliche  Trinklied  ist  Parodie  oder 
zum  Teil  parodistisch.  Statt  der  berühmten  ins  11.  Jahr- 
hundert zurückreichenden  Mariensequenz  ^) 

^)  Analecta  hymnica.  LIV  no.  218. 


Trinklieder  175 


'(1)  Verb  um  bonum  et  suave 
personemus  illud  Ave, 
per  quod  Christi  fit  conclave 
virgo,  mater,  filia. 

(2)  Per  quod  Ave  salutata 
mox  concepit  fecundata 
virgo,  David  stirpe  nata, 
inter  spinas  lilia. 

(3)  Ave  veri  Salomonis 
mater,  vellus   Gedeonis, 
cuius  magi  tribus  donis 
laudant  Puerperium. 


(6)  Supplicamus:  nos  emenda, 
emendatos  nos  commenda 
tuo  nato  ad  liabenda 
sempiterna  gaudia', 
erscholl  aus  der  Kneipe  der  Kantus^) 

'Vinum  bonum  et  suave, 
bonis  bonum,  pravis  prave, 
cunctis  dulcis  sapor,  ave, 
mundana  laetitia. 

Ave,  felix  creatura, 
quam  produxit  vitis  pura, 
omnis  mensa  fit  secura 
in  tua  praesentia' 

usw.  den  Wein  statt  der  Gottesmutter  Maria  preisend  bis 
zur  Schlußstrophe,  die  gleich  dem  Anfang  besonders 
deutlich  parodistisch  ist: 

'Supplicamus:    hie  abunda, 
per  te  mensa  fit  fecunda, 

')  Texte  z-  B.  bei  Mone  im  Anzeiger  für  Kunde  des  teutsdien  Mittelalters.  II  (1833) 
S.  189  ff.;  bei  Daniel  im  Thesaurus  hymnologicus.  I  (1841)  S.  282-,  bei  E.  du  M^ril,  Po^sies 
populaires  (1847)  p.  204  sq.;  bei  Straccali,  J  goliardi,  Florenz  1880,  p.  90;  bei  Bergman 
Ur  medeltiden  poesie,  Stockholm  1889,  p.  184  sqq. 


1 76  Trinklieder 

et  nos  cum  voce  iocuiida 

deducamus  gaudia.' 
Die  Varianten  und  Variationen  sind  zu  zahlreich,  als 
daß  sie  hier  alle  erörtert  werden  könnten.    Eine  weit- 
verbreitete  Fassung^)    beginnt   mit   der  3.    Strophe   der 
offenbar  älteren   'Vinum   bonum    et  suave'-Form: 

'Ave,  color  vini  clari, 

ave,  sapor  sine  pari, 

tua  nos  letificari, 

dignetur  potentia' 
und  schließt: 

'Ergo  vinum  collaudemus, 

potatores  exaltemus, 

non  potantes  confundemus 

per  eterna  secuta'  oder  || 

'ad  inferna  palatia'  oder 

'in  aeterna  supplicia'. 
Überall    klingt    die    Sprache    der    kirchlichen    Lieder 
durch.    Bezeichnenderweise  steht  der  Text  z.  B.  in  Mün- 
chen lat.  23108  als  Anhängsel  zu  einem  Psalterium  deut- 
schen Ursprungs,  also  zu  einer  echt  liturgischen  Hand- 
schrift und  fügt  außer  einem  verstümmelten 
'Vivat  <  in  eternum  r> 
qui  dat  nobis  <:  vinum   >^  Folernum' 
noch  das   Gebet ^)   an:   'Dens,  qui  nos  potestate  vini  et 
fortitudine  ipsius  hodierna  die  multorum  capita  dolere 
fecisti,  concede,  ut  quorum  cenali  potacione  capita  ledan- 
tiu'  matitudinali  reiteracione  recurentur  per  eundem  Gi- 
phum  et  Bachum,  qui  nos  dignetur  perducere  ad  eun- 
dem ebrietatem.   Amen.' 

Dieselbe  Parodie  der  Mariensequenz  liegt  den  Liedern 
zugrunde,  die  uns  Abt,  Prior  und  Konvent  bei  m 
Zechen  vorführen. 

'Vinum  bonum  et  suave 

bibit  abbas  cum  priore, 

^)  Vgl.  Mone  im  Anzeiger  für  Kunde  des  teutsdien  Tvlittelalters.  II  (1833)  S.  190  f.; 
Th.  Wright,  Early  mysteries  etc.,  London  1838,  p.  120;  Du  Aleril,  Poesies  populaires  (1847) 
p.  204;  Straccali,  J  goliardi,  p.  90. 

')  Ähnlidi  Kartsruhe  St.  Blasien  77  f.  302  «. 


Trinklieder  1 77 


sed  conventus  bibit  male, 

Virgo  mater  aspice' 

usw. 

notiert^)  der  Medizinstudierende  Johann  Fink  saec.  XV 

in  seinem  Vorlesungsheft  Wolfenbüttel  Cod.  Heimst.  886  f. 

164R; 

'Vinum  bonum  con  sapore 

bibit  abbas  cum  priore, 

aqua  datur  fratribus' 

usw. 

steht  in  Hamburg 2)   Ms.  theol.  1478  in  4^  f.  16^; 

'Bonum  vinum  cum  sapore 
bibat  abas  cum  priore, 
conventus  autem  de  peiore' 

zitiert 3)  eine  italienische  Handschrift  saec.  XV  in  Bres- 
lau als  'Proverbium  d.  f.  s.  Pontiani'; 

'Vinum  bonum  cum  sapore 

bibit  abbas  cum  priore 

et  conventus  cum  priore, 

semper  solent  bibere' 
usw. 
in  Aarau  Wb.  59  q.  aus  Wettingen.    In  dieser  Wettinger 
Überlieferung^)    ist    der    Schluß    wieder    ganz    pseudo- 
liturgisch : 

'non  bibentes 

confundentes 
alterna  tristitia. 

Audi,  nos.  Nam  rustici,  qui  sunt  semper  contra  nos. 
Da  eis  aquam  bibere,  da  nobis  vinum  bonum  consumere. 

Versus:  Rustici  sunt  laeti, 

quando  sunt  repleti. 
Resp. :  Et  sunt  inflati, 

quando  sunt  inebriati. 

^)  Vgl.  E.  Henrici,  Spradimisdiung  in  älterer  Dichtung  Deutschlands,  Berlin  1913,  S.  90. 
Vgl.  über  Fink  meinen  Aufsatz  Lebensnachrichten  eines  süddeutsdien  Arztes  vom  Ende  des 
Mittelalterst  Histortsdies  Jahrbuch.  XXXVII  (1916)  S.  394-396. 

^)  Henrici,  a.  a-  Q. 

^)  Vgl.  K.  Zicgler,  Catalogus  codicum  latinorum  classicorum  in  bibl.  urbica  Wratislaviensi 
p.  45. 

*)  Vgl.  Jak.  Werner,  Beiträge  (1905)  S.  211  f. 

Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  12 


178  Trinklieder 


Deus,  qui  multitudinem  rusticorum  congregasti  et  ma- 
gnam  discordiam  inter  eos  et  nos  seminasti,  da,  que- 
sumus,  ut  laboribus  eorum  fruamur  et  ab  uxoribus 
eorum  diligamur.   Per  omnia  pocula  poculorum.   Amen.' 

Auch  das  Weinlied ^)  des  Schulmeisters  Morandus  von 
Padua  aus  dem  13.  Jahrhundert 

'Vinum  dulce,  gloriosum 
pingue  facit  et  carnosum 
atque  pectus  aperit' 

wird  durch  'Vinum  bonum  et  suave'  angeregt  und  be- 
einflußt sein.  Ob  es  unmittelbar  einen  bestimmten  Hym- 
nus parodiert,  ist  noch  nicht  erwiesen.  Die  Schluß- 
strophe 

'Alba  limpha  maledicta 

Sit  a  nobis  interdicta, 
quia  splenem  provocat' 

lehnt  sich  an  Marienlieder  an,  die  mit  'Ave  virgo  bene- 
dicta'  anfangen.^) 
Auf  das  Poem  des  Morandus  geht  z.  T.  das  Ende 

'Alba  limpha  maledicta 

Sit  nobis  interdicta, 

ut  dural  ista  regula 

per   infinita    secuta.    Stramen!' 

des  folgenden  Kneipgesanges  ^)  zurück. 

Jam  lucis  orto  sidere 
statim  oportet  bibere. 
Ergo  beati  eritis, 
si  bene  potaveritis. 


Si  non  bene  biberitis, 
salvi  esse  non  poteritis. 
Bibamus  ergo  egregie, 
ut  rebibamus  optime: 


^)  Bester  Text  in  O.  Holder»Eggers  Salimbeneausgabe,  MG.  SS.  XXXII  219. 

2)  Vgl.  U.  Chevalier,  Repertorium  hymnologicum.  I  128;  IV  52. 

^)  Aus  einem  Codex  saec  XIV  der  Bibliotheca  Guarnacci  di  Volterra,  herausgeg.  von 
L.  Suttina  in  den  Studi  medievali.  II  563  sqq.;  aus  derselben  Handschrift  Funaioli  in  den 
Studi  Italiani  di  fÜologia  classica.  XVIII  (1910)  p.  ISi. 


Trinklieder  1 79 

ut  in  solemni  requie 
possimus  esse  hodie, 
bibere  et  rebibere 
et  rebibendo   bibere. 

Omnis  ergo  noster  frater 
bibat  semel,  bis,  ter,  quater, 
bibat  primo  et  secundo, 
donee  nichil  sit  in  fundo. 

Vinum  limphatum 
conturbat  viscera  fratrum: 
<jui  aquam  ponit  in  Falerno, 
sit  sepultus  in  inferno. 

Alba  limpha  maledicta 
sit  nobis  interdicta, 
ut  durat  ista  regula 
perinfinitasecula.  ^ 
S  t  r  a  m  e  n. 

Von  der  gern  in  der  Hymnodie  gebrauchten  Am- 
brosianischen Zeile  'lam  lucis  orto  sidere'  an  bis  zum 
'Stramen'  statt  'Amen'  ist  das  Lied  voll  parodistischer 
Einzelheiten.  Die  auffälligsten  Stellen  habe  ich  durch 
Sperrdruck  hervorheben  lassen.  Das  Gedicht  scheint  in 
Italien  entstanden  zu  sein  und  dort  besonderen  Anklang 
gefunden  zu  haben.  G.  Mazzoni  hat  die  verschiedentlich 
bedeutend  abweichende  Fassung  eines  Codex  saec.  XIV 
ex.  von  Cortona  publiziert/)  L.  Bertalot  mich  auf  einen 
Textzeugen  in  Bergamo  privatim  aufmerksam  gemacht. 
Aus  einem  Venetianus  saec.  XVI  druckte  bereits  1883 
F.  Novati  folgende  Verse  ab: 2) 

'lam  lucis  orto  sidere 
statim  oportet  bibere. 
Bibamus  nunc  egregie 

et  rebibamus  hodie. 

»    ' — — — . 

*)  Atti  e  memorie  della  r.  accademia  di  scienze,  lettcrc  ed  arti  in  Padova.  N.S.  IX 
(Padua  1893)  p.  49. 

*)  Carmina  medii  aevi,  Florenz  1883,  p.  66  sq.,  wiederholt  durch  B.  Havir6au  im  Journal 
des  savants  1884  p.  405. 

12* 


1  so  Trinklieder 

Quicumque  vult  esse  frater, 
bibat  semel,  bis,  ter,  quater, 
bibat  semel  et  secundo, 
donec  nihil  sit  in  fundo. 

Bibat  ille,  bibat  illa, 
bibat  servus  et  ancilla, 
bibat  hera,  bibat  herus, 
ad  bibendum  nemo  serus. 

Potatoribus  pro  cunctis, 
pro  captivis  et  defunctis, 
pro  imperatore  et  papa 
bibo  vinum  sine  aqua. 

Hec  est  fides  potatica, 
so  clor  um  spes  unica, 
qui  bene  non  potaverit, 
salvus  esse  non  poterit. 

Longissima  potatio 

sit  nobis  salutatio. 

Et  duret  ista  ratio 

per  infinita  secula. 
Amen.' 
Die  zweite  Strophe  ist  oft  selbständig  geworden.    So 
hat  1469  ein  Bayer  —  in  München  lat.  5942  f.  92  v  —  die 
Verse  aufgezeichnet:^) 

'Quicumque  vult  esse  frater, 

bibat  semel,  bis,  ter,  quater, 

bibat  semel  et  secundo, 

donec  nichil  sit  in  fundo. 

Nunc  pro  rege  et  <c  pro  >  papa 

bibo  vinum  sine  aqua. 

Hec  est  fides  apotheca, 

sociorum  spes  unica. 

Qui  bene  non  potaverit, 

salvus  esse  non  poterit' 

*)  Verwandtes   bei  Du  M6ril,  Po6sies   populaires  (1847)  p.  202  und  —  nach  Bcrtalot  — 
bei  Job.  Petrus  de  Memel,  Lustige  Gesellsdiaft  (1659)  no.  768. 


Trinklieder  181 

In  München  lat.  10751  westfälischen  Ursprungs  steht 
die  'Exhortatio  ad  potandum  perutilis'  direkt  vor  der 
Saufmesse.  Die  'Fides'  wird  da,  wie  oben  S.  180,  klar  'po- 
tatica*  genannt:  Um  ein  bacchantisches  Glaubensbekennt- 
nis handelt  es  sich.  Es  ist  kein  Zufall,  daß  der  Beginn 
an  das  Athanasianische  Symbol  'Quicumque'  anklingt 
Die  komische  Aufzählung  der  Trinker  ist  ein  alter  Scherz 
der  Goliardenpoesie.  Man  trifft  ihn  bereits  in  einen 
Kneipgesang  der  Carmina  Burana  (no.  175)  eingefügt:^) 

'In  taberna  quando  sumus, 
non  curamus  quid  sit  humus, 
sed  ad  ludum  properamus, 
cui  semper  insudamus. 
Quid  agatur  in  taberna, 
ubi  nummus  est  pincerna, 
hoc  est  opus,  ut  quaeratur, 
si  quid  loquar,  audiatur.     - 

Quidam  ludunt,  quidam  bibunl, 
quidam  indiscrete  vivunt. 
Sed  in  ludo  qui  morantur, 
ex  his  quidam  denudantur, 
quidam  ibi  vestiuntur, 
quidam  saccis  induuntur, 
Ibi  nullus  timet  mortem, 
sed  pro  Bacho  mittunt  sortem 

Primo  pro  nummata  vini. 
Ex  hac  bibunt  libertini. 
Semel  bibunt  pro  captivis, 
post  haec  bibunt  ter  pro  vivis, 
quater  pro  Christianis  cunctis, 
quinquies  pro  fidelibus  defunctis, 
sexies  pro  sororibus  vanis, 
.septies  pro  militibus  sil vanis. 

')  Aus  einer  böhmisdien   Handschrift   veröffentlichte  Feifalik   in  den  Wiener  Sitzungss 
berichten  XXXVI  (1861)  S.  170/1  das  Gedicht  in  einer  vielfach  abweichenden  Fassung. 


182  Trinklieder 


Octies  pro  fratribus  perversis, 
novies  pro  monachis  dispersis, 
decies  pro  navigantibus, 
undecies  pro  discordantibus, 
duodecies  pro  paenitentibus, 
tredecies  pro  iter  agentibus. 
Tarn  pro  papa  quam  pro  rege 
bibunt  omnes  sine  lege. 

Bibit  hera,  bibit  herus, 

bibit  miles,  bibit  clerus, 

bibit  ille,  bibit  illa, 

bibit  servus  cum  ancilla, 

bibit  velox,  bibit  piger, 

bibit  albus,  bibit  niger, 

bibit  constans,  bibit  vagus, 

bibit  rudis,  bibit  magus, 

bibit  pauper  et  aegrotus, 
bibit  exul  et  ignotus, 
bibit  puer,  bibit  canus, 
bibit  praesul  et  decanus, 
bibit  soror,  bibit  frater, 
bibit  anus,  bibit  mater, 
bibit  ista,  bibit  ille, 
bibunt  centum,  bibunt  mille. 

Parum  centum  sex  nummatae 
durant,  ubi  inmoderate 
bibunt  omnes  sine  meta, 
quamvis  bibant  mente  laeta. 
Sic  nos  rodunt  omnes  gentes, 
et  sie  erimus  egentes. 
Qui  nos  rodunt,  confundantur 
et  cum  iustis  non  scribantur.' 

Ludwig  Laistner^)  hat  dieses  „Kneipleben"  folgender- 
maßen frei  übersetzt: 


»)  Golias  S.  7  ff. 


Trinklieder  1 83 


So  wir  sitzen  in  den  Schenken, 
darf  uns  Erdennot  nicht  kränken; 
nein,  da  gilt  es  Kurzweil  treiben, 
also  war's  und  soll  es  bleiben. 
Was  getrieben  in  der  Welt  wird, 
wo  geschenkt  für  bares  Geld  wird, 
das  ist  eine  nöt'ge  Frage, 
drum  vernehmet,  was  ich  sage. 

Hier  ein  Spiel,  ein  Suff  daneben, 
dort  ein  wahres  Heidenleben. 
Wo  des  Spieles  wird  gepflogen, 
sieht  sich  mancher  ausgezogen, 
klopft  ein  andrer  stolz  die  Tasche, 
sitzt  der  Dritt'  in  Sack  und  Asche. 
—  Wer  wird  um  den  Tod  sich  scheren? 
Losung  ist:    zu  Bacchus  Ehren! 

Lostrunk  eins:  wenn  trifft  die  Zeche? 
Dann  so  fort  in  Frisch'  und  Freche: 
allen,  so  in  Banden  schweben! 
Drittens:  wer  da  lebt  soll  leben! 
Viertens:  jeder  Christ  hienieden! 
Fünftens:  wer  im  Herrn  verschieden! 
Sechstens:  jede  flotte  Musche! 
Siebentens:  die  Herrn  vom  Busche! 

Achtens:  der  Dummen-Brüder-Orden! 
Neuntens:  wer  fahrnder  Mönch  ist  worden! 
Zehntens:  wer  zu  Schiff  gegangen! 
Elftens:  wer  Händel  angefangen! 
Zwölftens:  wer  im  Bußgewand  ist! 
Schließlich:  wer  da  über  Land  ist! 
Außer  der  Beih  für  Papst  und  Kaiser 
trinken  und  schrei'n  sich  alle  heiser. 

Trinkt  der  Sie-  und  trinkt  der  Erstand, 
trinkt  der  Wehr-  und  trinkt  der  Lehrstand, 


1 8-4  Trinklieder 


trinket  dieser,  trinket  jene, 
trinkt  der  Knecht  und  seine  Schöne, 
trinkt  der  Flinke,  der  Verhockte, 
trinkt  der  Blond-  und  Schwarzgelockte, 
trinkt  der  Stät'  und  Wetterwendge, 
trinkt  der  Tor  und  der  Verständge. 

Trinkt  der  arme  Mann  im  Spittel, 
trinkt  der  Fremd'  im  Elendskittel, 
trinkt  die  Jugend,  trinkt  das  Alter, 
trinkt  Dekan  und  Vorbestallter, 
trinkt  das  Mägdlein,  trinkt  der  Knabe, 
trinkt  die  Mutter,  die  Ahn'  am  Stabe, 
trinkt  so  Weib,  als  Männlein,  bede, 
trinken  tausend,  all  und  jede. 

Wie  soll  da  das  Geldlein  reichen. 

Wenn  in  Zügen  sondergleichen 

alles  ohne  Maß  und  Ziel  trinkt, 

ob  auch  schon  mit  Hochgefühl  trinkt?  ' 

Da  will  uns  die  Welt  bekritteln  : 

Ei  das  hilft  uns  nicht  zu  Mitteln. 

Jeder  Krittler  soll  verflucht  sein, 

nie  im  Himmelsbuch  gebucht  sein!' 

Parodistisch  sind  die  Schlußworte  'et  cum  iustis  non 
scribantur',  die  den  Psalmen  (LXVHI  29)  entnommen 
sind,  parodistisch  —  was  die  deutsche  Übersetzung  nicht 
recht  zutage  treten  läßt  —  in  der  dritten  und  vierten 
Strophe  die  Fürbitten,  die  kirchliche  Gebräuche  nach- 
äffen. Die  Verse 

'bibit   ista,    bibit   ille, 

bibunt  centum,  bibunt  mille' 
machte   sich   auch   der   Florentiner   Buoncampagni   bei 
der  Verspottung  des  religiösen  Schwärmers  Johann  von 
Vincenza  nutzbar.^)  'Hie  (seil.   Buonc.)  cum  more  Flo- 
rentinorum  trufator  maximus  ^esset,  quendam  rithmum 

^)  Salimbene  zum  Jahre  1233,  MG.  SS-  XXXII  77  sa- 


Trinklieder  1 85 

fecit  in  derisionem  fratris  Johannis  de  Vincentia,  cuius 
nee  principium  reminiscor  nee  finis,  quia  multa  tem- 
pora  sunt,  quod  non  legi  ipsum,  et,  quando  legi,  non  bene 
commendavi  memorie,  quia  nee  multum  curabam.  Erant 
autem  ibi  verba   ista,   prout  memorie  occurrunt: 

"Et  Johannes  iohannizat, 

et  saltando  choreizat. 

Modo   salta,  modo  salta, 

qui  celorum  petis  alta! 

Saltat  iste,   saltat  ille, 

resaltant    cohortes   mille, 

saltat   Chorus    dominarum, 

saltat  dux  Venetiarum." 
Die   Steigerung   der   Freuden   des  Trinkens   schildert 
das  Gedicht^) 

'Ad  primum   morsum 

nisi  potavero,  mortuus   sum' 
bis  zu  den  Versen 

'Quando   bibo   decies, 
est  mihi   magna    quies. 
Det  Dens   huic  requiem, 
qui  bibit  ante  diem. 
Amen.' 

Diese  z.  B.  im  Sanblasianus  77  zu  Karlsruhe  mit  dem 
vorhergehenden  Stück  verbundenen,  auch  in  Amiens 
357  saec.  XIV  f.  1481^  und  sonst  erhaltenen  'Versus  de 
ebrietate' 

'Discite,  discatis, 

quis    Sit   modus    ebrietatis. 

Hie    canit,    hie    plorat, 

hie   scandalizat,   hie   orat' 
usv^. 
sind    nicht    parodistisch.     Dagegen    schließt   die    'Alter- 
catio  vini  et  cerevisie'  'Ludens  ludis  miscebo  seria'  ganz 
bewußt  hymnusähnlich  :^) 

')  F.  Novati,  Carmina  medii  aevi  p.  67  sq. ;  Variationen  in  Mündien  lat.  14796  f.  213  R 
saec.  XV  und  Karlsruhe  St.  Blasien  77  f.  302  R,  für  L.  Bertalot  von  Ä.  Holder  kopiert. 
■^)  Ä.  Bömer  in  der  Zeitsdirift  f.  deutsdies  Altertum.  XLIX  (1907)  S.  202. 


1 36  Trinkgebete 

Bachus   vero    vincit   flagraiitia 
thus,  aroma,  rosam  et  lilia. 
Bacho  demiis  laudes  cum  gloria, 
decantemus  omnes:  Alleluja.' 

Gebetsparodien  sind  die  Bacchusanrufungen.  So  die 
Verse ^)  Reinhers,  eines  Kanzlers  der  Landgrafen  von 
Thüringen 

Bache  veni.  Dens  alme  venu   Quid  carcere  tardas? 
Linque  ciphum,  perfunde  cibum,  illabere  venis 
et   duplex   operare   bonum.    Xam   colluis   escas 
cordaque  mesticie  discussa  nube  serenas.' 

So  ferner  das  Lied  der  Benediktbeurer  Sammlung*) 
mit  dem  Anfang 

'Bache,    bene   venies 

gratus  et  optatus, 

per  quem  noster  animus 

fit  letificatus' 
und  dem  Schluß 

'Bache,    Dens   inclite, 

omnes   hie   astantes 

laeti  sumus  munera 

tua  praelibantes. 

Omnes  tibi  canimus 

maxima    praeconia. 

te  laudantes  merito 

tempora    per    omnia.' 
Und  ist  es  nicht  eine  parodistische  Übertragung  der 
Allmacht  Gottvaters,  der  Wunderkraft  Jesu  Christi  auf 
den   Gott  des  Weines,  wenn  es  in  den   Benediktbeurer 
Liedern^)  ertönt: 
'Tu    das.    Bache,    loqui,    tu    comprimis    ora    loquacis, 

ditas,  deditas.  tristia  laeta  facis. 
Concilias  hostes.   tu  rumpis  foedera  pacis, 
et  qui   nulla   sciunt,  omnia  scire  facis. 

M  W.  Wattenbach  aus  Mündien  lat.  43^  saec  XV  im  Anzeiger  f.  Kunde  d.  deutschen 
Vorzeit.  1879  S-  100. 

*)  C.  B.  no.  178-  Über  Ovidianisches  darin  vgl.  Hermann  Unger.  De  Ovidiana  in  car. 
minibus  Buranis  quae  dicuntur  imitationc,  Berliner  Diss.  1914,  S.  23. 

^)  C  B.  no.  178  a. 


Trinklieder  1 87 

Multis   clausa    seris,    tibi   panditur  archa    teiiacis, 

tu  das,  ut  detur,  nil  dare  posse  facis. 
Das  caeco  visuin,  das  claudo  crura  salacis. 

crederis  esse  Deus,  haec  quia  cuncta  facis. 
Ergo  bibamus'  usw.? 

Das  Trinklied^)  'Denudata  veritate'    preist  den    Wein 
als  Gott.  Ein  ausgelassener  Poet  erkühnt  sich,  zu  sagen ^) 
'Cum   ergo   salutamus 
vinum,    tunc    cantamus: 
"Te  Deum  laudamus", 
wie  es  auch  in   einer  Variation^)  der  Beichte  des  Ex- 
poeten  heißt 

'Vinum    super   omnia 
bonum   diligamus. 
Nam   purgantur   viscera, 
dum   vinum   potamus. 
Cum  nobis  sint  copia, 
vinum   dum   clamamus: 
'■Qui  vivis  in  gloria, 
te  Deum  laudamus." 
Die  Mischung  von  Frechheit  und  Frische  in  der  ur- 
sprünglichen Beichte   selbst  versteigt  sich  nur  zu  dem 
Wunsche,  daß  der  Tod  den  Zecher  beim  Kneipen  ereile 
und  die   Engel  ihm   ein  Requiem   sängen  und  Fürbitte 
für  ihn  einlegten.*) 

Mit  scheinbarem  Ernst  beginnt  ein  anderer  Dichter 
seine  Aufforderung  zum  Pokulieren  mit  einem  Zitat  der 
moralischen  Disticha   Catonis^) 

'"Cum  animadverterem,"  dicit  Cato.' 
Der  Schluß  parodiert  die  Doxologie  eines  Hymnus 
'Conventus  iste  nobilis 
laetetur  bis  conviviis 
et  mera  mente  gaudeat 
et  di^nas  laudes  referat 


')  MG.  SS.  XXXII  430  sqq. 

«)  C  B.  no.  182. 

'I  Poems  attrib.  to  Walter  Mapes,  ed  Wright.  p.  XLV. 

*)  Vgl.  die  dem  Kapitel  von  uns  vorausgeschidcten  Verse. 

«)  C.  B.  no.  195. 


188  Quondam  fuit  factus  festus 

summo  patris  filio 

et  hospiti  largissimo 

tali  dicto  nomine, 

ut  longo  vivat  tempore/ 

Die  berühmte  Weinparodie  'Vinum  bonum  et  suave* 
gab  spätestens  zu  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  in  Eng- 
land die  Strophenform,  den  durchlaufenden  Reim  der 
Siebensilber  und  vermutlich  die  Melodie  auch  der  langen 
launigen  Burleske  vom  Abt  und  Prior  und  den  Mönchen, 
die  beim  Kneipen  in  Zank  geraten: 

'Quondam  fuit  factus  festus 

et  vocatus  ad  comestus 

abbas  prior  de  Leycestris 

cum  tota  familia/ 
Eine  Parodie  ist  dieses  Gedicht,  über  das  -uns  W.  Meyer 
—  ohne  die  reiche  Überlieferung  ganz  zu  kennen  — 
eine  scharfsinnige  Abhandlung  geschenkt  hat,  eigentlich 
nicht,  sondern  eine  derb-humoristische  Erzählung  mit 
parodistischem  Einschlag.  Parodistisch  könnte. man  z.  B. 
nennen  die  Verw^endung  des  Pauluswortes  1.  Kor.  X  12 
'Qui  se  existimat  stare,  videat  ne  cadat'  in  Str.  2 

'Qui   stat,   vide   ne   cadatis. 

Multum  enim  de  prelatis 

sunt  deorsum  descendatis 

propter  avaricia;* 
in  Str.  14  das  Gebet 

'Rogo,  deus  maiestatis, 

qui  nos  fecit  et  creatis, 

ut  hoc  vinum,  quod  bibatis, 

possit  vos  strangulia.' 
Ist  auch  die  Sprache,  die  absichtlich  in  der  lustigsten 
Weise  gegen  die  Regeln  der  Grammatik  verstößt,  Paro- 
die? Insofern  ja,  als  der  Dichter  des  Spasses  halber  das 
korrekte  Latein  verzerrt,  nein,  insofern  er  schwerlich 
durch  Vergröbern  und  Häufen  von  Sprachschnitzern 
sich  über  miserables  Mönchslatein  lustig  machen  will. 
Es   gibt   noch   mehr   Proben   von    solchem    Spott-   und 


Sdierzldtcin ;  Sdiwclgcrabt  189 

Scherzlateiii  aus  dem  Mittelalter.  Zur  Verhöhnung  kleri- 
kaler Unbildung  oder  als  Waffe  gegen  Übereleganz  und 
Maniriertheit  ist  das  Scherzlatein  aber  erst  seit  den 
Tagen  der.  Renaissance  und  des  Humanismus  ausgebil- 
det, angewandt  worden,  z.  B.  im  'Codrus'  des  Johannes 
Kerckmeister  zu  Münster  i.  W.  (1485),  wo  ich  das 
früheste  —  meist  übersehene  —  Beispiel^)  für  die  Be- 
nennung schlechten  Lateins  nach  der  Küche  feststelle, 
in  Schülergesprächen,  dann  mit  Meisterschaft  bei  Fo- 
lengo,  in  den  Dunkelmännerbriefen,  bei  Rabelais  u.  a. 
Heute  macht  die  Burleske  'Quondam  fuit  factus  festus* 
den  Eindruck  eines  Ulkes.  Daß  anfänglich  mit  diesem 
eine  satirische  Absicht  wenigstens  nebenbei  verbunden 
gewesen  wäre,  möchte  ich  nicht  verneinen,  ebenso  wie 
die  von  Thomas  Wright  veröffentlichte^)  Prosaerzählung 
'Magister  Golyas  de  quodam  abbate.  Circa  horam  diei 
secundam  vel  tertiam'  einen  bestimmten  Abt  aufs  Korn 
genommen  haben  dürfte.  Dieser  Schwank  schildert  gro- 
tesk den  Tageslauf  eines  Abtes,  vor  allem  sein  maßloses 
Saufen  und  Fressen.  Des  Prälaten  Gedanken  drehen 
sich  darum,  wie  er  seinen  Bauch  füllen  kann.  'Plus  me- 
ditatur  de  eo  quam  de  Deo,  plus  de  salsamentis  quam 
de  sacramentis,  plus  de  salmone  quam  de  Salomone.* 
Das  sind  die  Meditationen,  von  denen  Filippo  Ermini  ^) 
in  einer  Weise  spricht,  daß  man  denken  könnte,  ein  Pa- 
rodist  hätte  einem  Traktat  De  sacramentis  et  de  Salo- 
mone  förmlich  längere  Meditationen  De  salsamentis  et 
de  salmone  entgegengesetzt.  Es  handelt  sich  bloß  um 
eine  der  vielen  scherzhaften  Antithesen  des  Goliasulkes, 
wobei  das  sehr  beliebte*)  Wortspiel  Salomo  —  salmo 
gebraucht  wird.    Der  Spötter  fährt  fort:   'Der  Bauch  ist 

^)  Ärdiiv  für  Litcraturgesdiidite  XI  (1882)  S.  340. 

')  The  poems  attributcd  to  Walter  Mapes  p.  XL  sqa- 

')  La  cultura.  I  (1922)  p.  173. 

*)  Vgl.  Petrus  de  Riga,  Hlstoria  de  Susanna,  Migne  CLXXI  1291  ;  Alanus  de  Insula, 
Summa  de  arte  praedicatoria  cap.  36,  Migne.  CCX  180;  Godefridus  de  Thenls,  Omnc 
punctum  V.  320  sqq.,  ed  Fr.  Jacob,  Lübeck  1838,  p.  54-,  das  Gedidit  'Sunt  qui  rectum  non 
attendunt',  Anzeiger  f.  Kunde  d.  deutschen  Vorzeit.  N-F.  XVIII  (1871)  S.  232;  der  Domini« 
kaner  Johannes  von  Paris,  genannt  Pungens  asinum,  saec  XIII  in  einer  Predigt,  vgl. 
Histoire  litt^raire  de  la  France.  XXV  253  (die  Bekanntsdiaft  mit  dieser  Stelle  verdanke  idi 
der  Güte  des  Herrn  Prof.  M.  Grabmann);  König  Ludwig  IX.  von  Frankreich  in  einem 
Schreiben  an  die  Kardinäle,  1.  c. 


190  Vom  Sdiwelgerabt 


sein  Gott,  sein  Ruhm  liegt  auf  seinem  Gaumen,  und  so 
erfüllt  er,  was  da  geschrieben  steht  „Suchet  zuerst  das 
Reich  Gottes".  Wie  da  Matthäus  VI  33  ironisch-paro- 
distisch  angeführt  ist,  so  im  weiteren  Verlaufe  noch 
manches  andere  Wort,  z.  B.  'O  quam  bonus  pastor  et 
quam  digne  electus,  qui  non  solum  non  ponit  animam 
pro  ovibus,  sed  cui  parum  est,  quod  totus  grex  moriatur, 
ut  ipse  solus  vivat  abunde'  nach  dem  10.  Kapitel  des 
Johannesevangeliums.  Gemäß  Deuteron.  XXXII  14,  einer 
gern  zitierten  Stelle,  ist  der  Abbas  'pinguis  et  rotundus, 
incrassatus  et  dilatatus',  er  kann  mit  dem  Apostel  aus- 
rufen 'quis  infirmatur,  et  ego  non  firmor,  quis  scanda- 
lizatur,  et  ego  non  gratulor'  (2  Kor.  XI  29)  usw.  Den 
breitesten  Raum  nimmt  ein,  wie  sich  der  Abt  üppig 
kleidet,  —  'sed  de  hiis  alias  expressimus  in  posterioribus 
analectis  videlicet  iuvencularum  nostrarum  in  libro 
quarto  de  lenocinio'  (p.  XLI),  ein  fiktiver  Hinweis,  — 
wie  er  sich  wollüstig  Bacchus  inid  Venus  widmet  und 
das  alles  unter  steter  Umgehung  der  Ordensregeln  und 
Mönchsgewohnheiten,  1)  z.  B.  'abstinetne  ab  omni  carne? 
Non,  sed  a  quadrupedibus  tantum.  Comeditne  volatilia 
pennata?  Non,  sed  si  fuerint  deplumata  et  cocta,  tunc 
vescitur  ipsis,  quia  oriuntur  ab  aquis,  sicut  et  pisces, 
quibus  uti  est  illis  satis  licitum.  Sumunt  etiam  sui  erro- 
ris  defensionem  ab  auctoritate  b.  Ambrosii  qui  ait  „Ma- 
gne  Deus,  potenter  qui  ex  aquis  ortum  genus  partim 
remittis  gurgiti  partim  levas  in  aera".  Remittis  itaque, 
domine  abbas,  gutturi  tui  ea  quae  sursum  levantur 
in  aera  sicut  et  ea  quae  remittuntur  gurgiti,  utra- 
que  enim  ex  aquis  orta  sunt;  remittis,  inquam,  gur- 
giti tuo  pavones,  cignos,  grues  et  anseres,  gallinas  et 
gallinaceos,  id  est  gallos  castratos.  Gallos  autem  veros 
non  comedit.  Quare?  Quia  caro  ipsius  durior  est  et 
minus  saporifera  palato.  Est  ratio  et  altera:  Si  gallos 
comederet  simul  cum  gallinis,  tunc  tota  eorum  destrue- 
retur  propagö,  quod  optaret  serius  quam  calefieri  ad 
caminum   ignis.    Est  et   tertia   que   versimilior   videtur, 

*)  Nähere  Untersudiung  und  Vergleichting  würde  sidi  lohnen. 


Vom  Schwclgcrabt  191 


vidclicet:  quod  ideo  gallos  non  comedit,  quia  plus  va- 
lenl  gallinacii  qui  fiuiit  de  gallis,  cum  fuerint  castrati. 
Non  enim  eorum  reformidat  propaginis  defectum,  dum 
gulae  placeat  et  castiget  ingluviem.  Corvos  vero  iurat 
se  nullo  modo  velle  comedere,  quia  cum  missus  esset 
de  archa  Noe  invento  cadavere  noluit  reverti,  sicque 
probat,  quod  nequam  sit  et  utilis'  (p.  XLII)  usw.  'Praeter 
praedicta  ova  comedit  saepissime,  quia  regularia  sunt 
et  conservatoria  sanitatis;  cibus  enim  comfortabilis  est 
et  digestibilis  et  teste  Ovidii  aliquid  habet  in  se  petu- 
lantiae,  quod  in  hiis  plus  placet.  ^ed  quia  rigore  regulae 
coarctatur,    ne    quinarium    numerum    excedat,    comedit 

V  dura,  V  mollia,  V  frixa,  V  lixa,  V  cumino  dealbata, 

V  pipere  denigrata,  V  in  artocreis,  V  in  artocaseis,  V 
pulmentata,  V  sorbilia,  V  in  brachiolis  conflata;  quae 
licet  per  computationem  sint  LV,  divisim  tamen  sumpta 
non  sunt  nisi  V  (p.  XLIII)  usw.  Außer  den  Speisen, 
bei  denen  das  'moretum  Virgilii'  nicht  fehlt,  trinkt  der 
Abt  die  köstlichsten  Weine  in  unendlichen  Mengen,  und 
zwar  die  liturgischen  Fürbitten  parodierend  'bibit  semel, 
sed  multum  pro  pace  et  stabilitate  ecclesiae,  bis  pro 
praelatis,  ter  pro  sibi  subditis,  quater  pro  captivis,  quin- 
quies  pro  infirmis,  sexies  pro  aeris  serenitate,  septies 
pro  maris  tranquillitate,  novies  pro  peregrinantibus,  de- 
cies  pro  domi  sedentibus,  undecies  ut  parum  comedant 
monachi,  duodecies  ut  multum  comedat  ipse,  tredecies 
pro  universis  Christianis,  quaterdecies  pro  rebus  huma- 
nis,  quinquies  et  decies,  ut  Dominus  Dens  rorem  mittat 
super  montem  Gelboe,  quo  messes  albeant,  vineae  flo- 
reant  et  germinent  mala  punica  et  sie  numero  impari 
numerum  potationum  concludit  iuxta  illud  "Numero 
Deus  impari  gaudet"  (p.  XLIII)  usw.  Ähnlich  ließ  der 
Garsiastraktat^)  den  Erzbischof  von  Toledo 'Grimoardus' 
vor  den  Kardinälen  trinken  für  das  Heil  der  Welt,  für 
die  Erlösung  der  Seelen,  für  die  Kranken,  für  die  Erd- 
früchte, für  den  Frieden,  und  überhaupt  hat  das  Zechen 
in   dieser    Satire    des    11.    Jahrhunderts    ähnliche    Züge 

*)  Vgl.  oben  S.  47. 


192  Sdiwelgen  in  der  Goliasapokalypse 

wie  das  Saufen  des  Abtes  in  dem  jüngeren  Golias- 
schwank,  ohne  daß  Abhängigkeit  bestehen  dürfte:  Als 
der  Abt  stets  von  neuem  trinkt,  ruft  der  Goliarde  aus 
'Hae  sunt  passiones  quas  patitur  pro  Christo'  (p.  XLIII), 
in  der  antikurialen  Parodie  des  Garsias^)  ermuntert 
Papst  Urban  die  saufenden  Kardinäle  'Vere  beati,  quia 
multas  potationes  passi  estis  propter  iustitiam*.  Andere 
Seligpreisungen  folgen:  2)  'Bibite,  bibite,  beati  cardinales 
mei,  vere  beati,  intelligitis  enim  super  Albinum  et  Rufi- 
num.  —  —  —  Beati  qui  bene  potant,  qui  sapiunt  vina. 
Non  est  Romanae  auctoritatis  sobrium  esse/  Als  gegen 
Schluß  Gregor  zum  Papste  sagt  'Domine,  ecce  unus 
Potator  hie',  antwortet  dieser^)  'Deo  gracias!  Scriptum 
est  enim  "Domus  mea  domus  potacionis  vocabitur".' 
Häufiger  als  Papst  und  Kardinäle  werden  in  der  Poesie 
Abt  und  Mönche  beim  Schwelgen  geschildert. 

'Abbatum  video  mores  et  opera, 
quorum  est  quisque  dux  gregis  ad  ^infera; 
in  claustro  mobilis,  fixus  in  camera     - 
et  in  capitulo  tanquam  effimera. 

345  Hü  mundi  gaudia  sprevere  penitus, 
quod  probat  passio  silentis  spiritus, 
cordis   contritio,   aquarum   exitus, 
tonsurae  vilitas  et  turpis  habitus. 

Sed  cum  sit  habitus  illorum  turpior, 
350  in  ipsis  habitat  Venus  securior, 
si  male  convenit  tonsura  celsior, 
pronus  ad  calicem  frons  est  liberior. 

Si  flentes  cor  habent  contritum  solito, 
arrident  calici  semper  apposito, 
355  si  linguam  spiritu  refrenant  tacito, 
multa  convitia  loquuntur  digito. 

M  MG.  Libelli  de  lite.  II  431. 

2)  L.  c.  432  Z.  16  u.  434  Z.  6  f. 

3)  L.  c.  434  Z.  30  sq. 


Sdiwelgen  in  der  Goliasapokalypsc  lV3 

Quibus  prandentibus  voto  praecipiti 
fauces  celerrimae,  dentes  solliciti, 
sepulcrum  patens  est  guttur,  par  gurgiti 
360  spumoso  stomachus  et  rastris  digiti. 

Dum  coenas  celebrat  abbas  cum  fratribus, 
torquentur  calices  a  propinantibus 
vinumque  geminis  extollit  manibus 
et  sie  grandissonis  exclamat  vocibus: 

365  "O  quam  glorifica  lucerna  Domini 
calix  inebrians  in  manu  strenui! 
he!    o  Bache!    dux  sis  nostro  conventui 
stirpis  Daviticae  prole  nos  prolui!" 

Resumens  poculum  tractum  a  Gerere 
370  clamat:  "Hunc  calicem  in  suo  genere 
quem  bibiturus  sum,  potestis  bibere?" 
Respondent:  "Possumus!   ha!   hü   fac  propere!'* 

Sed  ne  potandi  sit  illa  conditio, 
qui  tenet,  teneat,  donec  de  medio 
375  fiat,  hinc  esset  lis  et  contradictio ; 
ad  plenum  bibitur  sine  litigio. 

Tunc  legem  statuunt  pactumque  mutuum, 
ne  sit  in  calice  quicquam  residuum. 
Sic  sine  requie  ventris  et  manuum 
380  vas  plenum  vacuant  et  replent  vacuum.* 

So  die  Goliasapokalypsc!^)  Verwandt  ist  die  Schilde- 
rung eines  lasterhaften  Prälaten  in  dem  Liede  'De  grege 
pontificum'  der  Arundelsammlung:^) 

'Gum  apponi  faciat 
sibi  quod   sufficiat 
tribus   Epicuris, 
cuncta   passim   demetit, 
35       nisi  quod   plus  appetit 
*ea,  que  sunt  pluris. 

^)  Poems  attrib.  to  Walter  Mapes,  ed.  Th.  Wright  p.  16  sqq. 
^)  W.  Meyer,  Die  Ärundelsammlung  mittellat.  Lieder  S.  43  ff. 

Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  13 


194  Vom  lasterhaften  Prälaten 

Invitatur  precio 
venter  in  convivio, 
Venus  in  cubili. 
40       Et  hoc  empto  carius 
delectatur  amplius 
quam  hac  merce  vili. 

Postquam  mundet  bibulus, 
tunc  deducet  oculus 
45       exitus   aquarum. 

Extunc  nee  discrecio 
sexus  nee  excepcio 
fiet  personarum. 

55       Totus  est  venerius 

nee  cursum  alterius 

sequitur  planete. 

Totus  est  libidinis; 

hinc  tota  lex  hominis 
60       peiidet  et  prophete. 

Si  denominacio 
fiat  ab   officio, 
quod  sit  omni  mane, 
deputare  poteris 
65       Septem    dies    Veneris 
omni  septimane. 

Cui  si  forte  predices, 
quod   debent   pontifices 
esse  luxu  puri, 
70       id  habens  pro  frivolo 
mavult  cum   apostolo 
nubere  quam  uri. 

Sed  si  dicas  "contine", 
dicet:  "In  volumine 


Das  Wirtshaus  am  Markt  195 

Pauli  continetur 
non,  iit  quis  contineat, 
sed   ut    suam    habeat 
cum  qua  fornicetur/" 

Wie  in  jenen  Versen  der  Goliasapokalypse  v.  347, 
359,  366  u.  a.  biblische  Worte  (Ps.  CXVIII  136,  V  11, 
XXII  5,  LXXIV  9)  verarbeitet  sind,  so  auch  in  diesem 
Gedicht,  v.  44  wiederum  Ps.  CXVIII  136  'exitus  aquarum 
deduxerunt  oculi  mei',  59  f.  Matth.  XXII  40  'in  his  du- 
obus  mandatis  universa  lex  pendet  et  prophetae',  72 
1  Kor.  VII  9  'melius  est  enim  nubere  quam  uri',  74  sqq. 
1  Kor.  VII  2  'propter  fornicationem  autem  unusquis- 
que  suam  uxorem  habeat'. 

Daß  in  Weinlaune  auch  profane  Dichtungen  zur  Er- 
zielung drastisch-komischer  Wirkungen  ihre  Parodie 
erhielten,  hat  L.  Ehrenthal  in  einer  vorzüglichen  Ab- 
handlung betont^)  und  durch  eine  sehr  interessante Ver- 
gleichung  nachzuweisen  versucht.  Schon  1882  hatte  W. 
Meyer ^)  vermutet,  das  Kneiplied  der  Carmina  Burana 
no.  176  'Dum  domus  lapidea"  wäre  „die  scherzhafte 
Nachbildung  eines  Gedichtes  von  feinen  Formen",  er- 
kannte aber  das  Vorbild  nicht,  bis  Ehrenthal  es  in  der- 
selben Benediktbeurer  Anthologie  als  no.  37  entdeckte. 


C.  B.  no.  37. 
'Dum  Dianae  vitrea 
sero  lampas  oritur, 
et  a  fratris  rosea 
luce  dum  succenditur, 
dulcis  aura  zephyri, 
Spirant  omncs  aetheri 
nubes  tollit, 

Sic  emollit 

vi  diordarum  pectora 

et  inmutat 

cor,  quod  nutat 

ad  amori^  pignora. 


C.  B.  no.  176. 
'Dum  domus  lapidea 
foro  Sita  cernitur, 
et  a  fratris  rosea 
Visus  dum  allicitur 
"dulcis",  ferunt  socii, 
"locus  hie  hospitii. 
Badius  tollat, 

Venus  molliat 

vi  bursarum  pectora 

et  inmutet 

et  computet 

vestes  in  pignora". 


^)  Studien  zu  den  Liedern  der  Vaganten,  Bromberg  1891. 
^)  Vgl.  Ges.  Abhandlungen  zur  mittellat.  Rythmik.  I  249. 


13^ 


196 


Das  Wirtshaus  am  Markt 


Laetum  iubar  hesperi 
gratiorcm 
dat  humorem 
roris  soporiferi 
mortaliura  generi. 

O  quam  felix  est 
antidotum  soporis, 
quod  curanim  tcmpestates 
sedat  et  doloris. 
Dum  surrepit  clausis 
aculorum  poris, 
ipsum  gaudio  aequiparat, 
dulcedine  amoris*. 
usw. 


Molles  cibos  edere 

impinguari, 

dilatari 

studeamus  ex  adipe 

alacritcr  bibere. 

Heu  quam  felix  est 
iam  vita  potatoris, 
qui  curarum  tempestatem 
sedat  et  maeroris, 
dum   flavescit  vinum  in  vitro 
subrubei  coloris*. 
usw. 


Hier  der  Mondschein  über  den  Bäumen,  der  zur  Liebe 
lockt,  dort  das  steinerne  Wirtshaus  am  Markte,  das  zum 
Kneipen  einladet.  Hier  feinfühlige  Verquickung  von  Na- 
turstimmung und  Liebesgefühlen,  dort  ein  immer  wilder 
werdender  Zechgesang.  Die  ersten  drei  oder  vier  Stro- 
phen zeigen  deutlich  Zusammenhang,  von  Strophe  5  ab 
gehen  die  Lieder  auch  im  Versmaß  weiter  und  weiter 
voneinander  fort.  Mir  zweifellos,  hat  ein  fröhlicher  Kum- 
pan seinen  Kantus  vom  Wirtshaus  nach  der  Melodie 
des  Liebesliedes  gesungen  und  namentlich  im  Anfang 
sich  stark  in  Worten  und  Reimen  angelehnt.  War  den 
Hörern  und  Lesern  des  Kneipliedes  das  Gedicht  'Dum 
Dianae  vitrea'  wohlvertraut,  war  es  vielleicht  unmit- 
telbar vorher  gesungen  worden,  dann  war  ein  Lach- 
erfolg der  Imitation  unvermeidlich,  dann  kann  und  muß 
man  von  Parodie  reden.  Diese  Aufeinanderfolge,  die 
bewußte  Kontrastierung  kann  man  jedoch  nur  vermu- 
ten. Es  gibt  Fälle  genug,  wo  im  Mittelalter  ein  Lied  sich 
in  Ton  und  Wort  streng  nach  einem  anderen  gerichtet 
hat,  ohne  daß  an  parodistische  Variation  zu  denken 
wäre.  Ganz  ähnlich  wie  zwischen  'Dum  Dianae  vitrea' 
und  'Dum  domus  lapidea'  ist  das  Verhältnis  zweier  an- 
derer Stücke  der  Carmina  Burana.  W.  Meyer  ^)  sieht  in 
dem  Gedicht  'Si  quis  Deciorum'  (no.  174)  eine  Parodie 


^)  Ges.  Abhandlungen.  I  249  f.  und  330. 


Kneipen  und  Spielen 


197 


des  Leiches  'Si  quem  Pieridum'  (no.  36).  Wiederum  singt 
die  Vorlage  von  der  Liebe,  die  Umdichtung  von  den 
Freuden  des  Zechers  und  vor  allem  des  Spielers.  Hält 
man  die  Texte  nebeneinander,  erkennt  man  die  Korre- 
spondenz  der   beiden   Gedichte   ohne  weiteres. 


C.  B.  no.  36. 

I. 

'Si  quem  Pieridum 
ditavit  concio, 
nulli  Teieridura 
aptetur  otio; 
par  Phoebi  cytharae 
sum  in  verno  nectare. 

2. 

Cui  prae  cunctis 
virginum  obedio, 
vita  me  potest 
alere  vel  mortis  taedio, 
sed  decus  hoc  intimum 
mavult  potissimum. 


Terminum  vidit 
brumae  desolatio, 
gaudent   funditus 
in  florum  exordio 
qui  norunt  Cypridem 
plaudentes  eidem. 

4. 

Nunquam  tanti  cordis 
fuit  prius  Jupiter, 
de  spe  Venerea 
opinor  iugiter. 
Me  vita  fertilis 
alit  et  spes  habilis. 


Ne  miretur  ducis  tantac 
quis  sublimitatem 
quae  me  sibi  vi  praestante 
doctum  rcddit  plus  quam  ante 
stillans  largitatem. 


C.  B.  no.  174. 

1. 

'Si  quis  Deciorum 

dives  officio 

gaudes  in  vagorum 

esse  consortio, 

vina  nunquam  spernas, 

diligas  tabernas. 

2. 

Badii  qui  est 
Spiritus  infusio 
gentes  allicit 
bibendi  studio 
curarumque  taedium 
solvit  et  dat  öaudium. 


Terminum  nuUum 
teneat  nostra  concio, 
bibat  funditus 
confisa  Decio; 
nam  ferre  scimus  eum 
fortunae  clypeum. 


Circa  frequens  Studium 
sis  sedula, 
apta  digitos 
gens  eris  aemula 
ad  fraudem  Decii 
sub  spe  stipendii. 

7. 

Ne  miretur  homo  talis, 
quem  tus  es  nudavit; 
nam  sors  item  cogit  talis 
dare  penam  factis  malis 
Jovemque  beavit. 


198  Kneipen  und  Spielen 


22. 
Huic  me  cordc  flagrante 
nosco  intricatum, 
cuius  nutu  me  versante 
et  ad  Votum  conspirante 
me  fero  beatum/ 


17. 
Corde  si  quis  tarn  devoto 
ludum  imitatur, 
huius  rei  testis  Otto, 
colum  cuius  regit  Clotho, 
quod  saepe  nudatur/ 

Alle  23  Strophen  der  Parodie  haben  durch  Strophen- 
bildung,   Zeilenbau,    oft    durch    Reimsilben   und    Wort- 
beginn  ihre   auffälligen   Entsprechungen   oder  Ähnlich- 
keiten mit  dem  Vorbilde.    In  der  Mitte  hat  dieses  mit 
Str.    14—16,   am   Schluß   mit  29—31   Überschüsse.    Man 
könnte  in  diesem  wie  im  vorigen  Falle  von  einer  bur- 
lesken Imitation  reden,  aber  man  darf  wohl  auch  bei 
der  Bezeichnung  Parodie  bleiben.   Ausgesprochen  paro- 
distisch  ist  Str.  22  von  'Si  quis  Deciorum': 
'Tunc  rorant   scyphi  desuper 
et  canna  pluit  mustum, 
et  qui  potaverit  nuper 
bibat  plus  quam  sit  iustum.' 
Die    Verse    bilden    eine    Scherzwendung   des    Gottes- 
wortes aus  Isaias  XLV  8:    'Rorate,    caeli,    desuper,    et 
nubes   pluant  iustum.'    Dieselben   parodistischen   Verse 
erscheinen   in   der   noch   zu  besprechenden   humoristi- 
schen   Lectio^)   Danielis    prophetae    'Fratres,   ex   nihilo 
vobis  timendum  est'  und  als  Antiphon  einer  Saufmesse. 
Jenes  Gedicht  'Dum  domus  lapidea',  das  zuerst  ein  zar- 
tes Liebeslied  nachahmt,  hat  übrigens  einen  ganz  wüsten 
Ausgang:    Betrunken   verlassen   die    Zecher  das   Wirts- 
haus und  fallen  in  die  Gosse. 

'Ex  domo  strepunt  gressu  inaequali 

nasturtio  procumbunt  plateali, 

fratres  nudi  carent  penula, 

ad  terram  proni  flectuntgenua 

In  luto  strati  dicunt  "Orate". 

Per  posteriora   dorsi  vox  auditur  "L  e  v  a  t  e", 

exauditae  iam  vestrae  sunt  oratio  nes, 

quia  respexit  Bachus    vestras  con- 

p  u  n  c  t  i  o  n  e  s. 

*)  Anzeiger  f.  Kunde  der  deutsdien  Vorzeit.   NF.  XY  (1868)  S.  9- 


Sauf*  und  Spiclmcsscn  199 


Omiies  dicunt  "Surgite,  eamus, 
venter  exposcit,  ut  paululum  edamus'"  usw. 

Nach  dem  Muster  der  Fastenzeit,  wo  der  Priester 
auffordert  'Oremus*  und  der  Diakonus  'Flectamus  ge- 
nua',  der  Subdiakonus  'Levate',  läßt  der  Parodist  die 
Bezechten  die  Knie  in  den  Straßendreck  beugen  und 
beten,  läßt  den  Hintern  das  'Levate'  sprechen.  Auch 
die  Worte  'Euere  Bitten  sind  erhört'  usw.  klingen  an 
die  Bibel  an,  das  'Surgite,  eamus'  wohl  an  Job.  XIV  31. 

Man  sieht:  Die  mittellateinischen  Dichter  kommen, 
wie  weltlich  sie  sich  auch  gebärden,  vom  Geistlichen, 
Kirchlichen  nicht  recht  los.  Manchmal  verraten  nur 
leise  Anspielungen,  gelegentliche  Entlehnungen,  daß  es 
zumeist  Kleriker  gewesen  sind,  die  gedichtet,  Kleriker, 
die  zugehört  haben.  Oft  aber  kann  man  den  „kirch- 
lichen" Charakter  des  unkirchlichen  Schrifttums  der 
Sinnenfreude  geradezu  mit  den  Händen  greifen. 

Die  Superlative  der  Kneipliteratur  sind  Parodien  der 
heiligen  Messe,  der  Evangelienlesungen,  der  Litaneien, 
der  Predigten  u.  dgl. 

Mittelalterliche  Sauf-  und  Spielmessen  liegen  in 
verschiedenen  Handschriften  vor.  Bereits  die  Benedikt- 
beurer  Sammlung  aus  dem  ersten  Drittel  des  13.  Jahr- 
hunderts bringt  (C.  B.  no.  189)  ein  'Officium  lusorum'. 
Die  übrigen  Handschriften  führen  ins  15.  und  16.  Jahr- 
hundert: eine  'Missa  de  potatoribus'  in  London  Har- 
leian  Ms.  913,  'Missa  Gulonis'  in  London  Harleian  Ms. 
2851,  eine  titellose  Meßparodie  in  dem  Hohenfurter  Kodex 
Rom  Pal.  lat.  719  und  eine  'Potatorum  missa'  in  Ms.  71  des 
Domgymnasiums  zu  Halberstadt.  Dazu  kommen  Teile 
und  Bruchstücke  aus  Wettingen  in  der  Kantonalbiblio- 
thek zu  Aarau,  aus  St.  Gallen  in  Zürich  G.  101  —  in 
Galt  Kemlis  Katalog  'Officium  Ribaldorum  cum  suis 
requisitis'  genannt  i)  — ,  aus  Prag,  ferner  aus  Westfalen 
in  München  lat.  10751  (saec.  XVI  gesammelt). 

^)  Mittelaltcrlidic  Bibliothekskataloge  Deutschlands  und  der  Schweiz.  I  125  Z.  10. 


200  Sauf"  und  Spielmcsscn 


Während  das  Benediktbeurer  Offizium  und  die  Lon- 
doner Texte  aus  romanischem  Gebiete  stammen,  sind 
die  übrigen  deutscher,  deutschböhmischer,  deutsch- 
schweizerischer Herkunft.  Die  UrbiMer  aller  werden 
wohl  in  Frankreich  entstanden  sein,  das  in  seinen  Uni- 
versitäten seit  dem  12. /13.  Jahrhundert  den  fruchtbar- 
sten Nährboden  für  solche  Spaße  gebildet  hat.  Wenn 
der  St.  Galler  Mönch  Galt  Kemli,  ein  viel  umhergewor- 
fenes Menschenkind,  bemerkt^)  Tstud  officium  fuit 
quondam  conpositum  a  quodam  magistro  magno  in  stu- 
dio Parisiensi',  gibt  er  damit  eine  vermutlich  rich- 
tige Tradition  wieder.  Fraglich  ist  die  Tragweite  seiner 
weiteren  Behauptung  'cuius  scolares  et  studentes  taber- 
nam  et  ludos  frequentantes,  qui  nullo  modo  poterant 
corrigi  per  lecturam  optimorum  librorum  et  ipsis  con- 
vocatis  legit  eis  ad  presentiam  hoc  officium.  Unde  multi 
eorum  correxerunt  vitam  suam  et  ad  bonum  statum 
pervenerunt'.  Das  Verlesen  von  Parodien  zur  Abschrek- 
kung  entspricht  dem  Verfahren  der  spätmittelalterlichen 
Lehrer  und  Prediger.  Es  sei  hier  nochmals  an  die 
Ausführungen  von  Gottschalk  Hollen  und  Bernardinus 
von  Siena  erinnert.  Das  aber  kann  ich  mir  nicht  recht 
vorstellen,  daß  die  Zuhörer  gerade  durch  die  Parodien 
von  Reue  ergriffen  worden  wären.  Und  entstanden  sind 
die  Verhunzungen  der  Messe  gewißlich  in  übermütiger 
Stimmung  für  tolle  LUke,  Saufereien  u.  dgl.  Toll  sind 
diese  Parodien,  nicht  nur  insofern  als  sie  Heiliges  ent- 
würdigen, toll  auch,  weil  sie  in  ganz  krassem  Maße  in 
das  Jauchzen  über  die  Genüsse  des  Zechens  Spott  und 
Schadenfreude  über  die  Sitten  und  Schicksale  der  Spie- 
ler und  Trinker  mischen. 

Wer  sie  heutzutage  einigermaßen  verstehen  will,  muß 
über  ein  gutes  Maß  liturgischer  Kenntnisse  verfügen. 
Mir  ward  das  Verständnis  weniger  durch  die  früheren 
Herausgeber  erleichtert  als  durch  hilfsbereite  theolo- 
gische  Kollegen   und   Hörer,   namentlich  durch  meinen 

')  Vgl.  Jak.  Werner,  Beiträge  zur  Kunde  der  lat.  Literatur  des  Mittelalters,  Aarau 
1905,  S.  211. 


Sauf"  und  Spielmcssen  201 


Schüler  Herrn  Kaplan  Leo  Kozelka,  den  ich  oftmals 
um  Rat  fragen  durfte,  wenn  ich  mich  allein  nicht  mehr 
oder  nicht  schnell  genug  in  Missale  und  Brevier  zu- 
rechtfand. Die  Mühen  waren  auch  deshalb  groß,  weil 
die  Parodisten  keineswegs  etwa  ein  einzelnes  bestimm- 
tes Formular  nachahmten,  sondern  sich  die  Muster  aus 
verschiedenen  Messen,  Brevierteilen  usw.  zusammen- 
gestellt haben  und  gelegentlich  sich  begnügten,  den  li- 
turgischen Ton  zu  treffen,  ohne  den  Wortlaut  der  Vor- 
lage deutlich  durchschimmern  zu  lassen,  groß  auch, 
weil  die  Meßparodien  unter  sich  variieren  und  die  Mis- 
salia  und  Breviaria  heute  in  vielem  nicht  mit  den  mit- 
telalterlichen übereinstimmen. 

Wir  durchgehen  besonders  die  größeren  Texte  der 
Harleiani,  des  Palatinus,  Halberstadiensis  und  Buranus. 

Am  ausführlichsten  hat  das  Meßformular  der  Pala- 
tinus, ihm  sehr  nahe  verwandt  ist  der  etwas  kürzere 
Halberstadiensis,  etwas  weiter  stehen  die  Harleiani  ab, 
am  weitesten  der  Benediktbeurer  Text.  Dieser  ist  mehr 
Spielermesse,  jene  mehr  Trinkermessen.  Jedoch  fehlt 
weder  Decius,  der  Gott  des  Würfeins,  hier  nocli  Bac- 
chus dort. 

In  den  englischen  Handschriften  beginnt  die  Messe 
mit  einer  Parodie  des  Stufengebetes  als  Einleitung  zur 
heiligen  Handlung  am  Altar  des  Bacchus,  der  des  Men- 
schen Herz  erfreut: 


'V.  Introibo  ad  altare  Bachi 

R.  Ad  eum  qui  letificat  cor  hominis.' 


Ant.  Introibo  ad  altare  Dei. 
Resp.  Ad  Deum  qui  laetificat  iuven» 
tutem  meam.* 

Dann  kommt  sowohl  in  den  Harleiani  wie  den  Co- 
dices Halberstadiensis  und  Palatinus  ein  bacchantisches 
Schuldbekenntnis  nebst  Absolution,  dem  Confiteor  und 
der  Absolutio  innerhalb  des  Stufengebets  genau  nach- 
gebildet. Das  darauffolgende  Gebet  'Nimm,  o  Bacchus, 
uns  alle  Kleider,  und  laß  uns  nackt  in  die  Kneipe 
ziehen'  steht  allein  in  den  englischen  Handschriften, 
entspricht  aber  vollauf  dem  'Aufer  a  nobis'  usw.,  das 
der  Priester  betet,  wenn  er  nach  dem  Stufengebet  zum 


202  Sauf»  und  Spielmesscn 


Altar  hinaufgeht.  Der  Introitus  imitiert  in  allen  vier 
Textzeugen,  auch  in  dem  hier  beginnenden  'Officium 
lusorum'  des  BuranUwS  das  'Gaudeamus  in  Domino' usw. 
z.  B.  des  Allerheiligenfestes  und  fordert  nicht  etwa 
zur  Freude  in  Gott,  sondern  zur  Trauer  über  das  Un- 
glück beim  Spiel  auf.  In  den  dazu  gehörigen  Versikeln 
und  in  der  Oratio  gehen  die  Fassung  Palatinus  und 
Halberstadiensis,  der  Buranus  und  die  Harleiani  aus- 
einander. So  haben  diese  zuerst  eine  Parodie  von  Ps. 
LXXXIII 5  und  1 2,  Palatinus  und  Halberstad.  nur  von 
LXXXIII 5,  der  Buranus  von  Ps.  XXXIII  2.  Die  Oration 
der  englischen  Überlieferung  fleht  um  Ausbeutung  der 
Bauern,  um  Genießen  der  Bauernweiber  durch  die  Kleri- 
ker. Die  übrigen  Zeugen  bringen  Spielergebete.  Wie  hier 
sind  in  einem  fort  die  liturgischen  Formeln  verdreht, 
heilige  und  ehrerbietige  Worte  durch  freche  Zurufe  vom 
Kneip-  und  Wurf  eltisch  verdreht:  'Potemus'  statt  'Ore- 
mus',  'Dolus  vobiscum  —  Et  cum  gemitu  tuo'  statt  'Do- 
minus vobiscum  —  Et  cum  spiritu  tuo'  'Per  doleum 
nostrum  avumque  Bachum  qui  tecum  bibit  et  cartat  per 
omnia  pocula  poculorum  Stramen'  statt  'Per  Dominum 
nostrum  Jesum  Christum  qui  tecum  vivit  et  regnat  per 
omnia  saecula  saeculorum.  Amen',  'Gloria  potori  et 
filio  Londri'  statt  'Gloria  patri  et  filio'  usw.  Die  nach 
Act.  ap.  IV  32  u.  VI  8  sqq.  gebildete  und  verschieden 
betitelte  Epistel  führt  überall  eine  Spielerszene  im 
Wirtshaus  vor.  Beim  Graduale  haben  alle  vollständi- 
gen Handschriften  zuerst  das  Wort  'Wirf  deine  Ge- 
danken auf  den  Würfelgott,  und  er  wird  dich  täu- 
schen', wodurch  die  im  Graduale  z.  B.  am  dritten  Sonn- 
tag nach  Pfingsten  gebräuchliche  Stelle  Ps.  LIV'23  pa- 
rodiert wird.  Im  weiteren  Wortlaut  finden  sich  meh- 
rere Unterschiede:  Palatinus  und  Halberstadiensis  fah- 
ren mit  einer  Verzerrung  von  Ps.  GXVII  23  fort,  der 
Buranus  vermengt  und  parodiert  die  nach  Ps.  LIV17ff. 
und  CXIX 1  f.  gebildeten  Gradualversikel  des  zweiten 
und  dritten  Sonntags  nach  Pfingsten,  der  eine  Har- 
leianus  fügt  an  die  Parodie  von  Ps.   LIV  23  direkt  die 


Sauf»  und  Spielmessen  203 


von  CXIX 1,  der  andere  entstellt  die  letzte  Psalmstelle 
stärker  und  fährt  fort  mit  'Rorate  ciphi  desuper  et 
nubes  pluant  mustum,  aperiatur  terra  et  germinet  po- 
tatorem',  einer  feuchtfröhlichen  Spottwendung  von  Js. 
XLV8,  welche  Worte  als  Introitus  in  der  Adventszeit 
üblich  waren  und  sind.  Statt  des  Alleluia  wird  in  drei 
Codices  Allecia,  d.  i.  Heringe,  gesungen.  Palatinus,  Hal- 
berstadiensis  und  das  Fragment  in  München  lat.  17501 
lassen  die  Weinsequenz  'Vinum  bonum  et  suave'  in  ver- 
schiedenen Fassungen  folgen,  das  Benediktbeurer  Offi- 
zium eine  Spielersequenz,  die  sich  die  schöne  Oster- 
sequenz  Wipos  'Victimae  paschali'  frech  zum  Muster 
genommen  hat.  Die  Evangelienperikope  parodiert  im 
Palatinus,  Halberstadiensis  und  den  Harleiani  die  Lu- 
kaserzählung von  der  Hirten  Anbetung  des  Jesukind- 
leins in  Bethlehem  durch  eine  Geschichte  von  Trin- 
kern, die  zum  vollen  Faß  ziehen,  sich  besaufen,  ihre 
Kleider  versetzen  müssen,  Bacchus  preisen,  Decius  ver- 
wünschen. Im  Buranus  ist  die  Erscheinung  des  auf- 
erstandenen Christus  im  Kreise  seiner  Jünger,  der  Un- 
glaube des  Thomas  (Joh.  XX 19  ff.)  und  das  Gleichnis 
vom  Sämann  (Matth.  XIHSf.)  zugrunde  gelegt.^)  De- 
cius selbst  erscheint  in  der  Mitte  der  Spieler.  Der  dabei 
abwesende  Primas  glaubt  das  nachher  nicht.  Schließ- 
lich würfeln  sie,  der  eine  wird  ausgebeutelt  und  ver- 
liert sogar  seine  Kleidung.  Das  Offertorium  ist  in  der 
Benediktbeurer  Parodie  dem  Spielgott  nach  Ps.  XVII  28, 
sonst  Bacchus  gewidmet.  Das  Bacchusoff ertorium  fällt 
dem  Aufbau  nach  in  drei  Codices  aus  dem  gewöhn- 
lichen Stil  des  Offertoriums  heraus,  parodiert  die  O- 
Antiphonen  der  Adventszeit.  Der  eine  Harleianus  scheint 
Filccli.  X  19  zu  parodieren.  Während  sie  im  Buranus  und 
den  Harleiani  fehlt,  folgt  im  Halberstadiensis  und  Palati- 
nus eine  Bacchuspräfation,  die  sich  am  Schluß  nach  der 
Dreifaltigkeitspräfation  richtet.  Das  'Sanctus'  wird  im 
Palatinus  am  ausführlichsten  und  stilgerechtesten,  im 
Halberstadiensis  nur  durch  dreimaliges  'Bachus'  paro- 

M  Am  Sdilu]&  wohl  noch  Imitation  von  Joh.  XII  36. 


204  Saufs  und  Spielmessen 


diert.  In  dem  einen  Harleianus  heißt  es  ausdrücklich: 
'Sanctus'  und  'Agnus'  werden  nicht  gesungen,  sondern 
bloß  der  Friedenskuß  mit  Schwertern  und  Knüppeln 
gegeben.  Das  Benediktbeurer  Officium  bietet  hier  nichts, 
vielmehr  nach  dem  Offertorium  direkt  —  wohl  an  Stelle 
der  Sekret  —  eine  Oration  gegen  die  Habgierigen  und 
Geizigen,  die  an  das  'Effunde  iram  tuam'  von  Ps. 
LXXVIII  6  anknüpft.  Der  'Canon  missae'  fehlt  überall! 
Der  Halberstädter  Text  läßt  auch  Paternoster,  Commu- 
nio,  Postcommunio  fort.  Im  Palatinus  und  den  Harlei- 
ani  wird  das  Paternoster  zu  einem  Vaterunser  des  Wein- 
gottes. Das  Agnus  Dei  parodiert  der  Palatinus  durch 
ein:  'O  Wirt  des  Bacchus,  der  du  die  Nüchternheit  der 
Welt  beseitigst,  gib  uns  zu  trinken'  usw.  Die  Communio 
desselben  Codex:  'Kommt  her  zu  mir,  ihr  Bacchuskinder, 
und  nehmet  den  Wein,  der  für  euch  bereitet  ist  seit  der 
Schöpfung  des  Weinstockes',  hat  die  z.  B.  als  Introitus 
gebrauchten  Worte  Matth.  XXV  34  zum  Vorbild.  Die 
Communio  des  Buranus  parodierte  die  des  3.,  4.,  5., 
6.  Sonntags  nach  Epiphanie  Luk.  IV  22,  und  schloß 
damit  das  Officium.  Als  Postcommunio  steht  im  Pala- 
tinus das  bekannte  bauernfeindliche  Gebet,  das  übrigens 
im  Buranus  vor  der  Epistel  nachgetragen  ist,  im  Harlei- 
anus dagegen  eine  Verwünschung  der  Würfelspieler.  Das 
'Ite,  missa  est'  parodiert  sowohl  der  Palatinus  durch  'Ite, 
polus  tempus  est',  der  Harleianus  durch  'Ite,  bursa 
vacua'.  Palatinus  und  Halberstadiensis  schließen  die 
Bitte  an:  'O  herrlicher  Wein,  wie  süß  bist  du  zu  trinken; 
du  machst  aus  einem  Laien  einen  Logiker,  aus  einem 
Bauern  einen  Esel,  aus  einem  Mönche  einen  Abt.  Komm, 
mach  uns  trunken  und  zögere  nicht',  womit  wieder  an 
die  große  Antiphon  erinnert  wird. 

Das  St.  Galler-Züricher  Fragment  bringt  leider  nur  einen 
Fetzen  vom  Schluß  und  zeigt  doch,  daß  dieses  Officium 
Bibaldorum  mit  keinem  anderen  Textzeugen  vollständig 
übereinstimmte.  München  lat.  10751  enthält  ausgewählte 
Stücke  aus  einem  parodistischen  Meßformular:  die  Er- 
mahnung   zum    Trinken    'Quicumque    vult    esse    bonus 


Bacchantische  Perikopen  0,05 


frnter,  bibat  semel,  bis,  ter,  quater',  Gebete  vor  der  Epi- 
stel, die  Weinsequenz,  ein  Trinker- Vaterunser  und  einen 
bauernfeindlichen  Dank. 

Ein  von  Feifalik  veröffentlichtes  böhmisches  Stück 
ist  ein  parodistisch-liturgisches  Potpourri,  das  von  Spie- 
lern und  Zechern  handelt.  Es  beginnt  bei  dem  paro- 
dierten Invitatorium  der  Matutin  in  Verbindung  mit 
Ps.  XCIV;  statt  der  erwarteten  Doxologie  'Gloria  patri' 
folgen  eine  Parodie  der  Worte  'Requiem  aeternam 
dona  eis.  Domine,  et  lux  perpetua  luceat  eis',  mit  denen 
die  Psalmen  das  Totenoffizium  schließen,  Parodie  von 
Ps.  LXXXIV8,  schließlich  zwei  Bacchuskollekten.  Als  Er- 
gänzung des  Officium  lusorum  kann  man  vom  Schluß  der 
Carmina  Burana  no.  196  'Ego  sum  abbas  Cucaniensis 
et  consilium  meum  est  cum  bibulis  et  in  secta  Decii 
voluntas  mea  est  et  qui  mane  me  quaesierit  in  taberna, 
post  vesperam  nudus  egredietur  et  sie  denudatus  veste 
clamabit'  usw.  hinzunehmen.  Das  ist  gleichsam  eine 
Antiphon  zur  Spielermesse.  Benutzt  sind  die  Bibelstellen 
Prov.  VIII  12  'Ego  sapientia',  14  'meum  est  consilium', 
17  'qui  mane  vigilant  ad  me,  invenient  me'. 

Auf  die  Wiedergabe  bacchantischer  Evangelienperi- 
kopen  haben  sich  die  Schreiber  zweier  englischer  Hand- 
schriften beschränkt.  Unter  der  Überschrift  'Sequencia 
leti  evangelii  secundum  luc<r>um'  und  nach  der  Ein- 
leitungsformel 'In  illo  tempore'  wird  in  Cambridge  Cor- 
pus Christi  College  Ms.  343  saec.  XIV  f.  72»  vom  'Phari- 
saeus  Lucius  voragine  princeps  potatorum'  berichtet  und 
von  den  Lehren,  die  er,  Christi  Worte  parodierend,  seinen 
Jüngern  gegeben :  Sei  nicht  gerecht  und  töte  nicht,  sondern 
ehebreche,  begehre  nicht  der  Habe  deines  Nächsten, 
sondern  seiner  Frau.  Verflucht  sei  der  Baum,  der  keine 
Frucht  trägt.  Was  ich  einem  unter  euch  sage,  das  sage 
ich  allen.  Jeder  habe  seine  Geliebte.  Und  wiederum: 
Esset  tüchtig  und  trinket  viel  usw.  Das  kurze,  unten 
zum  ersten  »Male  veröffentlichte  Stück  schließt  mit  ei- 
nem 'Ich  glaube  an  Gott  Bacchus,  den  Vater  der  Alles- 
säufer'.    Die    andere   Perikope,    die   schon   Wright   und 


206  Sdierzreden 

HalliwelP)  bekanntgaben,  beginnt  'Initium  fallacis  evan- 
gelii  secundum  Lupum.  Fraus  tibi,  Bache!  In  illo  tem- 
pore cum  natus  esset  Bachus  in  Waltona'  scheint  ein 
Oxforder  Studentenscherz  etwa  aus  der  ersten  Hälfte 
des  14.  Jahrhunderts  zu  sein  und  meldet,  wie  von  allen 
Enden  der  Welt  die  großen  Trinker  gleich  den  drei 
Weisen  aus  dem  Morgenlande  den  neugeborenen  Bac- 
chus suchten.  'Ubi  est  qui  natus  est  rex  ribaldorum, 
dux  potatorum,  harlotorum,  glotinorum,  villanorum?  Et 
vidimus  Signum  eins  in  Oriente  et  in  omnibus  partibus 
viilae  Oxoniae'  usw.  Zum  Schluß,  als  sie  die  Geschenke 
dargebracht  haben,  sind  sie  alle  betrunken,  einer  von 
ihnen  fällt  in  den  Schmutz,  so  daß  ihm  der  Wein  aus 
Mund  und  Nase  hinausläuft. 

Im  Codex  Oxford  Bodl.  Add.  Ms.  A.  44  saec.  XIII 
hat  sich  ein  Spaßvogel  an  eine  'Collacio  iocosa  de  dili- 
gendo  Lieo'  herangewagt,  wo  im  Predigtstil  unter  ge- 
schickter Benutzung  und  Verzerrung  der  verschieden- 
sten Bibeistellen  als  erstes  und  hauptsächliches  Gebot 
der  Satz  'Liebe  den  Herrn  Lieus  mit  deinem  ganzen 
Munde  und  deinem  ganzen  Bauche  und  allen  Eingewei- 
den' eingeprägt  und  begründet  wird  bis  zu  einer  Ge- 
betsparodie für  den  weinmächtigen  Lieus:  'der  du  uns, 
deinen  Dienern,  durch  deines  Weines  Kraft  Vergessen 
schenkst  usw.,  der  du  lebst  und  regierst  per  omnia 
pocula  poculorum'. 

Das  Lob  des  Rebensaftes,  des  Trinkens  und  Schlem- 
mens  durchzieht  ferner  die  Scherzreden,  die  ernste 
Predigten  ins  Burleske  ziehen  und  bald  nur  zum  Lesen 
bestimmt  waren,  bald  wie  die  Monologe  der  Mirakel- 
spiele Vorträge  und  Aufführungen  eröffneten.  Die  hei- 
lige Traube,  der  heilige  Hering,  Schinken,  Bacchus  und 
Becher  werden  komisch  gepriesen.  Schon  1313  schuf 
Geoffroy  de  Paris  'Le  martyre  de  Saint  Baccus'.  Aus  der 
Mitte  des  15.  Jahrhunderts  haben  wir  einen  Sermon, 
der  mit  den  Worten  "Si  vivere  sanus  tu  vis".  Hec 
verba   scribuntur   in   Cathone   ultimo   capitulo'   beginnt. 

^)  Rcliquiae  antiquae.  II  58. 


Lustige  Urkunden  207 


Um  1460  schreibt  Jehan  de  Molinet  in  Valenciennes 
einen  'Sermon  de  Billouart  "Introivit  in  tabernaculo, 
lacrimante  recessit  oculo".  Süddeutschen  Ursprungs  — 
Augsburg,  15.  Jahrh.  —  ist  eine  predigtartige  lateinische 
Ermahnungsrede^)  nicht  zu  fasten,  sondern  tüchtig  zu 
essen  und  zu  trinken,  ein  Ulk,  der  sich  auf  die  Bibel, 
auf  Aristoteles,  Boethius  und  andere  Autoritäten  stützt! 
Und  noch  um  1543  hebt  in  Lyon  ein  'Sermon  joyeux 
et  de  grande  value  ä  tous  les  foulx  qui  sont  dessoubz 
la  nue'  an.  'In  nomine  Bachi  et  Ciphi  atque  S.  Doli. 
Amen.  "Ve  qui  sapientes  estis  in  oculis  vestris."  Hec  verba 
Esaye  originaliter  quinto  capitulo  scribuntur  et  recita- 
tive  ad  nostre  collacionis  fondamentaliter  exordium  as- 
sumentur.'  Andere  —  nicht  alle  —  Beispiele  erwähne  ich 
im  letzten  Kapitel.  In  den  eben  zitierten  Stücken  mit 
Ausnahme  der  Augsburger  'Predigt'  wird  das  meiste  in 
den  Vulgärsprachen  vorgetragen,  nur  eingeleitet  und 
diu'chsetzt  von  lateinischen  Zitaten  und  Zitatenparodien. 
Wollten  wir  die  nichtlateinischen  Texte  des  späten 
Mittelalters  einbeziehen,  wäre  viel  zu  nennen,  Predigten 
wie  Kneiplieder,  ganz  französische,  italienische,  eng- 
lische, deutsche  und  vor  allem  Mischpoesie.  Ich  lasse 
da    bewußt    eine    Lücke,    die   andere    ausfüllen    mögen. 

Aus  dem  Kreise  der  frohen  Zecher  und  Schlemmer 
sind  schließlich  auch  Urkundenparodien  hervor- 
gegangen, so  das  unveröffentlicht  in  Paris  liegende,  mir 
aus  einer  Abschrift  bekannte  Schreiben  saec.  XV  'Nos 
Gorgias  ingurgitantium,  abbas  bachantium,  antistes  to- 
ciusque  plage  australis  montis  Pernasi  et  Gaucasi  sum- 
mus  pontifex  omnibus  ac  singulis  religiosis,  conventu- 
alibus  nee  non  conversis  nostris  salutem  et  sinistre 
cubiti  amplissimam  benedictionem.  Quemadmodum  de- 
siderat  cervus  montes  aquarum  sie  semper  sitivit 
pulmo  meus  vos,  filii  mei  omnes,  apostolicum  fontem 
usw.,  Befehl  und  Empfehlung  zu  trinken  und  zu 
schmausen  und  zu  lieben  unter  Hinweis  auf  die  Heilige 

^)  W.  Wattenbadi  im  Anzeiger  f.  Kunde  d.  deutschen  Vorzeit.  N.F.  XIII  (1866)  S.  393  ff. 


208 


Säuferdiplom ;  Goliardenlcbcn 


Schrift,  ^)  so   das  Aufnahmediplom  in  den  Säuferorden 
für  Andreas  Tobler  aus  München.  2) 


3.  Goliarden-  und  Studenten  leben. 


Ecce  homo 

sine  domo, 

sine  rerum  pondere 

huc  accedit, 

quid  credit 

aliquid  accipere. 

Bone  pater, 
cuius  mater 
sancta  est  ecclesia, 
vide  natum 
spoliatum 
talorum  discordia 

Est  cum  talus 
mihi  malus, 
perdo  meam  gratiam, 
quando  bonus 
sum  patronus 
vocatus  ad  gloriam. 

Tunc  est  hospes 

mihi  sospes, 

tunc  me  iubet  bibere, 

non  obaudit, 

sed  exaudit 

quidquid  volo  dicere. 


Tunc  unitus 
est  amicus 
mihi  pro  pecunia, 
tunc  rivalis 
est  sodalis 
mihi  data  gratia. 

Sed  cum  nudum 
me  per  ludum 
mei  vident  socii, 
vado  plorans 
et  laborans 
vacuus  consilii. 

Pauper  ego 
multa  lego 
quaerens  necessaria, 
omne  carum 
sumo  parum, 
tanta  est  malitia. 

O  persona, 
mihi  dona, 
mihi  fer  solatium, 
solo  nummo 
Deo  summo 
reparante  pretium. 


Camisia 

deturl  Pia 

virgo  solvet  pretium. 

Dieses  'Dictum  Goliardi',  das  B.  Haureau  aus  einer 
Pariser  Handschrift  herausgegeben  hat,  ^)  streift  mehr- 
fach die  Parodie.  Nicht  der  dornengekrönte,  zum 
Spott  in  einen  Purpurmantel  gekleidete  Schmerzens- 
mann, den  Pilatus  laut  Joh.  XIX  5  den  Juden  mit  dem 

^)  Auszug  in  der  Histoire  litt^raire  de  la  France.  XXII  156. 

^)  Handsdiriftlidi  in  Fulda.  C  11  saec  XV;  vgl.  Steinmeyer,  Althochdeutsche  Glossen. 
IV  437  f. 

^)  In  seinen  Notices  et  extraits.  VI  318. 


Geldcvangelium  Pariser  Studenten  209 

Ausruf  'Ecce  homo'  vorstellte,  nicht  Jesus  Christus  ist 
es,  der  in  den  Versen  klagt,  sondern  ein  Goliarde  bettelt 
bei  einem  geistlichen  Herrn.  Für  ihn  ist  allein  das 
Geld  Gott,  der  höchste  Gott,  aber  er  ist  leider  ohne  Mo- 
neten, hat  alles  beim  Spiel  verloren.  Ein  Hemd,  ein 
Gewand  ist  es,  um  das  er  bittet.  Und  leichtsinnig  fügt 
er  hinzu:   die  Jungfrau  Maria  möge  zahlen. 

Die  Schilderung  der  materiellen  Nöte  und 
Wünsche  nimmt  einen  breiten  Raum  in  den  lateini- 
schen Gedichten  und  Briefen  des  Mittelalters  ein.  Die 
Poeten,  mögen  sie  nun  fahrende  Schüler  oder  Begleiter 
geistlicher  und  weltlicher  Großer  gewesen  sein,  haben 
sich  nicht  gescheut,  Klassiker  und  biblische  Bücher  zu 
zitieren,  kirchliche  Hymnen  und  heilige  Texte  verschie- 
dener Art  zu  imitieren,  wenn  es  sich  um  Geld,  um 
Essen  und  Trinken,  um  Kleider  usw.  handelte. 

Es  ist  bereits  oben  betont,  wie  lebhaft  im  mittellateini- 
schen Schrifttum  die  Macht  des  Geldes  die  Literaten  be- 
schäftigt hat.  Hier  sei  wenigstens  das  Pariser  Geld- 
evangelium schnell  besprochen,  das  aus  einem  Codex 
von  Besan^on  im  Anhang  mitgeteilt  wird. 

Es  ist  eine  freie  Nachahmung  des  um  mehrere  Jahr- 
hunderte älteren  Geldevangeliums.  War  dieses  gegen 
den  Mammonismus  der  Kurie  gerichtet,  so  benutzt  in 
jenem  Stück  ein  Pariser  Student  namens  Johannes  die 
Form  der  Evangelienperikope  und  eine  Fülle  mehr  oder 
weniger  mißhandelter  Sätze  des  Alten  und  Neuen  Testa- 
ments, um  seinem  Bruder,  dem  Erzpriester  B.,  seine 
Geldverlegenheiten  zu  schildern.  Gen  Himmel  die 
Augen  erhebend,  spricht  er  —  nach  dem  Vorbild  der 
sich  beim  Herrn  darüber  beklagenden  Martha,  daß 
ihre  Schwester  sie  allein  dienen  ließe  (Luk.  X  40)  — : 
'Herr,  warum  bekümmert  es  dich  nicht,  daß  mein 
Bruder  mich  in  Paris  ohne  Geld  studieren  läßt?  Sag' 
ihm  doch,  daß  er  mir  helfe.'  Und  Jesus  antwortete  ihm 
und  sprach  r  'Nun  aber  sind  die  Denare  für  die  Pariser 
Studenten  notwendig'  (vgl.  Luk.  X  41).  Und  Simon  Pe- 
trus sagte:  'Wäre  der  Bruder  des  Johannes  ein  Prophet, 

Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  14? 


210  Pariser  Geldcvangelium 


dann  wüßte  er  wahrlich,  welche  Not  die  Pariser  Sco- 
laren  bedrängt'  (vgl.  Luk.  VII  39).  —  In  diesem  Stilt^ 
geht  es  mit  einzelnen  biblischen  Phrasen  und  mit  ganr 
zen  Bibelworten,  die  willkürlich  angewandt  und  nach 
Beheben  umgestaltet  sind,  weiter.  Zwei  Landsleute  des 
Studenten  namens  Johannes  und  Philippus,  die  ihm 
Geld  gepumpt  haben,  kommen,  dieses  wieder  einzu- 
treiben, finden  aber  die  Tür  seiner  Bude  verschlossen 
wie  Maria  Magdalena  und  Maria  Jakobi  einen  großen 
Stein  vor  Christi  Grab.  Auf  den  Ruf  'Rabbi,  öffne  uns' 
antwortete  er  von  drinnen:  'Wahrlich,  wahrlich,  ich  sage 
euch,  wohin  meine  Moneten  gekommen  sind,  weiß  ich 
nicht!'  Schließlich  öffnet  er,  das  Matthäusevangelium 
(XI  7  f.)  parodierend,  mit  dem  Ausruf  'Was  seid  ihr  in 
die  Wüste  ausgezogen  einen  Menschen  in  weichen  Klei- 
dern zu  sehen?  Schauet  her,  Leute  in  weichen  Kleidern 
sind  hier  nicht.'  Und  da  sahen  sie  —  ähnlich  wie  die 
Frauen  in  Christi  Grab  den  Engel  in  Jünglingsgestalt 
(Mark.  XVI  5  f.)  —  einen  Menschen  in  seiner  Kammer 
sitzend,  mit  dünnem  Rocke  bekleidet,  und  sie  erschraken. 
Er  aber  sagte  zu  ihnen:  'Fürchtet  euch  nicht,  ihr  suchet 
einen  Üppigen  und  Reichen.  Er  ist  fort  und  nicht  hier. 
Hier  ist  kein  Ort,  wo  Geld  verborgen  ist.  Gehet  hin 
und  meldet  euern  Genossen  und  Philippus,  daß  er  euch 
zum  Hause  der  Juden  vorausgegangen  sei.  Dort  werden 
sie  mich  sehen,  wie  ich  ihnen  gesagt  habe.'  Und  sitzend 
unterwies  er  sie  und  sprach:  'Selig  sind  die  Barmherzi- 
gen; denn  sie  werden  Barmherzigkeit  erlangen  (Matth. 
V  7).  Und  selig,  die  nicht  ihre  Schuldner  erbittern  und 
belästigen.  Die  Schulden  werden  schnell  bezahlt  wer- 
den. Erbarmet  euch  meiner,  erbarnit  euch  wenigstens 
ihr,  meine  Freunde;  denn  die  leere  Börse  hat  mich  be- 
rührt (vgl.  Job  XIX  21).  Sehet  doch,  auf  meiner  Haut 
ist  nur  noch  ein  Rock,  und  auf  meinen  Beinen  sind  nur 
zwei  Tücher  geblieben  (vgl.  Job  XIX  20).  Betrübt  euch 
und  erschreckt  deswegen  nicht.  Täglich  wandele  und 
gehe  ich  zu  euch;  was  ich  schulde,  erkenne  ich  wieder, 
und   meine   Schuld   ist   immer  wider   mich.    Doch   ich 


Pariser  Geldevangelium  211 


weiß,  daß  mein  Bote  lebt  (vgl.:  Ich  weiß,  daß  mein  Er- 
löser lebt)  mid  in  kurzer  Frist  zurückkehrt.  Dann  werde 
ich  mich  wieder  kleiden  und  jedem  von  euch,  was  sein 
ist,  zurückgeben.  Gehet  also  hin  und  meldet  euern  Brü- 
dern, was  ihr  gehört  und  gesehen  habt'  (vgl.  Matth. 
XXVIII 10).  Auf  die  Spitze  wird  die  Parodie  gegen  Schluß 
getrieben,  als  Geld  eintrifft  und  Philippus  und  Johannes 
Bezahlung  fordern.  Die  Speisung  der  5000  und  die 
Szene  von  Gethsemane  werden  komisch  vermengt:  'Als 
Johannes  sah,  daß  sie  unablässig  ihr  Geld  verlangten, 
da  begann  er  traurig  zu  werden.  Es  war  aber  viel 
Stroh  in  Johannes'  Kammer.  Und  er  sagt  seinen  Ge- 
nossen: 'Lasset  meine  Gläubiger  sich  legen',  und  sie 
legten  sich,  etwa  5000  Mann.  Und  als  sie  sich  nieder- 
gelassen hatten,  begannen  sie  um  das  Geld  zu  streiten. 
Johannes  sagte  ihnen:  'Bleibt  ihr.  Ich  will  gehen  und 
beten.'  Und  drei  von  seinen  Jüngern  beiseite  nehmend, 
sagte  er:  'Meine  Seele  ist  traurig  bis  zur  Erschöpfung 
meiner  Börse.'  Niederkniend  betete  er  und  sprach: 
'Vater,  Vater,  wenn  es  sein  kann,  mögen  diese  Gläu- 
biger an  mir  vorübergehen.  Der  Finger  ist  zum  Zählen 
willig,  aber  die  Börse  ist  schwach.'  Dann  wandte  er 
sich  zu  seinen  Groschen  und  sagte:  'Geht  nun  aus  mei- 
nem Kasten  und  zieht  fort.  Denn  es  kommt  die  Stunde, 
wo  ich  euch  in  die  Hände  meiner  Gläubiger  geben 
muß.'  Und  er  warf  das  Geld  Iiin  und  sagte:  'Nehmet  alle 
davon!'  Da  entstand  Streit  unter  ihnen,  wer  zuerst  sein 
Geld  bekommen  sollte.  —  Und  nun  aus  der  Passion 
der  Streit  um  die  Kleider  Christi:  sie  breiteten  den 
Rock  des  Johannes  über  seinen  Kasten  aus  und  losten, 
auf  daß  erfüllt  werde,  was  geschrieben  steht:  "Über 
meinen  Rock  haben  sie  Lose  geworfen."  Als  sie  fertig 
waren,  sagte  er  zu  seinen  Freunden:  'Sammelt  die 
Reste,  auf  daß  sie  nicht  umkommen!'  Und  sie  füllten 
zwölf  Beutel,  und  so  blieben  leere  übrig.  Da  sprach 
er  zu  seinen  Gläubigern:  'Habt  Geduld  mit  mir,  und  ich 
will  euch  alles  zurückgeben.  Viel  Geld  ist  bestellt,  aber 
nur  wenig  geschickt'  (vgl.  Matth.  XX  6). 


212  Gegen  die  Geizigen 


Was  die  Goliarden  besonders  verstimmte,  war  der 
Geiz  der  Satten  und  Simonisten. 

'Artifex  qui  condidit  hominem  ex  luto 

et  linivit  oculos  ceci  sacro  sputo, 

salvet  vestras  animas  crimine  soluto. 

Pax  vobis  omnibusl  Ego  vos  saluto. 

O  praelati  nobiles  viri  litterati, 

summi  regis  legati,  o  presbyteri  beati, 

gcnus  praeelectum,  me  omnibus  abiectum 

consulens  despectum  virtutis  vestrae  per  effectum. 

Pauperie  mea  conteste  patet  manifeste, 

quod  eo  sine  veste  satis  inhoneste  5 

si  me  vultis  audire,  contestor  me  scire. 
viros  probitatis  mirae. 

Qui  virtutes  faciunt  nobiles  appello, 

qui  autem  me  despiciant  avaros  evello 

de  libro  viventium  ad  inferos  repello, 

ut  ibi  permaneant  Plutonis  in  cancello* 

singt  ein  Dichter.  Sein  Zorn  war  ehrlich,  aber  darum 
war  J.  A.  Schmeller  doch  nicht  berechtigt,  das  Lied 
unter  die  'Seria'  der  Carmina  Burana  (no.  CXCVII) 
zu  reihen.  Wie  schon  Laistner  erkannt  hat,^)  ist  es 
ein  humoristisches  Bettellied,  das  nach  der  Kneipe 
schmeckt. 

Mit  dem  etwa  in  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahr- 
hunderts entstandenen  Gedichte^)  'Raptor  mei  pilei 
morte  moriatur'  kommen  wir  auf  die  Kleidersorgen 
der  mittelalterlichen  Poeten.  Denn  die  Überschrift,  die 
Matthias  Flacius  Illyricus  und  Thomas  Wright  haben 
'Golias  in  raptorem  suae  bursae'  ist  offensichtlich 
falsch.  Der  Dichter  verwünscht,  wie  die  ersten  beiden 
Strophen  deutlich  genug  sagen,  einen  Bösewicht,  der 
ihm  seine  Kappe,  seinen  Hut  gemaust  hatte.  Parodi- 
stisch  sind  die  Verse  durch  den  gemacht  feierlichen 
Ton  der  Verfluchung.    Schwer  schreiten  die  Rhythmen 

*)  Golias,  Stuttgart  1879,  S.  101. 

')  The  Latin  poems  attrib.  to  Walter  Mapcs,  ed.  Wright,  p.  75.  Beste  Ausgabe  von 
B.  Haur^au  in  den  Notices  et  extraits.  XXIX  2  p.  272  sq.  Deutsdic  Übersetzung  von 
L.  Laistner,  a.  a.  Q.  S.  68  f. 


Klcidersorgen  213 


einher  und  wünschen  dem  Langfinger  das  Schlimmste 
auf  den  Hals. 

'Excommunicatus   sit   in   agro   et  tecto 
nullus  eum  videat  lumine  directo!'  usw. 
Wie     eine     kirchliche     Exkommunikation     läuft    das 
Ganze  aus: 

'Hoc  si  quis  audierit  excommunicamen 
et  non  observaverit  praesulis  examen, 
nisi   resipuerit    corrigens   peccamen, 
anathema   fueritl    Fiat!    Fiat!    Amen.* 
Darin  mit  Haureau  'une  plaisante  satire  contre  Tabus 
des  excommunications'  zu  sehen,  geht  m.  E.  nicht  an. 
Der     Autor     parodiert    schwerlich   die  Exkommunika- 
tionen, um   sie  zu  verspotten,  sondern  um   seinem  Go- 
liardenärger  über  den  Dieb  Ausdruck  zu  geben. 

Gegen  die  Geizhälse,  die  getragene  Kleider  immer 
wieder  ändern  lassen,  statt  sie  bedürftigen  Dichtern 
zu  schenken,  ist  das  Gedicht  'De  vestium  transforma- 
tione'  gerichtet,  das  Th.  Wright  unter  die  'Political  songs 
of  England'  versetzte,  und  das  seitdem  als  Satire  gegen 
die  Schneider  betrachtet  wurde,  bis  W.  Meyer i)  und 
gleichzeitig  A.  Boemer^)  die  Sache  richtigstellten,  Boe- 
mer  statt  der  15  Strophen  des  Wrightschen  Textes  39 
edierte.    Den  Anfang 

'In  nova  fert  animus  mutatas  dicere  formas 
Corpora;  di  ceptis,  nam  vos  mutastis  et  illas 
aspirate  meis! 
Ego  dixi:  dii  estis, 
quae  dicenda  sunt  in  festis' 
kann  man   einen  parodistischen  Mißbrauch  der  ersten 
Worte   von    Ovids   Metamorphosen   nennen.    Außerdem 
parodiert  der  Dichter  die  Rechtssätze  der  Kirche,  z.  B. 
indem  er  sagt,  daß  der  alte  zurechtgestutzte  und  gewa- 
schene  Mantel   mit   einem   neuen   Pelz    sich   verheirate 
und,  da  der  alte  Pelz  noch  am  Leben  sei,  sich  des  Ver- 
brechens ♦  der    Bigamie    schuldig    mache,    und    indem 

M  Nachrichten  der  K.  Ges.  d.  Wissensdiaften  zu  Göttingen.  Philol.=hist.  Kl.  1907  S.  87. 
2)  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum.  XLIX  178  ff. 


214  Pscudodekret 


er  die  Kleiderumwandlungen  mit  dem  Eingehen  der 
wunderbarsten  Verwandtschaftsverhältnisse  vergleicht. 
Ohne  alle  Bedenken  würden  Kleiderehen  gebrochen. 
Die  Mäntel  sollten  doch  zu  ihren  ersten  Frauen  zurück- 
kehren : 

'De  mantellis   mandatum   do 

ad  incestas  qui  secundo 

transierunt  nuptias: 

revertantur   ad   uxores, 

aut  mandati  transgressores 

non  intrent  per  ecclesias. 

Je  iuge  par  droit  et  par  voir, 

k'eglise  ne  doit  recivoir, 

qui   vivis   uxoribus 

criminale  comiserunt, 

dum  secundis  adheserunt 

relictis  prioribus'  usw. 

Er  schließt  mit  einem  komisch-pathetischen: 

'Do  decretum   ad   extrema, 
quod  Sit  dives  anathema, 
qui  has  vestes  induit; 
quasi  satus  sit  per  Sathan, 
Sit  illius  pars  cum  Dathan, 
quem   tellus   absorbuit' 

Darf  man  vom  Anfang  dieses  Gedichtes  sagen,  er 
stehe  zum  mindesten  der  Parodie  nahe,  wie  der  Ver- 
fasser überhaupt  humorvoll  parodiert,  so  ist  doch  nicht 
jede  Nachahmung  des  berühmten  'In  nova  fert  animus' 
für  mich  parodistisch.  Es  gibt  deren  im  Mittelalter 
gar  nicht  wenige.  'In  nova  fert  animus'  beginnt  der 
Prolog^)  einer  —  von  den  BoUandisten  in  ihrer  Biblio- 
theca  hagiographica  Latina,  auch  im  Supplement  nicht 
verzeichneten  —  metrischen  Vita  S.  Oswaldi  regis.  Pe- 
ter von  Blois  sagt 2)  in  Str.  9  seines  Gedichtes  'Contra 
clericos  voluptati  deditos': 

^)  Vgl.  H.  Sdicnkl,  Bibliotheca  patrum  Latinorum  Britannica,  Wien  1891—1908,  S.  92  nadi 
Bodl,  40  saec.  XIII. 

*)  Migne,  Patrol.  lat.  CCVII  1131  u-  The  English  Historical  Review.  Va  (1890)  p.  326. 


In  nova  fert  animus  215 


I    ■>■.=!. 


'In  nova  fert  animus 
ructare  querimoniam/ 
ein  anderer,  vielleicht  Philippe  de  Greve  (f  1236):^) 

'In  nova  fert  animus 

via    gressus    dirigere, 

non  pudet,  quia  lusimus, 

sed  ludum  non  incidere, 

si  temere  -  -  i   : 

de   cetero 

distulero'  usv^. ;  - 

ein  anderer  religiöser  Dichter  2)  saec.  XIII  in.  : 

'In  novas  fert  animus 

forma s  versum  hominem 

dicere,    quem    novimus 

factum  ad  ymaginem 

Dei,   quem   creatio 

prima   sine  vitio 

fecit  vas  egregium'  usw. ; . 
Mathaeolus   von   Boulogne   am   Ende  des   13.   Jahrhun- 
derts in  seinen  Lamentationes^)  v.  13  sq. 

'In  nova  flens  animus  mutatam  dicere  formam 
cepit,   sed  minimus  plebis   ego  nescio  normam 
hinc  fandi'  usw. 
Dagegen   ist   wie   die   zuerst  genannte   Satire   parodi- 
stisch  bzw.  halbparodistisch  die  Strophe 

'Forma  cum  in  varias 

formas  sint  mutata 

vestimenta   divitum 

vice  variata, 

in  nova  fert  animus 

dicere  mutata 

vetera,  vel  potius 

sint  inveterata*, 
die  man  in  einem   Gedichte  der   Carmina   Burana  (no. 
CXCIV)    antrifft.    Schmeller    hat   da   zwei   Gedichte   zu 
einem  gemacht.    Das  erste  beginnt 


^)  Analccta  hymnica.  XX  32. 

*)  Lanr.«Mcd.  XXIX  1  f.  323  V,  vgl.  Analecta  hymnica  XX  12. 

')  Ed.  Ä.»G.  van  Hamel,  Bibliotheque  de  l'Ecole  des  HautespEtudes  fasc.  95,  p.  3. 


216  Pseudodckrete  und  Exkommunikation 

'Sepe  de  miseria 
meae  paupertatis 
conqueror  in  carmine 
viris  literatis'; 

das  zweite  mit  Str.  5: 

'Nullus  ita  parcus  est, 
qui  non  ad  natale 
emat  cappam,  pallium, 
pelles  vel  quid  tale/ 

Die  Trennung  nehme  ich  nach  W.  Meyer i)  vor.  'Nul- 
lus ita  parcus  est'  beklagt  sich  über  die  Kleideränderun- 
gen der  Knausrigen  und  schließt: 

'Hoc   Galtherus   subprior 
iubet  in  decretis, 
ne   mantellos   veteres 
vos    refarinetis, 
renovari    prohibens 
calce  vel  in  cretis. 
Hoc  decretum  vacat  iam, 
sicut  vos  videtis. 

Excommunicamus  hos 

et  recappatores 

et  capparum  veterum 

repalliatores 

et   omnes    huiusmodi 

reciprocatores. 

Omnes  anathema  sint, 

donec  mutent  mores!' 

Hier  ist  eine  halb  ernste,  halb  scherzende  Exkom- 
munikation, hier  ist  ferner  ein  direkter  Hinweis  auf 
das  Tn  nova  fert  animus'  beginnende  Gedicht  'De  ve- 
stium  transformatione'.  Denn  dort  heißt  es  in  der 
Strophe   37   der   Boemerschen   Ausgabe: 

')  A.  a.  O.  S.  87. 


Vagantenorden  217 


'Cum  hoc  fiat  per  incestum 
nichil  magis  inhonestum 
quam  vestis  adultera. 
Semper  nova   constat  esse, 
ergo  numquam  est  necesse 
reiiovari  vetera.' 

Boemer(i  hat  den  Hinweis  nicht  erkannt,  W.  Meyer 
vielleicht.  Meyer  sagt,  in  'Nullus  ita  parcus  est'  werde 
mit  Str.  14  das  Gedicht  von  den  Kleidermetamorphosen 
angekündigt,  und  zwar  laute  in  einer  —  von  ihm  selt- 
samerweise nicht  namhaft  gemachten  Handschrift  — 
die  fragliche  Stelle  statt  'Hoc  Galtherus'  usw.  aus- 
drücklich : 

'Primas  in  Remensibus 

iusserat  decretis, 

ne  mantellos  veteres 

vos  renovaretis.' 

Danach  sei  und  ist  meiner  Ansicht  nach  der  berühmte 
Hugo  Primas  der  Verfasser  der  Kleidersatire  'In  nova 
fert  animus'.  Die  Lesart  'Hoc  Galtherus  subprior  iubet 
in  decretis'  ist  trotzdem  durchaus  nicht  belanglos;  denn 
Dekrete  eines  Subpriors  erscheinen  auch  sonst. ^)  Viel- 
leicht war  er  ein  Nachahmer  des  Primas. 

Goliardendekrete  sind  verfaßt  worden.  Hat  es  etw^a 
sogar  einen  förmlichen  Orden  der  Goliarden,  der 
Vaganten  gegeben?   Scheinbar  ja! 

Der  englische  Goliarde  Richard  hat  eine  rhythmische 
Empfehlung  für  Willelmus  de  Conflatis  an  die  fran- 
zösischen Goliarden  geschrieben^)  und  darin  am  Ende 
gesagt: 

'Nunc,   fratres   karissimi,    scribere   studete, 
ordo   vester   qualis   est   modusque  dietae; 
si  fas  est  comedere  coctas  in  lebete 
carnas  vel  pisciculos  fugatos  ad  rete, 
♦ 

^)  Er  sah  wohl  den  Zusammenhang  der  Kleidergedichte,  hielt  aber  das  Stück  der  C  B- 
p.  74  sqq.  für  dlter  als  'De  vestium  transformatione'. 

^)  Vgl.  oben  S.  74  f.  u.  S.  Jaff6,  Die  Vaganten  S.  26. 

^)  The  Latin  poems  attrib.  to  Walter  Mapes  p.  69  sq. 


!2 1 8  Vagantenorden 


de  Lyaeo  bibere  vel  de  unda  Thetae, 
utrum  frui  liceat  Rosa  vel  Agnete, 
cum  formosa  domina  ludere  secrete. 
Continenter  vivere  nullatenus  iubete! 
qualiter  me  debeam  gerere  docete, 
ne  magis  in  o  r  d  i  n  e  vivam  indiscrete. 
Donec  ad  vos  veniam,  sum  sine  quiete. 
Quid  vobis  dicam  amplius?    In  Domino  valete! 
Summa   solus  omnium,  filius  Mariae, 
pascat,  potet,  vestiat  pueros  Golyae 
et  conservet  socio  s  sanctae  confratriae 
ad  dies  usque  Ultimos  Enoch  et  Helyae! 
Amen/ 

Ein  tüchtiger  deutscher  Gelehrter,  Nikolaus  Spiegel,^) 
hat  tatsächlich  gemeint,  daß  geradezu  ein  festorgani- 
sierter Vagantenorden  bestanden  hätte,  „eine  Parodie 
auf  die  gleichzeitig  entstandenen  sog.  Mendikanten- 
orden".  Mit  der  Mehrzahl  der  Forscher  lehne  ich  diese 
Hypothese  ab. 

Die  Goliarden  vergleichen  sich  bloß  mit  den  geist- 
lichen Orden,  die  seit  dem  12.  und  13.  Jahrhundert  so 
gev^altig  an  Zahl  und  Einfluß  zunahmen.  Wohl  taten 
sich  die  Vaganten  häufig  zusammen  und  hatten  ihren 
Komment.  Aber  sie  flatterten  gewöhnlich  nach  v^enigen 
Monaten  oder  Wochen  oder  gar  Tagen  wieder  ausein- 
ander, waren  viel  zu  unbeständig  und  eigensinnig,  um 
sich  für  die  Dauer  zu  organisieren  und  an  Statuten 
festzuhalten.  Ihr  Ziel  war  ein  freies  Leben,  ein  freches 
Genießen  der  Daseinswonnen,  die  der  Goliarde  Richard 
nicht  übel  in  seinem  poetischen  Schreiben  aufgezählt 
und  dann  nochmals  in  den  letzten  Zeilen  mit  gemachter 
Frömmigkeit  sich  keck  von  Jesus  Christus  gewünscht  hat. 

Daß  der  Vagantenorden  ein  Witz  ist,  der  in  verschie- 
dener Weise  heute  hier,  morgen  da  wiederholt  wurde, 
zeigt  z.  B.  das  humoristische  Exemptionsprivileg,  das 
fahrende    Schüler   angeblich   und   vielleicht  tatsächlich 

*j  Die  Vaganten  und  ihr  Orden,  Speyer  1892  (Progr.  zum  Jahresber.  des  Kgl.  Human. 
Gymn.  Speyer  für  1891/92). 


Excmptionsprivileg  219 


im  Jahre  1209  für  das  Chorherrenstift  St.  Polten  aus- 
stellten/) wohl  als  Dank  für  Bewirtung  und  Beschenkung. 
'In  nomine  summae  et  individuae  vanitatis.  Surianus, 
diutina  fatuorum  favente  dementia  per  Austriam, 
Stiriam,  Bawariam  et  Moraviam  praesul  et  archiprimas 
vagorum  scholarium  omnibus  eiusdem  sectae  professo- 
ribus  sociis  et  successoribus  universis  fame,  siti,  frigore, 
nuditate  perpetuo  laborare/  Surianus  meldet  seinen  Ge- 
nossen „wie  ihm  zufolge  der  ihm  beiwohnenden  Faul- 
heit und  Torheit  noch  nicht  seines  Vorsatzes  gereue, 
sich  vom  Tische  anderer  zu  nähren,  wie  er  vielmehr 
fest  in  demselben  beharre  und  ein  unstetes  Leben  gleich 
den  Schwalben  in  der  Luft  führe,  umhergetrieben  wie 
ein  Blatt,  das  vom  Winde  ergriffen  ist  oder  wie  die 
Flamien  im  Rohrgebüsch;  er  berichtet  ferner,  wie  er 
nach  der  harten  Regel  seines  unordentlichen  Ordens 
oft  Spott  und  Stöße  erdulden  müsse,  wie  sie  nicht  Sar- 
mentus  und  der  gemeine  Galba  am  schlimmen  Tische 
des  Cäsar  ertragen  hätten,  wie  er  darbend,  geängstigt 
und  gequält,  reich  nur  an  Hunger,  dahinschwindend 
vor  Mangel  an  Speise  und  Trank,  vor  Kälte  bebend  und 
erstarrt,  mit  offenem  Munde,  in  erbärmlichem  Aufzuge, 
nur  ein  Hemdchen  auf  nacktem  Leibe  und  den  einen 
Fuß  unbeschuht,  in  den  Häusern  der  Laien  keine  Auf- 
nahme fände  und  oft  auch  von  der  Pforte  der  Geist- 
lichen verstoßen  würde,  da  ihn  niemand  als  seines- 
gleichen anerkennen  wolle,  gleich  den  Fledermäusen, 
die  weder  bei  den  vierfüßigen  Tieren  noch  bei  den 
Vögeln  ihre  Stelle  fänden,  und  wie  er  deshalb  genötigt 
sei,  immerdar,  gleich  als  sei  er  in  der  Bittwoche  ge- 
boren, um  ein  Almosen  zu  betteln.  Deshalb,  fährt  er 
mit  wundersamer  Ironie  fort,  sei  es  denn  auch  billig, 
daß  er  den  gerechten  Bitten  derer,  die  ihn  angingen, 
in  Gnaden  Gehör  schenke,  und  so  tue  er  durch  gegen- 
wärtige Urkunde  kund  und  zu  wissen,  daß  er  auf  Bit- 

*)  Vgl.  Archiv  für  Kunde  österreichischer  Gcschichtsquellen.  VI  316  ff.;  W.  Giesebrecht 
in  der  Allgem.  Monatsschrift  für  Wissenschaft  und  Literatur,  Jahrg.  1853  S.  35  f. ;  Pangerl 
im  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  Vorzeit.  N.F.  XV  (1868)  S.  198  f.,  Wattenbadh 
ebenda  S-  288. 


220  Ordensregeln 

teil  des  ehrwürdigen  Bruders  Sighard,  des  Archi- 
diakonus  der  Kirche  des  heiligen  Hippolythus  in  Öster- 
reich, der  vielen  Verdienste  eingedenk,  welche  diese 
Kirche  fast  von  der  Wiege  an  ihm  geleistet,  sie  mit 
allen  ihren  Beamten  von  jeder  Besteuerung  und  Be- 
drückung, die  sie  bis  dahin  von  ihm  am  Feste  des 
Heiligen,  der  Kirchweih  oder  vielmehr  im  ganzen  Kreis- 
lauf des  Jahres  erlitten  habe,  aus  reiner  Gnade  und 
mit  der  Zustimmung  der  Domherren  seiner  Genossen- 
schaft fortan  völlig  freispräche  und  jeden  Übertreter 
dieses  seines  Gebots  auf  immerdar  vom  Weinhaus  aus- 
schließe; kein  Mitglied  seines  unordentlichen  Ordens 
solle  bei  seinem  höchsten  Narrenzorn  sich  jemals  un- 
terfangen, diesen  Gnadenbrief  anzutasten  oder  gegen 
denselben  freventlich  zu  handeln.  Die  Urkunde  ist  aus- 
gestellt im  Jahre  1209  im  elften  Jahre  Papst  Inno- 
zenz' III.  unter  der  Begierung  Kaiser  Heinrichs  und 
der  herzoglichen  Gewalt  Leopolds,  im  letzten  Jahre^ 
fügt  der  Archiprimas  hinzu,  unsers  Pontifikats.  Ge- 
geben unter  freiem  Himmel  durch  den  Geist,'  unsern 
Protonotarius,  unter  Anhängung  unseres  eigenen  Sie- 
gels und  des  Siegels  unsrer  Genossenschaft  und  von 
glaubwürdigen  Zeugen  unterzeichnet."  (Giesebrecht.) 
Die  oben  (S.  207)  erwähnte  Gorgiasurkunde  französi- 
schen Ursprungs,  das  Aufnahmediplom  in  den  Mün- 
chener Säuferorden  und  ähnliche  Stücke  sind  ebenso- 
wenig ernsthaft,  ebensowenig  Zeugnisse  für  einen  Orden. 

Der  Übermut  ist  so  weit  gegangen,  daß  man,  zum  Ge- 
brauch in  den  Universitätsstädten  und  auf  der  Wan- 
derschaft, Ordensregeln  frei  parodierte.  Schon  das 
St.  Pöltener  Exemtionsprivileg  nimmt  Bezug  auf  „Be- 
geln".   Kurz  und  bündig  sagt  ein  Student^) 

'Begula  bursalis  est  omni  tempore  talis: 
Si  sint  presentes  plures  quam  deficientes, 
nunquam  presentes  debeant  exspectare  absentes. 
Absentes  careant,  presentes  omnia  tollant' 

')  Vgl.  Feifaiik  in  den  Sitz.»Ber.  d.  Kaiserl.  Äkad.  d.  Wiss.  XXXVI  (1861)  S.  175. 


Regel  des  hl.  Liederlidi;  Bundeslied  221 

Sehr  viel  weniger  harmlos  sind  die  Regeln  des  hei- 
ligen Liederlich  und  das  Bundeslied. 

Die  Regula  b.  Liberum  hat  Matthias  Flacius  Illyricus 
1556  veröffentlicht.^)  Statt  Augustin  ist  Libertin,  der 
heilige  Liederlich,  zum  Schutzpatron  gewählt.  In  sei- 
nem Orden  zecht  der  Abt,  tanzt  die  Äbtissin,  ist  der 
Propst  ein  großes  Tier  und  säuft,  geizt  der  Kustos, 
gehen  die  Chorherren  in  üppigen  Kleidern  und  Schuh- 
werk einher,  ruft  der  Kämmerer  unaufhörlich  'Schenk 
ein!',  bringt  der  Koch  köstliche  Speisen  auf  den  Tisch. 
Dieses  Ordensleben  hat  seinesgleichen  nicht.  Der  Or- 
den nimmt  alle  auf,  Prämonstratenser,  Zisterzienser, 
Dominikaner  und  Franziskaner,  Diebe  und  Räuber, 
jung  und  alt.  Der  Orden  verbietet  die  Matutinen.  Wer 
früh  aufsteht,  ist  ein  Esel.  Das  erste  Wort,  der  erste 
Wunsch,  die  erste  Lesung  am  Morgen  ist  ein  guter 
Trunk,  dem  folgt  als  Responsorium  ein  Spiel.  Da  wird 
gewürfelt  und  nicht  Gott  gepriesen.   ^ 

V.  22  und  24  f.  decken  sich  mit  Str.  4  v.  5  und  8  v. 
1  f.,  7  f.  des  im  Benediktbeurer  Kodex  stehenden  Ge- 
dichtes (no.  193) 

'Cum  in  orbem  Universum 
decantatur    ite.' 

Das  ist  das  sog.  Bundeslied  des  Vaganten- 
ordens. ^)  Es  beginnt  mit  einer  prahlerischen  Anprei- 
sung der  Vagantensekte.  Seit  W.  Giesebrecht  sieht  man 
vielfach  in  den  Anfangszeilen  eine  Anspielung  auf  die 
Kreuzzüge.  'Wir  erkennen  aus  diesem  Gedicht  zuerst 
leicht  die  Zeit,  in  welcher  das  Vagantentreiben  sich 
ausbildete.  Es  war  in  den  letzten  Jahren  des  elften 
Jahrhunderts,  als  jener  Ruf  „Macht  euch  auf  die  Wan- 

^)  In  den  'Varia  doctorum  piorumque  virorum  de  corrupto  ccciesiae  statu  poemata' 
(Nadidrudc  von  1754  p.  498  sq.). 

^)  Text  außer  in  Sdimellers  Carmina  Burana  bei  J.  Grimm,  Gedidite  des  Mittelalters 
auf  König  Friedrich  L  den  Staufer,  Berlin  1844  (Abhandl.  der  Kgl.  Akademie  der  Wiss.  zu 
Berlin  aus  dem  lahre  1843  S.  233  f.,  nur  Teilabdruck) ;  bei  L.  Uhland,  Alte  hociia  und  nieder» 
deutsche  Volkslieder,  Stuttgart  uncl  Tübingen  1844/45,  S.  959—961,  nach  einer  Abschrift  von 
Franz  Pfeiffer;  im  Allg.  deutschen  Kommersbuch  p.  178-,  in  (G.  Groebers)  Carmina  cleris 
corum,  Heilbrdhn  1876,  p.  5  sqq.;  in  (R.  Peipers)  Gaudeamus,  Leipzig  1877,  p.  3  sqq. 
Deutsche  Übersetzung  bei  W.  Giesebrecht  in  der  Ällgem.  Monatsschrift  für  Wissenschaft 
und  Literatur,  Jahrgang  1853,  S.  12  f. ;  bei  L.  Laistner,  Golias,  Stuttgart  1879,  S-  1  ff.  Erör» 
terimgen  außerdem  bei  J.  Schreiber,  Vagantenstrophe  S.  80  ff. ;  bei  Frantzen  im  Neophilo« 
logus.  V  66. 


222  Bundeslied  der  Vaganten 

derung!"  in  der  abendländischen  Christenheit  laut  wurde 
und  die  Gemüter  der  Menschen  wie  eine  göttliche  Kraft 
mit  unwiderstehlicher  Gewalt  fortriß  —  —  — .  Dieser 
Ruf  war  es  also  auch,  der  die  Vaganten  erweckte,  deren 
früheste  Lieder  daher  nicht  über  die  Mitte  des  zwölften 
Jahrhunderts  hinausreichen.'  Selbst  noch  1917  sagt 
Holm  Süßmilch  :^)  'Der  ungeheuere  Wandertrieb  des 
Kreuzzugzeitalters  setzt  auch  die  Scharen  der  Vagan- 
ten in  Bewegung.  Jetzt,  wo  über  den  ganzen  Erdkreis 
der  Ruf  „Ite"  ertönt,  machen  sich  auch  Priester  und 
Mönche  auf  usw.  Süßmilch  drückt  sich  noch  verhält- 
nismäßig vorsichtig  aus,  aber  die  Beziehung  zum  min- 
desten des  fraglichen  Gedichtes  auf  die  Kreuzzugsbewe- 
gung ist  bedenklich  und  jedenfalls  seine  Übersetzung 
falsch.  Ich  übersetze  nicht:  'Jetzt,  wo  der  Ruf  ertönt', 
sondern:  'Wenn  der  Ruf  ertönt,  "Gehet  hin  in  alle 
Welt"  usw.  Der  Anfang  ist  einfach  eine  parodistiische 
Anwendung  des  Christuswortes,  das  bei  Mark.  XVI 15  auf- 
gezeichnet steht:  'Euntes  in  mundum  Universum  prae- 
dicate  evangelium  creaturae',  eines  Wortes  des'  Evan- 
geliums von  Christi  Himmelfahrt,  und  z.  B.  für  Mitt- 
woch nach  Pfingsten  umgegossen  ist  in  die  Respon- 
sion  'Ite  in  Universum  orbem  et  praedicate  evange- 
lium, alleluia'.  Mit  den  Kreuzzügen  hat  das  hier  kaum 
etwas  zu  tun,  eher  schon  mit  der  Frühlingszeit,  in  der 
die  Vaganten  natürlich  gern  auf  die  Wanderschaft  gin- 
gen. Die  erste  Strophe  schließt  mit  der  Behauptung, 
das  Vagantenleben  bedeute  das  Heil  des  Lebens.  Str.  2, 
die  als  Vorbedingung  der  Aufnahme  und  als  Haupt- 
grundsatz der  Sekte  Haß  gegen  geizige  Pfaffen  predigt, 
parodiert  gleich  am  Beginn  1  Thess.  V  21  'Omnia  autem 
probate,  quod  bonum  est  tenete'.  Str.  5,  vielleicht  vor 
3  zu  setzen,  ruft  die  einzelnen  deutschen  Stämme  auf, 
die  neuen  Dekretalien  —  wieder  eine  Parodie  —  zu 
hören:  Ein  Pereat  den  Knauserigen.  Nachdem  der  Or- 
den als  milde   und  aufnahmebereit  gepriesen  ist,  wird 

^)  Die  latcinisdie  Vagantenpoesie  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  als  Kulturersdieinung 
S.  16.  Gute  Beriditigungen  und  Ergänzungen  gibt  Frantzen  im  Neophilologus.  V  (1919) 
S.  58  ff. 


Bundeslicd  und  Verwandtes  223 

in  Str.  3,  4,  6,  10  aufgezählt,  wer  in  den  Orden  kann. 
Die  Strophen  7,  8,  9,  11 — 14  geben  die  Satzungen,  die 
selbstverständlich  im  Gegensatz  zum  geistlichen  Leben 
der  echten  Orden  ein  Bummlerleben  vorschreiben.  Der 
Schluß  ist  bibelparodistisch: 

'Ad  quos  preveneritis,  dicatis  eis,  quare 
singulorum  cupitis  mores  exprobrare: 
"reprobare  reprobos  et  probos  probare 
et  probos  ab  improbis  veni  segregare". 

Der  Vagant  maßt  sich  die  Richterrolle  an.  Dabei 
wird  der  Dichter  nicht  unmittelbar  Matth.  XXV  31  ff. 
'Cum  autem  venerit  filius  hominis  in  maiestate  sua  et 
omnes  angeli  cum  eo,  tunc  sedebit  super  sedem  ma- 
iestatis  suae.  Et  congregabuntur  ante  eum  omnes  gentes, 
et  separabit  eos  ab  invicem,  sicut  pastor  segregat  oves 
ab  haedis  et  statuet  oves  quidem  a  dextris  suis,  hae- 
dos  autem  a  sinistris'  im  Auge  gehabt  haben,  sondern 
Verse,  die  einerseits  dem  Wortlaut  des  Evangeliums, 
andrerseits  der  Strophe  des  Bundesliedes  nahestehen. 
Schon  W.  Giesebrecht^)  und  O.  Hubatsch^)  machten  auf 
den  Anfang  eines  durch  Wright"^)  bekanntgewordenen 
Rügeliedes  gegen  die  geistlichen  und  weltlichen  Stände 
aufmerksam : 

'A  la  feste  sui  venue       et  ostendam,  quare 
singulorum  singulos         mores  explicare, 
reprobare  reprobos  et  probos  probare 

et  haedos  ab  ovibus         veni  segregare.' 

Ob  das  Bundeslied  deutscher  Herkunft  sich  gerade 
an  die  französisch  beginnende  Fassung  anlehnt/)  ist 
freilich  nicht  glaubhaft.  Man  tut  besser,  eine  mit  Stro- 
phen der  Beichte  'Estuans  intrinsecus  ira  vehementi' 
anfangende  'Invectio  contra  prelatos'  der  Herdringer 
Sammlung  heranzuziehen,  wo  es  in  Str.  3  heißt  :^) 

1)  A.  a.  O.  S.  14. 

-)  Die  lat.  Vagantenlieder  S.  40. 

^)  Reliquiae  atitiquae.  II  43. 

•*)  Jakob  Schreiber,  Die  Vagantenstrophe  der  mittellateinisdien  Dichtung,  Straßburg  1894 
S.  81,  behauptete  es,  kannte  aber  den  Herdringer  Text  noch  nicht- 

•^)  A.  Bömer  in  der  Zeitschrift  für  deutsches  Altertum.  XLIX  (1908)  S.  190. 


224  Bundeslied  und  Verwandtes 

'Ad  hoc  festum  venio  et  ostendam,  quare 
singulorum  singulis  mores  explicare, 
reprobare  reprobos  et  probos  probare 
et  edos  ab  ovibus  veni  segregare/ 
So  wie  der  Text  in  der  C.   B.   steht,   ist  er  weniger 
abwechslungsreich  in   den  Worten  als  die  Rügen.   Der 
Nachahmer   hat   den   Wortlaut  nicht  gerade   gut   geän- 
dert.   Aber   in   der   Verwendung  des   Gedankens   ist   er 
geschickt.    Man   kann   und   muß  m.    E.,   was   Schreiber 
nicht   getan    hat,    von    einer   Parodie   reden.     Statt   der 
leidlich     ernsten     Strafrede     schimpft   das   Bundeslied 
offen   humoristisch.    Die  elfte  Strophe,  die  gegen  Klei- 
derluxus eifert  mit  den  Worten: 

'Ordo  noster  prohibet  uti  dupla  veste. 

Tunicam  qui  recipit,  ut  vadat  vix  honeste, 

Pallium  mox  reicit,  Decio  conteste, 

cingulum  huic  detrahit  ludus  manifeste*, 
hängt  sicherlich  mit  der  dritten  Strophe  des  auch  in 
der  C.  B.  stehenden  und  oben  mitgeteilten  Bettelliedes 
'Artifex  qui  condidit'  zusammen.  L.  Laistner  meint,  ^) 
der  Dichter  dieses  Stückes  habe  frech  parodierend  die 
Reime  'conteste,  manifeste,  veste,  honeste'  aus  dem  Bun- 
deslied entlehnt.  Ich  halte  das  Umgekehrte  für  wahr- 
scheinlicher: Der  Poet  des  'Cum  in  orbem  Universum', 
der  auch  sonst  Gedanken  und  Worte  anderer  ohne  Be- 
denken übernommen  hat,  fand  das  Bettellied  vor  und 
parodierte  die  weinerliche  Bitte  um  ein  Kleidungsstück 
zu  den  Sätzen  um:  der  Vagant  soll  keine  Kleiderüppig- 
keit zeigen.  Wer  zwei  Gewänder  hat,  wird  sie  beim 
Spiel  verlieren. 

Das  ist  freilich  über  dieser  Feststellung  nicht  zu  ver- 
gessen, daß  das  Bundeslied  gewirkt  und  auch  außerhalb 
der  Carmina  Burana  weitergeklungen  hat,  nicht  bloß 
in  der  Regula  Libertini,  sondern  auch  in  dem  durch 
eine  böhmische  Handschrift  des  15.  Jahrhunderts  über- 
lieferten Kneipliede:^) 

^)  Golias  S.  101. 

2)  Veröffentlicht  von  Feifalik  in  den  Sitz.eBer.  der  Kaiserl.  Äkad.  d.  Wiss.  XXXVI 
(Wien  1861)  S.  176  f. 


Kneiplied  225 

'Plenitudo  temporis,  veiiite,  exultemus, 
licet  ramos  nemoris  calvari  videmus, 
quamvis  proniptiiaria  tanta  non  habemus; 
venite  ergo,  socii,  fortiter  bibemiis! 

De  vagorum  ordine  dicam  vobis  iura, 
quorum  ordo  iiobilis,  dulcis  est  natura, 
quos  amplius  delectat  tritici  meiisura 
vel  quos  benefaciat  pingwis  assatura. 

Igitur  ad  poculum  mane  transeamus 

et  usque  in  crepusculum  fortiter  bibamus, 

donec  in  parietibus  lucem  videamus 

et  prostratis  manibus  Stratum  capiamus. 

Audivi  sero  bibulum  valde  conquerentem, 
ut  leonis  catulum  valde  rugientem: 
quid  est  hoc,  quod  video  neminem  bibentem 
vinum,  quod  facit  hominem  omnia  scientem? 

Si  tu  nummis  careas,  hoc  est  veniale; 
pone  si  quid  habeas,  in  memoriale 
tunicam  vel  iopulam,  si  quid  habes  tale, 
pincerna  totum  capiet,  tandem  femorale. 

Si  tu  nummis  careas,  iubeas  taxillum 

fortiter  in  tabula  gerere  vexillum; 

si  tunc  sors  supervenerit,  quod  tu  vincas  illum, 

letus  et  intrepidus  curras  ad  ducillum. 

Porto  nostri  hospitis  nitet  margaritis 
et  apertis  hostiis  clamat:   Unde  sitis? 
Hie  non  est  ieiunium,  fames  neque  sitis, 
ymmo  totum  gaudium,   quare  non  venistis? 

Noster  ordo  prohibet  matutinas  ire  (lies:  plane), 
sunt  quedam  fantasmata  que  insurgunt  mane, 
unde  nobis  veniunt  visiones  väne. 
Si  quis  tunc  surrexerit,  non  est  mentis  sane. 

Lehmann  /  Parodie  im  ^littelalter  15 


226  Bundcslied  der  Vaganten 

Nostra  docet  regula  valde  manifeste 
nulluni  inter  socios  uti  clupla  veste, 
tunica  vel  iopula  non  inceste, 
in  sola  camisia,  sie  sedes  honeste. 

Nostrum  est  propositum  in  thaberna  mori, 
ubi  potus  non  deest  sicienti  ori, 
ubi  sonant  cithare  et  resonant  chori 
decantantes  dulcia   mihi  potatori. 

Vel  aliter: 

Nostrum  est  propositum  in  thaberna  mori, 
ubi  sonant  cithare  et  resonant  chori, 
ubi  potus  non  deest  sicienti  ori. 
Dens  Sit  propicius  mihi  potatori! 

Omnibus  postpositis  diligo  thabernam, 
quam  in  nullo  tempore  sprevi  neque  spernam, 
donec  sanctos  angelos  venientes  cernam, 
cantantes  pro  bibulo  requiem  eternam/ 

V.  5 — 8  stammen  aus  Str.  2  des  Bundesliedes,  v.  29 
bis  32  aus  Str.  8,  v.  33 — 36  aus  Str.  9.  Die  Schlußverse 
sind  der  Beichte  des  Erzpoeten  entnommen. 

W.  Giesebrecht  hat  das  Bundeslied  durch  nach- 
stehende Übersetzung  den  Lesern  näherzubringen  ver- 
sucht : 

„Macht  euch  auf  die  Wanderung!"  tönt's  auf  allen  Stegen, 
und  die  Bibel  sieht  man  flugs  auf  die  Seite  legen 
Priester,  Mönch  und  Diakon,  und  auf  allen  Wegen 
ziehn  sie  unsrer  Sekte  nach,  ihrem  Heil  entgegen. 

„Prüfet  alles!"    Dies  Gebot  wird  bei  uns  gelehret. 
Prüft  dann  unserh  Lebenslauf,  niemand  sei's  gewehret, 
doch  den  falschen  Priester  haßt,  so  der  Lieb  entbehret 
und  auch  nicht  mit  offner  Hand  milde  Gunst  gewähret. 


\ 


Bundcslicd  der  Vaganten  227 

Wir  nur   hegen  dieser   Zeit  christliches   Erbarmen, 
denn  wir  nehmen  groß  und  klein  auf  mit  offnen  Armen, 
wer  da  reich  an  Geld  und  Gut,  wie  die  hilflos  Armen, 
den   erstarrt   an   Klostertür  man  nicht  ließ   erwarmen. 

Uns  willkommen  ist  der  Mönch,  stattlich  tonsurieret, 
und  der  Priester,  der  sein  Weib  uns  am  Arm  zuführet. 
Pfründner  und   Kanoniker,   und  wer  magistrieret, 
doch  ein  Schüler  allermeist,  den  sein  Wämslein  zieret. 

Stille  Leute,  wilde  Art  folgen  unsern  Bahnen, 
deutsche  Männer,  böhmisch  Volk,  Slawen  und  Romanen, 
wie  der  Herr   sie  wachsen  ließ:    Zwerge   und  Titanen, 
die  hoch  fahren  und  die  still  sich  nichts  Großes  ahnen. 

Ihr  Markgrafen  und  ihr  Herrn,  die  zu  frohen  Mahlen 
Sachsen,   Baiern,   Ostreich   uns   sandte  allzumalen, 
merket,  denn  ich  melde  euch  neue  Dekretalen: 
„Jeder  Knauser  ist  verdammt  und  die  kärglich  zahlen." 

Orden  ohne  Skrupel  man  unsre  Sekte  nennet, 
ob  auch  so  verschieden  Volk  hier  zusammenrennet, 
doch  da  beiderlei  Geschlecht  keine  Scheidung  trennet, 
was  Geschlechts  der  Orden  sei  niemand  recht  erkennet. 

Des  Vagantenordens  Recht  will  ich  auch  verraten, 
der  ein  herrlich  Leben  führt,  wo  man  wohl  beraten, 
wo  mehr  als  ein  Scheffel  Korn  gilt  ein  fetter  Braten; 
höret  die  Gesetze  denn  und  des  Ordens  Taten. 

Unser  Orden  untersagt  streng  die  Metten  halten, 
denn  am  Morgen  gehen  um  arge  Spukgestalten, 
und  den  Sinn  berücken  dann  höllische  Gewalten, 
darum  muß  ein  kluger  Mann  früh  im  Bett  sich  halten. 

Da  uns  als*o  untersagt  streng  das  Mettesingen, 
ziehn  wir  flugs  zum  kühlen  Platz,  wenn  vom  Bett  wir 

springen, 

15* 


228  Unterhaltendes 


Hähnchen  lassen  wir  dorthin  und  ein  Weinfaß  bringen, 
droht  der  Würfel  Unheil  nicht,  voll  von  guten  Dingen. 

Unser    Orden    untersagt   Doppelkleider   tragen, 
wer,  ein  Wams  am  Leib,  sich  kann  vor  die  Leute  wagen, 
dann  bringt  bald  das  Würfelspiel  um  den  Mantelkragen, 
und  des  Gürtels  selbst  wird  er  öffentlich  entsagen. 

Und  wie  man  es  droben  hält,  geht  es  drunten  eben, 
wer  ein  Hemde  hat,  der  braucht  Hosen  nicht  daneben, 
und  wer  Stiefel  trägt,  der  kann  seine  Schuhe  geben: 
Jeder  Übertreter  soll  unterm  Bannfluch  leben! 

Keiner  greife  ohne  Trunk  früh  zum  Wanderstabe, 
hat  er  nichts,  so  scheid'  er  nicht  ohne  milde  Gabe, 
solcher  Dreier  bringt  gar  oft  schnell  zu  reicher  Habe, 
wenn  zu  guter  Stunde  sich  setzt  zum  Spiel  der  Knabe. 

Keiner  ziehe  seines  Wegs  gegen  Sturm  und  Regen, 
und  wer  darbt,  soll  nicht  die  Stirn  drob  in  Falten  legen 
sondern  wie  ein  kluger  Mann  still  die  Hoffnung  hegen, 
folgt  nach  schwerem  Leid  doch  meist  reicher  Glückes- 

segen. 

Saget  jedem  Menschenkind,  das  euch  aufgenommen, 
weshalb  zu  erforschen  ihr  jedes  Tun  entglommen, 
„Allen  Sündern,  sprecht,  zum  Schimpf,  doch  zum  Lob 

der  Frommen, 
und  zu  scheiden  Gut  und  Bös  bin  zur  Welt  ich  kommen". 


4.  Unterhaltende  Züge  und  Stücke    ' 
verschiedener  Art. 

Während  im  Anfange  die  unterhaltenden  Züge,  Stücke 
und  Gattungen  in  der  mittellateinischen  Literatur  dürftig 
waren,  bildeten  sie  sich  in  nachkarolingischer  Zeit  stark 
und  mannigfaltig  aus.  Vieles  was  davon  als  parodistisch 
anzusprechen  ist,  haben  wir  schon  gestreift,  da  Bissiges 
und  Launiges  nicht  immer  leicht  zu  trennen  sind.    So 


Tierdichtung  229 

bei  der  Tier  dich  tung.  Sie  mischt  Scherz  und  Ernst. 
Zuerst  wiegt  das  Belehrende  und  das  Unterhaltende 
vor.  Z.  B.  das  Gedicht  des  Sedulius  Scottus  (um 
850)  über  den  Widder,  der  von  Hunden  zerrissen  wird, 
mündet  nach  frischer  Erzählung  m  eine  christliche 
Deutung  aus  und  hängt  dann  ein  humoristisches  Epi- 
taph an,  das  den  irischen  Appetit  des  Dichters  auf  einen 
leckeren  Hammelbraten  offen  bekundet.^) 

Die  im  10.  Jahrhundert  entstandene  Ecbasis  cap- 
t  i  V  i  ist  eine  Art  behaglicher  Allegorie  ohne  starke 
satirische  Würze.  Zu  den  Parodien  im  engeren  Sinne 
ist  diese  Dichtung  nicht  zu  nehmen,  wiewohl  sie  Tiere 
ein  breit  geschildertes  Klosterleben  führen,  Tiere  höfi- 
sche Dienste  verrichten  läßt,  weltliche  und  geistliche 
Texte  ironisch  verwendet  und  wieder  ein  Scherzepitaph, 
auf  den  Wolf  v.  1166 — 1170,  bringt.  Es  würde  überhaupt 
viel  zu  weit  führen,  wenn  ich  alle  die  lateinis(;;Jien  Tier- 
dichtungen des  Mittelalters  hier  behandeln  wollte.  Ich 
hebe  nur  einige  Beispiele  und  Arten,  die  für  die  Parodie 
von  Interesse  sind,  heraus. 

Der  Ysengrimus  (12.  Jahrh.)  hat  ohne  Zweifel 
kräftige  Kampftöne.  Jedoch  hüte  man  sich,  mit  L.  Wil- 
lemsO  das  Satirische  zu  überschätzen.  Vor  allem 
möchte  ich  bemerken,  daß  für  uns  im  Ysengrimus  und 
anderen  verwandten  Stücken  der  Beiz  der  zumal  durch 
die  Verquickung  von  Menschen-  und  Tierleben  komi- 
schen Schilderung  so  groß  ist,  daß  man  heutzutage 
die  zugrunde  liegende  lehrhafte  oder  kritisch-polemische 
Tendenz  nur  zum  Teil  mühelos  begreift  und  das  Ganze 
wie  einzelnes  als  Unterhaltungsliteratur  genießt,  so  groß, 
daß  wohl  auch  schon  für  das  Mittelalter  sehr  bald  bei 
der  Lektüre  das  Satirische,  zum  wenigsten  die  ursprüng- 
lichen satirischen  Sonderabsichten  hinter  dem  rein 
Humoristischen  zurücktraten. 

Wenn  im  Ysengrimus  P.  Bovo,  statt  an  den  Sonntagen 
jedesmal  »ein  besonderes  Prozessionslied  zu  singen,  aus 


M  MG.  Poetae.  III  207.  Vgl.  oben  S.  31. 
*)  Etüde  sur  rYsengrimus,  Gent  1895. 


030  Ysengrimus 

Faulheit  an  jedem  Sonntage,  selbst  im  Februar,  das 
Osterprocessionale  wählt,  und  wenn  bei  dieser  Gelegen- 
heit der  Hymnus  'Salve  festa  dies,  toto  venerabilis  aevo, 
qua  Dens  infernum  vicit  et  astra  tenet'  parodiert  wird, 
so  ist  das  in  erster  Linie  vergnüglich: 

1735    'Emergente  die   Reinardus,   ut  arte  ferocem 
eliciat  turbam,  proxima  rura  subit, 
iamque   sacerdotis   stantis   secus  atria  gallum 
ecclesiam  populo  circueunte  rapit, 
intenditque  fugae;   non  laudat  facta  sacerdos, 
nee  laudanda  putat  nee  patienda  ioco. 
"Salve,  festa  dies"  cantabat,  ut  usque  solebat 
in  primis  feriis  et  "kyri"  vulgus  "ole"; 
"salve,  festa  dies"  animo  defecit  et  ori 
et  dolor  ingeminat  "vae  tibi,  maesta  dies, 
vae  tibi,  maesta  dies  toto  misera- 

b  i  1  i  s  a  e  V  o  , 
qua  laetus  spolio  raptor  ad  antra 

r  e  d  i  t". 
Cum  michi  festa  dies  vel  maximus  hospes 

adesset, 
abstinui  gallo,  quem  tulit  ille  Satan; 
sie  praesul  doleat,  qui  me  suspendere  cantu 
debuit!    en  galli  missa  ruina  fuit, 
non  me  missa  iuvat  sed  vulpem  altaria  iuro: 
malueram  missas  ter  tacuisse  novem.' 

Mehr  der  Unterhaltung  als  beißendem  Spott  dient 
die  Schilderung  der  Pfarrersköchin,  die,  das  Latein  der 
Messe,  mißverstehend,  Excelsis,  Osanna,  Alleluia,  Cele- 
brant  als  Heilige  anruft  (II  61  ff.)  und  'Pater  nuscer', 
'Credinde',  'Dei  paces',  'miserele',  'oratrus  fratrus',  'paz 
vobas',  'Deu  gracis'  statt  'Pater  noster',  'Credo  in  Deum', 
'Da  pacem',  'Miserere  nobis',  'Orate  fratres',  'Pax  vobis', 
'Deo  gracias'  gebraucht  (II  97  ff.).  Ähnlich  verballhornt 
der  Pastor  Ysengrimus  (V  547  ff.)  das  'Dominus  vobis- 
cum'  zu  'Cominus  ovis  kum',  und  er  betont  das  'Amen' 
so,  daß  'agne'  verstanden  wird.   An  spaßigen  Anspielun- 


Speculum  stultorum  231 


gen  auf  bekannte  Gebräuche  und  Wörter  von  Kirche 
und  Welt  ist  das  Werk  von  Anfang  bis  zu  Ende  voll.  So 
führt  I  1001  ff.  den  W'olf  als  messezelebrierenden  Prie- 
ster der  Schafe  vor,  IV  den  Wolf  auf  einer  Wallfahrt, 
V  im  Kloster,  III  die  Tiere  auf  einem  Hoftag,  die  V  1045  ff. 
erzählte  Züchtigung  wird  zuerst  wie  eine  bischöfliche 
Konsekration  dargestellt,  VII  parodiert  die  Messe  vom 
Introitus  bis  zum  Alleluia  des  Graduale,  VII  417 — 412 
lesen  wir  ein  Spottepitaph  auf  Ysengrimus: 

'Unum  pontificem  satis  unum  claudere  marmor 
sueverat,  ex  merito  quisque  notandus  erit. 
Undecies  senis  iacet  Ysengrimus  in  urnis. 
Virtutum  turbam  multa  sepulcra  notant. 
Nono  Idus  Junias  exortu  veris  is  inter 
Cluniacum  et  sancti  festa  Johannis  obit.' 

Noch  stärker  als  im  Ysengrimus  ist  der  unterhaltende 
Charakter  der  Parodie  in  dem  um  ein  halbes  Jahrhun- 
dert jüngeren  Speculum  stultorum  des  Nigellus 
Wireker.  Da  haben  wir  unter  anderem  die  natürlich 
nicht  ernst  gemeinte  Grabschrift  für  eine  Kuh  (ed. 
Wright  p.  31): 

'Epitaphium  Bicornis. 

Quae  dum  stulta  fuit,  doctos  docuisse  probatur, 
haec  postquam  sapuit,  vermibus  esca  datur'; 
ein  Gebet  (p.  36 sq.): 

'Omnipotens  Dominus  meritis  sanctisque  Juliani 
det   nobis   veniam   hospitiumque   bonum' 

usw. ; 
ein  Jubellied  (p.  48 sq.): 

'Cantemus,  socii,  festum  celebremus,  aselli, 
vocibus  et  votis  Organa  nostra  sonent' 

usw.; 
ein  Selbstgespräch  des  Esels  Burnellus  (p.  50 sqq.);  Gut- 
achten und  Urteile  vom  Hahn  (p.  61  sq.),  vom  Raben 
(p.  112 sq.);  da  haben  wir  auch  ein  spaßiges  Rezepl 
Gidens  für  den  nach  einem  langen  Schwänze  verlan- 
genden Esel  (p.  33): 


2v!>2  Speculum  stultorum 


'Haec  sunt  quae  referes  variis  signata  sigillis, 
iie   pereant   obiicit   cura   laborque  tuus: 

marmoris  arvinam,  furni  septemplicis  umbram, 

quod  peperit  mulo  miila  subacta  suo; 
anseris  et  milvi  modicum  de  lacte  recenti, 
de  lucis   cursu  deque  timore  lupi 

de  canis  et  leporis  septenni  foedere  drachmam; 

oscula  quae  niso  misit  alauda  suo; 
pavonis  propria  libram  de  voce  sonora, 

ante  tarnen  cauda  quam  sit  adepta  sibi; 
de  non  contexta  rubra  sine  flamme  mappa, 

nam  risus  asini  tu  dabis  ipse  tibi; 
allecis  vel  apum  croceo  de  spermate  libram, 

de  ciroli  iecore,   sanguine  sive  pede; 
natalis  Domini  modicum  de  nocte  salubri; 

quae  nimis   est  longa   iure  vaiebit  ad   hoc. 
In  redditu  de  monte  Jovis  de  vertice  summo 

accipies  libras  quatuor  asse  minus. 
Alpibus  in  mediis  sancti  de  nocte  Johannis 

de  nive  quae  cecidit,  tu  simul  indeferas; 
Serpentisque  rubrae  nee  non  de  cauda  colubrae. 

Utile  est  valde  nee  tamen  illud  eme. 
Haec  bene  collecta  pariterque  recentia  quaeque 

impones    humeris    sarcinulisque    tuis.' 

Ironisch  und  parodistisch  ist  auch  der  Segensspruch, 
den  der  große  Arzt  dem  Esel  mit  auf  den  Weg  nach 
Salerno  gibt  (p.  34 sq.): 

"Omnipotens  odia  tibi  mille  det,  et  tua  cauda 

obtineat  per  se  millia  dena  sibi! 
Sit  tibi  potus  aqua!    Sit  magnus  Carduus  esca,' 

Marmora   stramenta,   tegmina   ros   et  aqua! 
Grando,  nives,  pluviae  tecum  comitentur  ubique, 

protegat  et  noctu  cana  pruina,  gelu! 

Saepius  exosus  veniat  post  terga  molossus!" 
Oscula  dando  tamen  dixit  asellus.  Amen.' 

Die  Beziehungen  dieses  Narrenspiegels,  der  nach  der 
Hauptperson  oft  'Brunellus'  oder  'Burnellus'  heißt,  zu 


Odo;  Eselstestamcnt  233 


einer  anderen  'Brunellus'  genannten  Dichtung  sind  nicht 
erwiesen.^)    Sie  beginnt  mit  dem  Distichon 

'Instabat   festiva   dies,   animalia   bruta 
conveniunt  culpas  depositura  suas' 

und  bringt  eine  Beichte  von  Wolf,  Fuchs  und  Esel. 
Die  Parabeln  des  Engländers  Odo  von  Cheriton^) 
saec.  XII  ex.  dienen  der  Belehrung,  aber  sie  suchen 
das  didaktische  Ziel  zu  erreichen  durch  unterhaltende 
Erzählung  von  Tierfabeln  und  parodieren  dabei  kirch- 
liche Versammlungen,  Messen,  Totenfeiern,  Königs- 
wahlen u.  a.  Rein  scherzhaft  endlich  ist  ein  Gedicht 
vom  Esel,  das  vom  13. — 16.  Jahrhvmdert  in  Deutsch- 
land, Böhmen  und  Italien  viel  Anklang  gefunden  hat. 
Die  kürzeste  Fassung  ist  durch  P.  von  Winterfeld  ^) 
hübsch  verdeutscht  worden.  In  ihr  klagt  der  Bauer 
um  seinen  toten  Esel,  läßt  für  ihn  die  Kirchenglocke 
läuten,  eine   Seelenmesse  feiern  usw. 

'0   tu,   bone   presbyter, 
fac  sibi  pulsare  ter, 
cantare    solempniter. 

Ad   ecclesiam   ibimus, 
requiem   cantabimus, 
asinum   servabimus. 

Garo  datur  vermibus 
cutisque    sutoribus, 
anima  demonibus. 

0  vos  cuncti  Bavari, 
sumite  caudam  asini, 
cum   ea   suspendiminü* 

schließt  der   Text.  *)    Für   ursprünglicher  halte  ich  mit 

M  Vgl.  Ernst  Voigt,  Kleinere  lateinische  Denkmäler  der  Tiersage  aus  dem  12.  bis  14.  Jahr= 
hundert,  Stra^urg  1878,  S.  23  ff.,  81  ff.  und  Patetta  in  Ätti  della  R.  Accademia  delle  scienze 
di  Torino.  LIII  <1917/18)  p.  641  sqq. 

-)  Voigt,  a.  a.  Q.  S.  113  ff. 

^)  Deutsche  Dichter  des  lat.  Mittelalters  S.  228. 

■*)  F.  Novati,  Carmina  medii  aevii,  Florenz  1883,  p.  73. 


234 


Eselstestament 


Novati  die  längere  Redaktion.  ^)  Fehlt  in  ihr  die  Pa- 
rodie des  Requiems  und  der  Messe,  so  hat  sie  dafür 
die  Auferstehung  des  Herrn  Esels  und  sein  Testament. 

'Testamentum  domini  asini. 


Rusticus  dum  asinum 
suum  videt  mortuum, 
flevit  eius  obitum: 

Ohe,   ohe,  morieris  asine? 

5     Si  te  scivissem,  asine, 
moriturum  frigore, 
te  induissem  syndone. 
Ohe] 

Exclamavit  rustica 
10     voce  satis  querula, 
obstante  vicinia: 
Ohel 

Ululavit  rusticus 
magnisque  clamoribus: 
15     trahens  crines  manibus: 
Ohe! 

Surge  tanto  tempore, 
quod  tu  possis  bibere 
et  testamentum  condere. 
20         Ohel 

Mox  consurgens  asinus 

testamentum  protinus 
condidit  oratenus : 

Ohel 
25     "Crucem  do  papalibus, 
aures  cardinalibus 
caudamque  minoribus." 

Oh:] 


„Caput  meum  iudicantibus, 
50     vocem  meam  cantantibus 
linguamque  predicantibus." 
Ohe] 

"Dorsum  meum  portantibus, 
carnes  meas  ieiunantibus, 
55    pedes   autem  ambulantibus." 
Ohe] 

"Pellem  meam  sutoribus, 
crines  sellatoribus, 
ossa  quoque  canibus." 
40        Ohe] 

"Viscera  \  ulturibus 
priapumque  viduis 
-una  cum  testicuUs." 
Ohe] 

45     His  legatis  omnibus, 
que  habebat,  asinus 
obdormivit  cum  fratribus. 
Ohe] 

Abbas  tunc  et  clerici 
50     prebent  pancm  tritici 
cum  vellet  ipse  mori 
Ohe] 

Rusticus  et  famuli 
portant  corpus  asini 
55     ad  pasturamque  lupi 
Ohe]' 


Der  Witz  des  Tiervermächtnisses  ist  uralt;  nach  Zeug- 
nissen des  Hieronymus  ergötzten  sich  schon  im  4.  Jahr- 
hundert die  Schüler  an  einem  Testamentum  porcelli.  ^) 

^)  Novati  S.  1^  ff.  In  einer  Wolfenbüttler  Handsdirift  lautet  (nadi  Emil  Henrici,  Spradi» 
mischung  S.  18)  das  Testament: 

'Caput  do  papalibus, 

aures  cardinalibus, 

vocem  cantoribus, 

merdem  stercorantibus. 

ossa  lustralibus, 

cutem  Sdiarhansibus, 

daft  eine  paudien  daraus  madien  !' 

^)  Y^\.  Alauricii  Hauptii  opuscula.  II  (Leipzig  1876)  S.  175—183. 


Ulkrezepte;  Salomo  und  Marcolf  235 

Dieses  ist  iiocii  im  Mittelalter  abgeschrieben  worden 
und  hat  die  Anregung  zum  Testamentum  asini  gegeben. 
Die  Legate  des  Schweines  'de  meis  visceribus  dabo 
donabo,  sutoribus  setas,  rixatoribus  capitinas,  surdis 
auriculas,  causidicis  et  verbosis  linguam,  botulariis  in- 
testina, esicariis  femora,  mulieribus  lumbulos,  pueris 
vesicam,  puellis  caudam'  usw.  sind  die  Vorbilder  zu  den 
in  V.  25 — 43  versifizierten  Versprechungen  des  Herrn 
Esels. 

Ulkige  Rezepte  in  lateinischer  Sprache  hat  es  im 
Mittelalter  gewiß  noch  manches  außer  dem  einen  im 
Speculum  stultorum  gegeben.  Ich  kenne  allerdings  zur 
Zeit  nur  wenige.  Parodistisch  ist  ein  bis  ins  12.  oder 
13.  Jahrhundert  zurückgehendes  Gedicht,  das  mit  tönen- 
den Worten  ein  neues  Mittel  gegen  Kahlköpfigkeit  an- 
preist, ^)  parodistisch  auch  das  später  zu  erwähnende 
Rezept  in  einem  Druck  der  Nemo-Predigt.  In  den  Ver- 
sen 'Anser  sumatur  veteranus  qui  videatur'  usw.  über 
die  Herstellung  von  Gänsefett-)  erblicke  ich  einen  of- 
fenen Scherz,  nicht  eigentlich  eine  Parodie. 

An  Alter  übertrifft  die  bisher  in  diesem  Kapitel  be- 
handelten Stücke  die  Parodierung  König  S  a  1  o  m  o  s 
und  seiner  W  e  i  s  h  e  i  t  s  s  p  r  ü  c  h  e.  Schon  das  'De- 
cretum  Gelasianum  de  libris  recipiendis'  verbietet  eine 
'Scriptura  quae  appellatur  Salomonis  Interdictio'  oder 
'Contradictio'.  Der  älteste  bekannte  Zeuge  dafür,  daß 
ein  Marcolf  als  Sprecher  gegen  den  Weisen  des  Alten 
Testaments  vorgeführt  wird,  ist  der  St.  Galler  Mönch 
Notker  Labeo  (f  1022).  In  der  zweiten  Hälfte  des 
12.  Jahrhunderts  vermutete  Wilhelm  von  Tyrus  Iden- 
tität des  Abdimus  von  TNrus  mit  Marcolfus,  von  dem 
fabulöse  Volkserzählungen  berichteten,  wie  er  Salomos 
Rätsel  gelöst  und  dem  König  mit  Rätselaufgaben  geant- 
wortet hätte.  „Ein  halbes  Jahrhundert  später  bemerklc 
der   schwäbische   Dichter   Freidank   'Salomon  Weisheit 

M  Vgl.  Textanhang- 

-)  Überliefert  in  St.  Omer  115  saec  XIII.  vgl.  Archiv  d.  Ges.  f.  ältere  deutsche  Ge» 
sdiichtskunde.  MII  409,  und  Wien  4774  saec.  X\l,  vgl.  St.  Endlicher,  Catalogus  codicum 
philologlcorum  Latinorum  bibl.  Pal.  Vindoboncnsis,  Wien  1S36,  p.  188. 


236  Salomo  und  Marcolf 


lehrte,  Marcolt  diese  verkehrte.  Die  Sitte  haben  heute 
leider  genügend  Leute.'  Aber  welches  die  Sprüche 
waren,  ob  zunächst  wirkliche  Fragen  und  Antworten 
gewechselt  wurden,  ob  diese  ernsten  oder  burlesken 
Inhalts  waren,  darüber  läßt  sich  nichts  sagen."  Diese 
Behauptung  W.  Benarys^)  trifft  glücklicherweise  nicht 
zu.  Denn  Guido  von  Bazoches  (f  1203)  vermerkt  —  was 
außer  Benary  auch  Cosquin  und  andere  Forscher  über- 
sehen haben  —  in  seiner  Apologie:^)  'Hiis  liquet  exemp- 
lis  in  moribus  instituendis  natura  quid  iuris  habeat, 
nutritura  quid  possit,  nee  tantum  in  rationali,  sed  in 
ratione  carente  vim  habet  eandem  et  dominium  ani~ 
mali,  quod  memoriali  precipue  declaratur  illo  de  mul- 
tis,  que  de  sapientissimo  Salomone  celebrantur  ore 
multorum,  et  quodam  cum  eo  sofistice  confligente.  Nam 
cum  Salomon  nutriture  preferre  naturam  intenderet  et 
ille  contenderet  econverso  nature  preferens  nutrituram, 
promisit,  quod  verba  regis  rebus  obtunderet  et  osten- 
deret,  quod  proponebat  magis  opere  quam  sermone. 
Dicebat  enim  habere  se  domi  murilegum  ad  vocem  iu- 
bentis  et  honorem  bibentis  erecto  corpore  super  pedes 
extremos  lumen  elevare  prioribus  institutum;  propter 
quod  invitatus  a  rege  venit  ad  cenam,  sedit  ad  mensam, 
animal  suum  collocavit,  aptavit,  ut  super  pedes  in- 
feriores et  lumen  superioribus  elevaret.  Ad  hoc  provida 
regis  sollercia  preparaverat  in  absconso  murem  vivum 
et  educto  de  latibulo  vestimenti  fugiendi  copiam  dedit. 
Quo  viso  murilegus  abrenuntians  legibus  preceptoris  et 
in  naturalia  iura  concedens,  abiecto  ministerio  fugien- 
tem  assequi  preparavit'  Die  Anekdote  von  der  kerzen- 
tragenden Katze  erscheint  im  zweiten  Teile  ^^)  des  zur 
Zeit  aus  Handschriften  des  14.  und  15.  Jahrhunderts 
bekannten     mittellateinischen     'Salomon    et    Marcolfus 

')  Salomon  et  Marcolfus,  Heidelberg  1914  (Sammlung  mlttellat.  Texte,  her.  von  Ä.  Hüka, 
Heft  8),  S.  VII  f. 

^)  W.  Wattenbadi  in  den  Sitz.=Beriditen  der  Kgl.  Preuij.  Akademie  d.  Wiss.  zu  Berlin. 
1893.  S.  405  f. 

^)  Benary  S.  30  f.  Warum  hat  der  in  München  arbeitende  Benary  für  seine  Ausgabe 
nicht  München  lat.  5354  fol.  282  sc^q.  benutzt?  Fol.  286'^  stehen  die  p.  XVIII  gedruckten 
Verse  'Sum  Marcolfus  sycophanta . 


Salomo  und  Marcolf  237 


wieder.  Da  der  Pariser  Kodex  der  Apologie  ausdrück- 
lich zu  obigem  Bericht  die  originale  Randbemerkung 
'De  Salomone  rege  et  Abdemone  Tyrio  qui  Marculphus 
vulgariter  appellatur'  hat,  ist  zu  behaupten,  daß  die  Er- 
zählungen von  Salomon  et  Marcolfus  bereits  gegen  1200 
mindestens  zum  Teil  denselben  Inhalt  wie  um  1400 
gehabt  haben,  wenn  auch  Form  und  Umfang  im  Laufe 
der  Zeit  verändert  sein  mögen.  Ohne  eine  genauere 
Datierung  und  Lokalisierung  des  überlieferten  Unter- 
haltungsbuches wagen  zu  können,  möchte  ich  einstweilen 
soviel  sagen:  Die  zwei  Teile,  aus  denen  der  Text  jetzt 
besteht,  werden  verschieden  alt  sein.  Als  Notker  Labeo 
(952 — 1022)  auf  Marcolfs  Streit  gegen  die  Proverbia  Sa- 
lomonis  anspielte,  kannte  er  wohl  nur  ein  Wortgefecht 
zwischen  Salomo  und  Marcolf,  wie  es  nunmehr  an  er- 
ster Stelle  des  Ganzen  steht;  als  Wilhelm  von  T^^rus 
und  Guido  von  Bazoches  ihr  Zeugnis  abgaben,  bestand 
schon  ein  Komplex  von  Anekdoten  über  Salomon  und 
Marcolf,  gleich  oder  ähnlich  dem  zweiten  Teil.  Zeugt 
Guido  für  das  frühe  Vorhandensein  der  Katzenerzählung 
und  ihrer  Beziehung  auf  Salomon  und  Marcolf,  so 
ist  Wilhelm  zu  entnehmen,  daß  es  sich  damals  schon 
nicht  mehr  um  einzelne,  sondern  um  vereinigte  Ge- 
schichten  handelte:    'Marcolf um de   quo   dici- 

tur,  quod  Salomonis  solvebat  aenigmata  et  ei  responde- 
bat,   aequipoUenter   ei  iterum   solvenda  proponens.' 

Parodistisch  sind  beide  Teile.  Gleich  der  Prolog  be- 
ginnt mit  einigen  von  Benary  nicht  notierten  Anklängen 
an  die  Bibel:  'Cum  staret  rex  Salomon  super  solium 
David  patris  sui,  plenus  sapiencia  et  diviciis,  vidit  quen- 
dam  hominem  Marcolfum  nomine  a  parte  orientis  veni- 
entem,  valde  turpissimum  et  deformem,  sed  eloquen- 
tissimum.'i)  Vgl.  damit  3  Reg.  II 12  'Salomon  autem 
sedit  super  thronum  David  patris  sui';  ib.  24  'collocavit 
me  super  solium  David  patris  mei';  3  Reg.  X23  'magni- 
ficatus  est  ergo  rex  Salomon  super  omnes  reges  terrae, 
divitiis  et  sapientia';  3  Reg.  VII 13  f.  'misit Sa- 

')  A.  a.  O.  S.  1. 


238  Salomo  und  Marcolf 


lomon  et  tiilit  Hiram  de  Tyro  filium  mulieris  viduac 
plenimi  sapientia  et  intelligentia'.  Daß  zu  Be- 
ginn des  Dialogs^)  der  Stammbaum  Salomos  nach 
Matth.  I  gegeben  ist.  merkt  Benary  an.  Für  uns  ist 
wichtig,  daß  diese  biblisclie  Genealogie  durch  einen  er- 
fundenen Stammbaum  Marcolfs  und  seiner  Frau  paro- 
diert wird.-)  In  der  nun  folgenden  Rede  und  Gegen- 
rede des  Königs  und  Marcolfs  bedient  sich  Salomo 
naturgemäß  fast  durchweg  der  biblischen  Weisheit: 
aus  den  Prov.  sind  Sap.,  Eccli.,  Gant.,  EccL,  Job,  ja 
auch  neutestamentliche  Bücher  herangezogen.  Benarys 
Feststellungen  genügen  nicht.^)  Zur  parodistischen  Li- 
teratur gehört  das  Zwiegespräch  deshalb  vor  allem,  weil 
Marcolf  jedem  Worte  Salomos  irdische,  grobsinnliche 
Erfahrungen,  derbe  Witze  entgegenstellt,  oft  dem  Wort- 
laut der  Bibel  nahebleibend,  den  Lehrinhalt  der  Salo- 
monischen Sätze  aber  immer  paralysierend.    So: 

'Mulierem   fortem   quis  inveniet?' 

'Quis  cattum  super  lac  fidelem  reperiet?"" 

'Nullus.' 

'Et  mulierem  raro.' 

'Subtrahe  pedem  tuum  a  mutiere  litigiosa!' 

'Subtrahe  nasum  tuum  a  culo  iussoso!' 

'Qui  seminat  iniquitatem,  nietet  mala/ 

M. :  'Qui   seminat  paleas,  nietet  miseriam.' 
20  S. :   'Landet  te  alienus  et  non  os  tuum!' 

M. :  'Si  nie  ipsum  vitupero,  nulli  uniquam  placebo/ 
2G  S. :   'Inter  bonos  et  nialos  repletur  donius.' 

M. :  'Inter  podiscos  et  nierdam  repletur  latrina.* 
46  S.:   'Eice  derisorem,  et  exibit  cum  eo  iurgium  ces- 
sabuntque  cause  et  contumelie.' 

M. :  'Eice   inflacionem   de   venire,   et  exibit   cum   ea 
merda  cessabuntque  torciones  et  iusse.' 

')  A.  a.  O.  S.  3  t. 

2)  Ä.  a.  O.  S.  4  f. 

^)  Für  5a  vgl.  3  Reg.  III;  6a  3  Reg.  III  12  f.;  15a  Prov.  XXI  9  und  XXV  24;  86a  Prov, 
XXVII  4;  94  a  1  Cor.  XV  32;  116  a  Matth.  XII  34  oder  Luk.  VI  45;  119  a  1  Reg.  IX  20; 
127a  Eccli.  XXX  12;  157  2  Cor.  X  t.  Bei  weiteren  Nachforschungen  sind  wohl  nodi  mehr 
Ergänzungen  zu  finden. 


13 

S.: 

M. 

S.: 

M. 

15 

S.: 

M. 

17 

S.: 

Salomo  und  Marcolf  239 


79  S. :   'Pro  amore  Dei  dileccio  omiiibus  exhibenda  est' 
M. :  'Si  amas  illiim   qiii   te  non  amat,   perdis  dilec- 
cioiicm  tuam.' 
128  S. :    'Cclum  quando  nubilat,  pluviam  facere  viilt.' 

INI.:  'Canis  quando  crupitat,  cacare  vult' 
140  S. :    'Omnia  tempora  tempus  habent.' 

M. :  "Diem  hodie  et  diem  cras"  dicit  bos  qui  leporem 
sequitur.' 
Das  sind  Beispiele  und  längst  nicht  die  schlimmsten 
der  Zoten  und  Derbheiten.  Der  Schluß  des  ersten 
Teiles  führt  aus  3  Reg.  IV  und  XII  'Banaias,  filius  Joiade, 
et  Zabud,  amicus  regis,  et  Adoniram,  filius  Abda,  qui 
erat  super  tributa'  vor.  Wenn  diese  zu  Marcolf  sagen: 
"Ergone  tu  eris  tercius  in  regno  domini  nostri?"  so 
muß  —  Benarv  schweisft  —  auf  Daniel  V  16  'tertius  in 
regno  meo  princeps  eris'  verwiesen  werden.  Die  Fort- 
setzung der  Diener  Salomos:  "Ante  eruantur  tui  pes- 
simi  oculi  de  tuo  pessimo  capite.  Melius  decet  te  iacere 
cum  ursabus  domini  nostri  quam  sublimari  aliquo  ho- 
nore"  erinnert  mich  stark  an  den  bekannten  Satz  der 
Bergpredigt  Matth.  V  29:  'Quodsi  oculus  tuus  dexter 
scandalizat  te,  erue  eum  et  proice  abs  te;  expedit 
enim  tibi,  ut  pereat  unum  membrorum  tuorum,  quam 
totum  corpus  tu  um  mittatur  in  gehemiam.'  Auch  der 
Schluß  (S.  218—223)  ist  biblisch,  vgl.  3  Reg.  IV  8—19. 
Im  zweiten  Teil  ist  die  Darstellung  freier,  selbständi- 
ger, jedoch  auch  da  wird  immer  Salomo  durch  Mar- 
colf parodiert.  Besonders  bezeichnend  ist  die  burleske 
Behandlung  der  Geschichte  von  Salomo  und  den  sich 
um  ihr  Kind  streitenden  Müttern  sowie  die  Verdrehung 
der  Salomonischen  Urteile  über  Frauen  im  allgemeinen. 
Salomo  wird  geradezu  eine  Schwankfigur  als  Frauen- 
jäger. Die  Bibel  ist  textlich  parodiert,  indem  Marcolf 
den  König  dazu  bringt,  erst  gut,  dann  schlecht  von  den 
Frauen  zu  sprechen,  wie  wenn  er  wirklich  in  seiner 
Meinung  geschwankt  hätte.  Tatsächlich  aber  hat  Sa- 
lomo in  der  Bibel  bei  den  verschiedenartigen  Aus- 
sprüchen   genau    geschieden    zwischen    den   guten    und 


240  Der  heiliöe  Niemand 


den  schlechten  Frauen.  Der  Herausgeber  Benary  hätte 
m.  E.  auch  hier  zeigen  müssen,  daß  und  wie  bei  diesen 
Anekdoten  immer  wieder  Bibelworte  gebraucht,  miß- 
braucht werden.  Grandios  wird  die  possenhafte  Paro- 
die abgeschlossen  durch  die  Suche  der  Salomonischen 
Diener  und  Marcolfs  nach  dem  Baum,  an  dem  dieser 
zur  Strafe  aufgehängt  werden  soll.  Sie  durchschreiten 
das  Tal  Josaphat,  die  Abhänge  des  Ölberges  usw.  bis 
nach  Jericho  und  finden  den  Baum  nicht.  Die  Wander- 
schaft geht  weiter  durch  den  Jordan  und  ganz  Arabien, 
umsonst.  Der  Weg  führt  auf  den  Berg  Carmel,  den 
Libanon  und  zu  vielen  anderen  aus  der  Bibel  (nicht 
bloß  aus  Jos.  XII  ff.,  wie  Benary  meint)  bekannten 
Stätten.  Da  sie  keinen  Baum  finden,  den  Marcolf  wählt, 
lassen  sie  ihn  schließlich  laufen.  So  entrinnt  der  freche 
Schelm  den  Händen  König  Salomos. 

Das  Buch  der  Bücher  hat  noch  oft  für  Narreteien 
und  Spaße  herhalten  müssen. 

Um  1290  verfaßte  ein  gewisser  Badulfus,  wohl  ein 
Franzose,  einen  Sermo  oder  eine  Historia  de  Ne- 
in ine,  den  recht  kennenzulernen  die  Welt  jetzt  erst  das 
Glück  hätte.  Nemo  wäre  wesensgleich  mit  dem  Sohne 
in  der  Trinität  und  hätte  ganz  außerordentliche  Eigen- 
schaften und  Fähigkeiten.  Badulf  hatte  von  ihm  da- 
durch erfahren,  daß  er  in  einer  großen  Beihe  von  Stel- 
len namentlich  der  Bibel  und  Liturgie,  außerdem  bei 
Cicero,  Horaz,  Maximian,  in  den  Disticha  Catonis,  bei 
Piscian  und  Augustin  u.  a.  das  Wörtchen  'nemo'  keines- 
wegs als  Negation,  sondern  als  einen  Personennamen 
ansah.  Diese  'Auctoritates'  hatte  er  sich  angeblich  von 
geistlichen  Personen  gekauft  und  war  so  imstande,  einen 
Traktat  über  Niemand  zu  verfassen  und  dem  Kardinal- 
diakon Benedikt  Gaietani  zu  widmen.  Ja,  er  hatte  sol- 
chen Erfolg,  daß  ein  gewisser  Peter  von  Limoges  u.  a. 
sich  dem  Nemo-Kult  anschlössen,  daß  förmlich  eine 
'Secta  Neminiana'  entstand.  Da  veröffentlichte  Stepha- 
nus  de  S.  Georgio  eine  Gegenschrift  in  der  Absicht, 
durch  sie  die  Verdammuno   und  Verbrennung  der  Ne- 


Der  heilige  Niemand  241 


minianer  auf  der  Proviiizialsynode  von  Paris  zu  er- 
reichen. Er  gab  sich  die  größte  Mühe,  die  einzehien 
Nemostelleii  Radulfs  durch  Glossierung  zu  widerlegen 
und  zweitens  durch  andere  Stellen  zu  beweisen,  daß 
der  Nemo  ein  ganz  verworfenes  Subjekt  wäre.  Ra- 
dulfs Sermo  kennen  wir  aus  der  erhaltenen  Gegenschrift 
Stephans  und  aus  mehreren  späteren  Rearbeitungen  der 
Nemogeschichte.  Diese,  die  in  vielen  bisher  nur  zum 
Teil  herangezogenen  Handschriften  saec.  XIV — XVI  von 
mindestens  vier  Fassungen  vorliegen,  sind  nun  aber 
keineswegs  mehr  ernst  gemeint.  G.  H.  Pertz,  W.  Watten- 
bach, J.  Rotte  u.  a.  behaupteten,  man  hätte  es  mit  Pa- 
rodien von  Heiligenlegenden  zu  tun,  verfaßt,  um  der  Ver- 
breitung der  hagiographischen  Literatur  Abbruch  zu  tun. 
In  H.  Denifle  dem  Streitbaren  fanden  sie  einen  Wider- 
sacher,^) der  neue  Aufschlüsse  brachte  durch  die  Ent- 
deckung der  Schrift  Stephans  gegen  Radulf  und,  ohne  die 
Unterhaltungstendenz  der  jüngeren  Redaktionen  zu  leug- 
nen, auf  die  ernste  Absicht  des  Urtextes  hinwies.  Ich 
zweifle,  ob  Denifle  in  allem  recht  gehabt  hat:  Trotz- 
dem Stephan  den  Sermon  Radulfs  ernst  nahm,  kann 
dieser  eine  übermütige  Parodie  gewesen  sein,  auf  die 
Stephan  in  seinem  Eifer  hineingefallen  ist.  Darin 
stimme  ich  dem  gelehrten  Dominikaner  unbedingt  zu, 
daß  die  Nemospielereien  niemals  bestimmt  waren,  Hei- 
ligenverehrung und  Heiligenlegenden  zu  verhöhnen  und 
zu  bekämpfen.  War  irgendwie  Spott  beabsichtigt,  dann 
wohl  nur  darüber,  daß  gewisse  Exegeten  oft  alles,  was 
sie  w^ollten,  aus  der  Heiligen  Schrift  und  anderen  Wer- 
ken herauslasen.  Der  Hauptgrund,  warum  man  seit  dem 
14.  Jahrhundert  die  Nemotexte  so  häufig  abschrieb,  um- 
modelte, ergänzte,  übersetzte,  war  der,  daß  man  in  ihnen 
humoristische  Parodien  sah,  scherzhafte  Einkleidung 
und  Zusammenfassung  parodistischer  Interpretationen 
in  das  Gewand  einer  Legende,  in  die  äußeren  Formen 
einer  Predigt  zur  Verehrung  eines  Schutzpatrons.  Seit- 
dem   der    Apostel    Paulus    den    Hebräerbrief    begonnen 

^)  Ärdiiv  für  Literatur»  und  Kirdiengesdiidite  des  Mittelalters.  IV  (1888)  S.  330  ff. 
Lehmann  /  Parodie  im  Mittelalter  16 


242  Der  heilige  Niemand 


hatte  mit  den  Worten,  die  in  der  Vulgata  lauteten  'Mul- 
tifariam  multisque  modis  olim  Dens  loquens  patribus 
in  prophetis:  novissimis  diebus  istis  locutus  est  nobis 
in  filio,  quem  constituit  heredem  universorum,  per 
quem  fecit  et  saecula',  fingen  nicht  selten  Sermone, 
Briefe,  Heiligenleben  so  oder  so  ähnlich  an,  was  man 
z.  B.  aus  den  Initienverzeichnissen  von  Vattasso  und 
Little  sehen  kann.  Es  war  also  schlau  von  dem  Paro- 
disten,  seinen  Text  einzuleiten  durch  die  Worte  'Multi- 
farie  multisque  modis,  charissimi,  loquebatur  olim 
Deus  per  prophetas,  qui  velut  in  enigmate  et  quasi 
sub  nebulosa  voce  unigenitum  Dei  filium  pro  redimendis 
laborantibus  in  tenebris  et  in  umbra  mortis  sedentibus 
preconizarunt  venturum;  novissimis  autem  diebus  per 
suam  sacram  scripturam  palam  alloquitur  et  beatissi- 
mum  Neminem,  ut  sibi  comparem  ante  secuta  genitum' 
usw.  Auch  die  Worte  'Vir  quidam  erat,  in  Oriente 
nomine  Nemo'  der  Fassung  C  bildeten  einen  guten  Ein- 
gang, da  sie  gleich  an  das  Buch  Hiob  denken  ließen.  In 
dieser  Lobrede,  die  auch  als  'Sermo  pauperis  Henrici 
de  S.  Nemine  cum  preservativo  regimine  eiusdem  ab 
epidimia',  also  mit  einem  Scherzrezept,  und  mit  einer 
'Figura  Neminis,  quia  nemo  in  ea  depictus',  einem  leeren 
Viereck,  um  1500  gedruckt  worden  ist,^)  wird  Nemo 
nicht  mehr  als  Quasi-Gott,  sondern  als  heiliger  Mensch 
au^igefaßt.  Die  Belegstellen  sind  zumeist  dieselben,  nur 
haben  sie  z.  T.  eine  andere  Reihenfolge  erhalten.  Stil- 
gerecht schließt  Denifles  Fassung  a  mit  den  Sätzen^) 
'Estote  igitur  viri  fortes  in  agone  velud  doctor  noster 
Nemo  et  robusti.  Et  certamen  illius  qui  nullis  falsis 
probacionibus  nee  scripturis  subsistit,  non  recusetis  sub- 
ire.  Rerservemus  etiam  in  nostri  pectoris  scrinio  ad 
laudem  et  gloriam  patroni  nostri  beatissimi  Neminis 
et  suorum  tot  et  tantas  autoritates,  tam  divinas  cano- 
nicasve  quam  civiles,  cum  infinitis  sanctorum  sanc- 
tionibus    patrum    philosophicis    insuper    et   naturalibüs 


»)  Vgl.  J.  Bolte  in  der  Alemannia,  her.  von  A.  Birlinger,  XVI  (1888)  S.  199  ff. 
^)  Anzeiger  für  Kunde  der  deutsdien  Vorzeit.  1866  S-  367. 


Der  heilige  Niemand  243 


argumentis.   Infinitis  autem  virtutibus  posset  et  laudibus 

sanctissimus  Nemo  iste  preconizari .    Ad  cuius 

beatitudinem  et  gloriam  qui  sine  fine  bibit  et  restat  nos 
vosque  pervenire  concedat  per  omnia  pocula  poculorum.' 
So  und  ähnlich  ist  der  spaßhafte  Charakter  ange- 
deutet. Wenn  man,  wie  es  tatsächlich  sehr  bald  im 
Mittelalter  geschah,  die  närrische  Ketzerei  vergaß,  die 
den  ersten  Nemotext  ins  Leben  gerufen  haben  soll, 
konnte  man  bei  bescheidenen  Ansprüchen  sein  Ver- 
gnügen an  der  Lektüre  dieser  Klitterungen  finden  und 
hat  es  gefunden.  Die  eine  Willkür,  daß  man  'nemo' 
als  Namen  oder  Bezeichnung  einer  bestimmten  Persön- 
lichkeit auffaßte,  ermöglichte  die  tollsten  Feststellun- 
gen. Von  Nemo  dem  Göttlichen,  von  dem  in 
Ps.  CXXXVII  gesagt  werde  "Dies  formabuntur  et  Nemo 
in  eis",  im  Johannesevangelium  "Nemo  ascendit  cae- 
lum"  —  "Nemo  Deum  vidit",  bei  Matthäus  "Nemo  no- 
vit patrem Nemo  novit  filium".    "Virtuosus  et 

potentissimus  Nemo  tanta  audacia  et  securitate  damit 
et  illuxit  ita,  quod,  dum  Judaei  maledicti  Jesum  capere 
venientes  non  essent  ausi  invadere,  solus  iste  Nemo 
audacissimus  qui  cum  eis  aderat  cepit  cum,  ut  dicitur 
Job.  septimo  et  octavo  "Nemo  misit  in  eum  manus". 
Von  demselben  Heiligen  hören  wir  "Nemo  polest  du- 
obus  dominis  servire".  Er  ist  ein  großer  Kriegsmann, 
ein  Prophet,  ein  Wesen  frei  von  Sünde,  ein  Seliger, 
ein  Gelehrter  in  allen  möglichen  Künsten:  "Nemo  tene- 
tur    propriis    stipendiis    exercere    —  —  — .     Nemo    est 

acceptus   propheta   in   patria .    Nemo   sine   cri- 

mine  vivit .  Nemo  ex  omni  parte  beatus" . 

'De  eo  eciam  lucide  testatur  Priscianus,  quod  ei  fuit 
consimilis  in  grammatica  et  socius,  cum  dicit  in  maiore 
volumine':  "Neminem  inveni  michi  socius."  'Fuit  eciam 
astronomus  sicut  legitur':  "Nemo  observat  lunam"  usw. 
Ewiges  Leben  ist  ihm  beschieden.  Denn  "Nemo  est 
qui  semper  vivat".  Er  darf  Bigamie  treiben:  "Nemini 
permittitur  binas  habere  uxores."  Gemäß  der  Bene- 
diktinerregel darf  er  ungescheut  nach  dem  Abendgebet 

16* 


244  Der  Paulussdiüler  Invicem 


reden:  "Post  completorium  nemo  loquatur."  Ja:  "Nemo 
poterit  se  similem  Deo  fingere;  Nemo  vincit  Deum; 
ipse  solus  factus  est  Dens  et  Nemo  eum  corrigere  po- 
test."  Auf  die  verschiedenen  lateinischen  Rezensionen, 
auf  die  Übersetzungen  ins  Deutsche,  Niederländische, 
Französische  und  andere  Sprachen  einzugehen,  möchte 
ich  verzichten.  Aber  ich  sage  nicht  mit  H.  Denifle(S.  338): 
„Es  ist  auch  wahrhaftig  nicht  der  Mühe  wert;  man  hat 
sich  ohnehin  schon  zu  viel  mit  diesen  Spielereien  ab- 
gegeben." Der  Literaturhistoriker  hat  sich  nicht  stets 
nur  mit  tiefsinnigen  Werken  zu  beschäftigen.  Die  Nemo- 
geschichten  haben  dem  Geschmacke  von  Tausenden  ent- 
sprochen und  weitergelebt,  als  viele  originellere,  ern- 
stere Schriften  längst  vergessen  waren. 

Häufig  überliefert,  haben  die  Nemolegenden  und 
Nemopredigten  andere  geistesverwandte  nach  sich  ge- 
zogen. So  erfahren  wir  durch  einen  Sermon,  denW.  Wat- 
tenbach^)  aus  der  Liesborner  Handschrift  München  lat. 
10751  saec.  XVI  abdruckte,  ich  außerdem  aus  den  hundert 
Jahre  älteren  Codices,  Besan^on  592  (dank  Dr.  J.  Wer- 
ner, Zürich)  und  Köln  Hist.  Archiv  G.  B.  8*^  61  (dank 
Dr.  L.  Bertalot  und  Dr.  J.  Theele)  kenne,  von  einem 
Paulusschüler  Invicem,  der  von  dem  Apostelfürsten 
ausgeschickt  und  angelegentlich  empfohlen  ward,  aber 
Gegner  fand,  so  daß  Paulus  selbst  kommen  mußte  und 
schließlich  nach  einem  Verhör  von  neuem  befahl,  seinen 
Jünger  zu  lieben  und  zu  ehren.  Wirklich  existiert  hat 
dieser  Invicem  ebensowenig  wie  Nemo  und  ist  niemals 
verehrt,  sondern  nur  des  Ulkes  halber  aus  allerlei  Bibel- 
stellen, wo  das  Wörtchen  'invicem'  =  gegenseitig  vor- 
kommt, erschlossen  worden.  Mitten  ins  Reich  des 
blühenden  Blödsinns  führt  die  parodistische  Anwendung 
und  Auslegung  mit  den  beiden  Predigten  über  das 
Nichts,  die  ^)  'Lectio  Danielis  prophetae.  Fratres,  ex 
nihilo  vobis  timendum  est'  und  der^)  'Sermo  plurimum 

M  Anzeiger  für  Kunde  der  deutschen  \^orzeit.  N.F.  XV  (1868)  S.  39  ff. 

2)  Wattenbach,  a.  a.  Q.  S.  9  ff. 

3)  Derselbe,  a.  a.  Q.  XIV  (1867)  S.  344  ff. 


Predigten  über  das  Nichts  245 

utilis  ex  diversis  collectus  de  nihil.  Fratres  ex  nihilo 
nihil  fit'.  Auch  der  verschollene  'Sermo  lusorius'  des 
englischen  Augustiners  Peters  Pateshull,  eines  Wikle- 
fiten,  der  auch  in  Böhmen  gewirkt  haben  soll,  wird  in 
dieselbe  oder  eine  verwandte  Kategorie  gehören  ;i)  diese 
von  J.  Bale  einmal  'Risus  natalicii'  genannte  Predigt 
begann  mit  den  Worten  'De  nihilo  nihil  est  et  nihil 
semper  erit'.  Alle  knüpfen  sie  also  an  den  gern  er- 
örterten Grundsatz  an,  den  Epikur  an  die  Spitze  der 
Physik  gestellt  hatte:  ovc^sr  ylvezai  sx  xov  /Lirj  ovroQ, 
Daß  der  Satz  namentlich  seit  dem  13.  Jahrhundert  gern 
und  lebhaft  diskutiert  wurde,  kann  man  z.  B.  aus  den 
Werken  Thomas  von  Aquins  sehen  und  aus  dem  Ku- 
riengedichte Heinrichs  von  Neumünster,  wo  v.  841  als 
Streitfrage  der  Nachtischgespräche  im  Palast  des  Pap- 
stes aufgeführt  wird:^) 
'Cum  nihil  ex  nihilo,  sed  sit  res  omnis  ab  ente.' 
Die  Texte,  die  wir  zu  besprechen  haben,  sind  ge- 
wissermaßen Parodien  auf  die  scholastischen  Erörte- 
rungen. Die  Verfasser  haben  sicli  nicht  mehr  die  Mühe 
gegeben,  die  einzelnen  Sätze  fest  miteinander  zu  ver- 
binden, vom  Nichts  kommen  sie  auf  alles  zu  sprechen, 
namentlich  auf  die  sinnlichen  Freuden  des  Daseins,  und 
sie  wirbeln  dabei  die  verschiedenartigsten  Bibelstellen 
u.  a.  wild  durcheinander.  Heilige  Sätze  werden  mut- 
willig verändert  und  überdies  Quellen  zitiert,  die  es 
niemals  gegeben  hat.  Die  Danielslesung  leistet  sich  z.  B. 
die  Worte:  'Scriptum  est  enim  "Si  esurit  inimicus 
tuus,  appone  ei  ferrum  et  lapides.  Si  sitit,  silices  da 
ei  bibere.  Lapides  enim  et  sal  est  vita  hominis.  In  his 
quoque  duobus  tota  lex  pendet  et  prophetae."  —  —  — 
Unde  dicit  Vergilius  in  canticis  canticorum. 
"Si  videris  fratrem  tuum  necesse  habere,  erue  ei  ocu- 
him  et  proice  abste.    Et  si  perseveraverit  pulsans,  erue 

ei  et  alterum." 

♦ 

^)  Vgl.  Jo-  Baleus,  Scriptorum  illustrium  maioris  Brytanniae  etc.  catalogus,  Basel  1557, 
p.  50Q  sq.;  derselbe,  Index  Britanniae  scriptorum  ed.  R.  L.  Poole,  p,  322;  Dictionary  of 
National  Biography.  XLIV  29. 

2)  Vgl.  H.  V.  Grauerts  Abhandlung  und  Ausgabe  S.  9S,  125  ff. 


246  Fortleben  der  Parodie 


Der  Sermo  de  Nihil  bringt  für  ungefähr  dasselbe  andere 
Gewährsmänner.  'Unde  Galienus  in  canonica  sua 
super  Lucam  scribens  ait  "Si  esurit  inimicus tuus eruc 
ei  oculum,  et  si  perseveraverit  pulsans  erue  ei  et  alterum. 
Qui  enim  isla  fecerit,  legem  adimplevit."  Gui  Rabanus 
concordans  extra  de  largitate  cap.  Nihil  quic- 
quam  ulli  dederis  "Si  sitit  inimicus  tuus,  appone 
ei  ligna  et  lapides  inquiens:  Die,  ut  lapides  isti  panes 
fiant.  Si  infirmatur  inimicus  tuus,  appone  ei  lapides  et 
sal,  so  hefft  he  de  gerichte  all.  In  his  duobus  mandatis 
universa  lex  pendet  et  prophetae."  Unde  dicit  Alexan- 
der in  canticis  canticorum  "Si  vis  perfectus  psse, 
vade  et  fac  tu  similiter".  Diese  paar  Proben  können 
zugleich  zeigen,  daß  die  beiden  Texte  eng  zusammen- 
hängen. Der  Sermo,  der  auch  die  Geschichte  von  Salo- 
mon  und  Marcolf  kennt,  steigert  den  Unsinn  der  Lectio 
zumeist  noch.  So  mag  diese  ein  älteres  Stadium  der- 
selben Scherzpredigt  vorstellen.  Einer  Neuausgabe  und 
längeren  Besprechung  würdige  ich  die  beiden  Texte 
einstweilen  nicht.  Anderseits  wäre  es  falsch,  sie  hoch- 
mütig ganz  unbeachtet  zu  lassen.  Die  Stücke  sind  weder 
witzlos  noch  wirkungslos,  sind  kulturhistorisch  und 
literarhistorisch  wichtig.  Man  muß  sie  hinzurechnen 
zu  den  alten  Predigtparodien,  den  scherzhaften  und  den 
boshaften  Messen,  zur  Goliassatire  vom  Schwelgerabte, 
zur  Collatio  iocosa  de  diligendo  Lieo,  zu  der  pastoralen 
Beichte  und  Verteidigung  des  Erzpoeten  u.  a.  Der  literar- 
geschichtliche  Wert  beruht  vor  allem  darin,  daß  sie  und 
ähnliche  Stücke  lange  in  der  komischen  Literatur  An- 
klang und  Nachhall  fanden,  auch  noch  als  bereits  die 
neuen  germanisch-romanischen  Sprachen  gesiegt  hatten. 
Haben  sich  die  humoristischen  Parodien  in  lateinischer 
Sprache  gegen  Ende  des  Mittelalters  nicht  mehr  zu 
großen  Leistungen  erhoben,  leben  sie  nur  bescheiden 
in  den  Fastnachtsscherzen  und  Studentenulken  weiter ,^ 
ihre  Wirkung  ist  noch  zu  spüren  bis  Abraham  a  Santa 
Clara  und  über  ihn  hinaus. 


REGISTER 


Äbschreckungsverfahren  mittelalter- 
licher Prediger  14  f.,  200 

Abt  vgl.  Angers,  Fürbitten  und 
Schwelgerabt 

Adam  168  f. 

—  von  Usk  1231 

'Ad  primum  morsmn'  185 

Aegidius  von  Corbeil  45 

'A  la  feste  sui  venue'  223 

Alanus  de  Insulis  61,  189 

Albinus   et  Kufinus,   Pseudo-Heilige 
44  ff. 

Alexander  de  Villa  Dei,   Doctrinale 
parodiert  155 

Alias   dum    synodum    clericis    cele- 
braret'  164 

Allecia  —  Alleluia  203 

Allen,  Ph.  S.  16,  143 

Alvarus  Pelagius  53 

Andreas  von  Regensburg  94 

Angers,  Abt  von  24  f. 

Apotheker  vgl.  Fürbitten 

'Arbore  sub  quadam'  168  f. 

Archipoeta  139  ff.,  174 

Archiprimas,  vgl.  Surianus 

Aretin,  Chr.  von  54 

Arthur  von  Bretagne,  Satire  auf  122 

'Artifex  qui  condidit'  212 

Arundelsammlung  oft 

Asinander,  Asinandrellus,  Asinel- 
mus  =  Anselmus  (Alexander  II.)  96 

Augustinparodie  40 

'Ave,  color  vini  clari'  176 

Azelinus  von  Reims  30 

Bacchus  190,  193,  201,  203  ff.,  207 
Bache,  bene  venies'  186 
Bachiarius  27 
Bale,  J.  245 
Balhorn,  Rother  95 
Ballerini  27 

Baudry  von  Bourgueil  169 
Bauernfeindliches  111  ff.,  117  f.,  177, 

204  f. 
Beelzebubschreiben  88  f.,  91 
Behrend,  F.  13 

Beichte,  parodist.  140  ff .,  187,  201, 
233 


Belialschreiben  90 

Benary,  W.  236  f. 

Benefictus  —  Benedictus  96 

Benzo  von  Alba  96,  120  f. 

Bernardino  von  Siena  15 

Berneker,  E.  124 

Bernhard  von  Clairvaux  145 

Bertalot,  L.  179  f.,  185,  244 

Bettellieder  212  ff.,  224 

Bibelparodien  38  f.  u.  oft 

Bischof,  vgl.  Fürbitten 

Boehme,  F.  M.  11 

Boemer,  A.  213  u.  ö. 

Bolte,  .1.  241  f. 

Bonifaz  VIII.,  Papst  64 

Brewer,  H.  27 

Brief-  und  Urkundenparodien  85  ff. 

Brunellus  233 

Bruno,  Bischof  79 

Bruno,  S.,  Carthus.  169 

Bürger  vgl.  Fürbitten 

Bundeslied  der  Vaganten  221  ff. 

Buoncompagni  184 

Burdach,  K.  41,  124  f. 

Burkhard  von  Ursberg  QQ,  96 

Caecilia  151  f. 

Caelius  Secundus  Curio  54 

Cambridger  Lieder  33  f. 

Carmina  Burana  oft 

carpinales  u.  dgl.  —  cardinales  61  f. 

Cato  82,  207 

Cena  Cypriani  19,  25—30,  33 

Cento  10  f. 

Chrodebert  von  Tours  24 

Ciphus,  Pseudo-Gott  207 

Clemen,  O.  163 

Clemens  L,  can.  6  parod.  161 

Clerus  et  presbyteri  nuper  consedere' 

159  ff. 
Codrus,  codrior,  codrizare  78 
—  des  Joh.  Kerckmeister  189 
Cole,  Ch.  A.  11 

Congaudentes  ludite'  145 
Cornefredus  —  Godefredus  96 
Cosquin  236 
'Cum  animadverterem'  187 

Cum  in  orbem  Universum'  221  ff. 


248 


Register 


Danae  und  Jupiter  150 

Decius  vgl.  Spielerlieder  und  Spieler- 
messen 

Deiter,  H.  162 

Deklination,  Bauern-  1121;  Liebes- 
153  f. 

Dekretparodien  40,  72  ff.,  159,  216  f., 
222 

Delepierre,  O.  16 

Deniens  —  Clemens  96 

Denifle,  H.  241  f.,  244 

'Denudata  veritate'  187 

Deutsche,  vgl.  Fürbitten 

Dichtung,  weltliche  und  geistliche, 
in  ihren  Wechselbeziehungen  11, 
143  f. 

Dietrich  von  Nieheim  94  f. 

Distinctiones  monasticae  et  morales 
60 

Dolus,  Pseudo-Heiliger  207 

Doxologie,  parodiert  187 

E.  du  Meril  54  u.  oft 

E.  Dümmler  54  f.,  63  u.  a. 

'Dum  Dianae  vitrea'  195  f. 

'Dum  domus  lapidea'  195  f.,  198  f. 

'Dum  transirem  Danubium'  153 

Ecbasis  captivi  229 

'Ecce  homo  sine  domo'  208 

Eckstein,  F.  A.  16 

Ehebrecherischen  Mönch,  Geschichte 
vom  171  ff. 

Ehrenthal,  L.  195 

Ehrismann,  G.  33 

Epistellektion,  parodiert  109  f.,  128, 
202 

Epitaphien  zu  Scherz  und  Spott  25, 
31,  41,  119  f.,  229,  231,  235 

Ermenrich  von  Ellwangen  31 

Ermini,  F.  37,  189 

Errorius  —  Gregorius  95  f. 

Eselsprose  137  f. 

Eselstestament  233  f. 

Evangelium  des  Geldes  44,  54  f. ; 
Mahmet38;  Ovids  157.  Vgl.  ferner 
Passiones  und  Sauf-  und  Spiel- 
messen 

Exemptionsprivileg,  humoristisches 
218  ff. 

Exkommunikationen,  parodistische 
157  f.,  213,  214,  216 

Ezechielschreiben  93 

Feifalik  155,  205,  224  u.  a. 
Feste,  der  Schulkinder,  der  Geist- 
lichen, der  Laien  19  f.,  136  ff.,  166 
Fichard,  J.  C.  von  55 


Fink,  Joh.  177 

Finke,  H.   59 

Flacius,  M.  Illyricus  80,  97  u.  ö. 

Flögel,  C.  F.  11 

Folleprandus,  FoUeprandellus  —  Hil- 
debrandus  (Gregor  VII.)  96 

Fortunatus,  Ven.  142  f. 

Frantzen,  J.  J.  A.   16,   77,   142,   154, 
221,  222 

Franz,  A.  15  u.  a. 

'Frigescentis  caritatis'  73,  146 

'Frigus  hinc  est  horridum  169  f. 

Frauen,  Satiren  auf  die    107,  165  ff. 

Fürbitten,  parodistische  47,  113,  184, 
191 

für:  Abt  115;  Apotheker  119; 

Bauern    117,    118;     Bischof    115; 
Bürger  117;  Deutsche  119;  Frauen 
117;  Fremde  119;  Geld  119;  Guar- 
dian 118;   Kaiser  115;  Kanoniker 
116;   Kardinäle  115;   Kirche  115; 
König  115;  Konkubinen  119;  Mön- 
che  115  ff. ;    Nonnen   116;   Notare 
118;  Official  118;   Papst  115;  Pa- 
stor   119 ;    Pfarrer    116 ;    Priester 
arme  118;  Prior  115;  Pröpste  116 
Provincial     118;      Reisende     115 
Schiffahrende  115;  Schreiber  118 
Streitende     115;     Suffragan    118 
Vaganten    115 ;     Vornehme     116 
Wucherer  117 

Ganszyniec  140 
Garsiastraktat  45 — 51,  191  f. 
Gebetsparodien   39,  108,  109,  111  f., 

113  ff.,  140,  144,  177,  201  ff. 
Geizhälse,  gegen  die  81  f..  213,   222 
Geld,   Macht  des   72,    81  ff.   —  Vgl. 

auch  Fürbitten 
Geldevangelium   13,   51,  54 — 65,  67, 

69,  123,  129,  209  ff. 
Genealogie   des  Antichrists  85 ;    der 

Hussiten  126,  128 
Generalkonsistorien,  parodistische 

62,  95 
'Gens  Romanorum  subdola'  52 
Genthe,  F.  W.  11 
Gerichtsbeamte,  parodiert  111 
Gesprächsbücher  22  ff. 
Giesebrecht,W.  219f.,  221,  223,  226 ff. 
Giraldus  Cambrensis  107  f.,  164 
Glaubenssymbole,  parodiert  81,  180, 

181  . 

Godefridus  de  Thenis  189 
Goliarden  14,  36  ff.,  166,  208  ff.,  217  f. 
Gohas  37,  189 
Gohasapokalypse  59,  192  f.,  195 


Register 


249 


Gorgiasurkunde  207  f. 
Grabmann,  M.  189 
Grammatikalisclie  Spielereien  75  ff., 

110,  1121,  152  ff. 
Grauert,  H,  von  G7  u.  ö. 
Grugnefrödus  —  Godefredus  9G 
Guardian  vgl.  Fürbitten 
Guido  von  Bazoches  236  f. 
Guiot  von  Provins  68 
Gundlach,  W.  55,  63  ff. 

Habsuchtsschreiben  124 

Haeßner,  M.  163  ff. 

Handschriften:  Aaran  177,  199; 
Amiens  75;   Augsburg  110;    Bam- 
berg 133;  Basel  114;  Bergamo  179 
Bern  92,  129 ;  Besan^on  55,  58,  63 
1721,   244;    Breslau   54,   55,  177 
Cambrai  59,  92;    Cambridge   172 
205  ;  Danzig  94  f.,  110 ;  Eichstätt  94 
Erfurt  110;  Erlangen  133;  Florenz 
70,  150,  215  ;  Frankfurt  55  ;  Fulda 
208;  Göttingen  97;  Graz  172;  Hal- 
berstadt 199  ff. ;      Hamburg    177  ; 
Hannover    133 ;      Hohenfurt    127, 
199  ff. ;  Ivrea  55 ;  Karlsruhe  92, 176, 
185 ;  Köln  244 ;  Leiden  167 ;  Leipzig 
541,  172;  London  55,  199  ff. ;  Lü- 
beck 55,  110 ;  Lüttich  153  ;  Magde- 
burg  88,  97 ;    Mailand  172 ;   Melk 
133;   München  54,  55,  58,  79,  81, 
88,  91,  110,  112,  154,  155,  164,  176, 
180,  181,  185,  199,   203,  204,  236, 
244;  Oxford  70,  88, 1721,  206,  214; 
Paris  55,   92,  167,   168,  172,   208, 
237;  Prag  124,  172,  199;  Quedlin- 
burg 133 ;  Reims  88 ;  Rom  55,  58, 
73,  88,  94,  108,  127,  172  1,  199  ff. ; 
Saint-Omer  146,  235  ;  Schlägel  55  ; 
Venedig    55,    112,    179;    Volterra 
178;  Voran  78,  159,  169;  Wien  55, 
88,  92,  94,  97,  126  f.,  235 ;  Woifen- 
büttel  97, 177,  234;  Zürich  199,  204 

Hardt,  H.  von  der  54  f.,  100 

Haureau,  B.  oft 

Heilige,  Pseudo-  206.  Vgl.  auch 
Ciphus,  Dolus,  Jnvicem,  Nemo, 
Nummus,  Paulisper 

Heiligenlegenden,  parodiert  241  ff. 

Heinrich  von  Neumünster  54,  67  f., 
245 

Heriger  von  Mainz  33 

Herveus  28  ^ 

Hildebert  von  Le  Maus  169 

Höfler,  C.  126  f. 

Holder-Egger,  O.  87 

Hollen,  Gottschalk  141. 


Hrabanus  Maurus  28 
Hubatsch,  O.  16,  63  u.  oft 
Hugo  von  Bariola  61,  79 
Hugo  Primas  von  Orleans  75,  217 
Huß,  Job.  126 
Hussiten  12,  126  ff. 
Hymnen  und  Hymnenparodien  11  f., 
39,  83,  147  1,  177  ff.,  203,  230 

Jaffe,  S.  169  u.  ö. 
Jakob  von  Jüterbogk  88 

—  von  Vitry  87  f. 
James,  M.  R.  106  u.  ö. 
'Jam  lucis  orto  sidere'  178  f. 
Jeremias  de  Montagnone  44,  78 
Ilvonen,  Eero  16 
Importunus  von  Paris  24 

'In  nova  fert  animus'  215 
Innocenz  IIL,  Papst  651,  74,  164 
'In  taberna  quando  sumus'  181 
Invicem,  Pseudo-Heiliger  244 
Joachim  de  ordine  Floris  61 
Joca  monachorum  22 
Johannes  de  Alta  Silva  145 

—  Chrysostomus  167 

—  Diaconais  28  ff. 

—  Dominici  62,  93  f. 
— •  der  Kleine  33 

—  von  Paris  189 

— ■  von  Salesbury  145 

—  Scottus  31 

Kaiser  vgl.  Fürbitten 

Kanoniker  vgl.  Fürbitten 

Kapitelsversammlungen,  parodiert 
159  ff. 

Kardinäle  vgl.  carpinales,  Fürbitten 
u.  Rom  Satiren 

Kasusspielereien  75  ff.,  153  ff. 

Katechismus,  Bauern-  112;  Mönchs- 
110;  Nummus-  81 

Katze,    Anekdote    von    der    kerzen- 
tragenden 236  f. 

Kemh,  Gall  199  f. 

Klagelieder,  parodiert  144  f. 

Kleidersorgen  212  ff. 

König  vgl.  Fürbitten 

Konkubinen  119,  159  ff. 

—  -Kapitel  164  f. 
Konzilsparodien  42,  97  f.,    101,    156, 

159,  162,  233 
Kozelka,  L.  114 

Kreuzzüge  u.  Vagantentum  221 1 
Küchenlatein  vgl.  Latein 

Laien,  in  der  Parodie  111  ff. 
Laistner,  L.  169  u.  ö. 


250 


Register 


Lapötre  27  ff. 

Latein,  Küchen-  189;  Scherz-  ii. 

Spott-  188  f.,  230 
Laurentius  von  Durham  167 
Leda,  Die  moderne  149 
Leviathanschreiben  92 
Leyen,  F.  von  der  33 
LiebesHteratur  142  ff. 
Lieus  206 

'Lingua  mendax  et  dolosa'  145 
Litaneiparodien  108,  109,  111,  120  f. 
Lorenz,  Ottokar  85  f. 
Loret,  Guil.  168 
Loserth,  J.  126 
Lucifer  91  f.,  97  ff.,  128 
Lucius  Pharisaeus  205 
Lud  wig  IX.,  König  von  rrankreichl89 

Mahmet  vgl.  Evangehum 
Maledictus  —  Benedictus  96 
Manitius,  M.  139  ff. 
Map,  Walter  39,  65  f.,  1061,  172 
Marca  —  Marcus  59  ff. 
Mariensequenz,  parodiert  175 
Mariologie  u.  Erotik  148 
Matthaeus  (Matheolus)  von  Boulogne 
168,  215 

—  von  Vendöme  78 

—  von  Westminster  123 
Mattioli,  ital.  Arzt  168 
Mazzoni,  G.  179 
Merdulfus  —  Eudolfus  96 
Meßparodien   39,  59,   126  ff.,  199  ff., 

231,  235 
Mever,  Wilhelm  9,  13  u.  oft 
Michael,  Erzengel  94,  95  f. 
Mico  von  St.  Riquier  31 
Mimus  19 
Missa  Gulonis  199 ;  potatorum  u.  de 

potatoribus  199 ;  sec.  simoniacos  59 
Mittellat.  Sprache  u.  Literatur  9  ff. 
Mönche  vgl.  Fürbitten 
Mönchsparodien  u.  -Satiren  89,  90  f., 

101  f. 
Morandus  von  Padua  178 
Morung,  Dietrich  134 
Mythologie  u.  Parodie  149  f. 

Nachahmungscharakter  der  mittel- 
alterl.  Literatur  9  ff. 

Namensverdrehungen  96 

Narrenfeste  136  ff.,  166 

Nemo,  Pseudo-Heihger  235,  240  ff . 

Nichts,  Unterhaltungen  u.  Unsinns- 
predigten vom  173,  198,  244 

Nigellus  Wireker  41,  45,  60,  1051, 
231  f. 


Nikolaus  von  Bibra  120 

—  Oresme  91 

'Nobilis  mei  miserere  precor'  144 
Nonnen  vgl.  Fürbitten 
Nostitz-Rieneck,  R.  von  50 
Notare  vgl.  Fürbitten 
Notker  Balbulus  32 

—  Labeo  237 
Novati,  F.  15  ff.  u.  oft 
Nullimani  —  Normanni  96 
Nummus  vgl.  Geld,  Geldevangelium 

Odo  von  Cheriton  87,  233 
Official  vgl.  Fürbitten 
Offizium  vgl.  Meßparodien  u.  dgl. 
Ordensregeln,  parodiert  40,  104  f.. 

1901,  2201 
Otto  von  Freising  38 

—  von  Lüneburg  40 

Ovid  als  Evangelist  157;  als  dekre- 
tierender Papst  159 

—  Metamorphosenanfang,  parodiert 
u.  imitiert  213  ff. 

Oulmont,  Ch.  170 

Oxforder  Studentenleben  206 

Pamphiluskomödie,    Anfang    imi- 
tiert 148 

Tange,  lingua,  necem  Petri'  12 

'Papa  pavor  pauperum'  79 

Päpste  vgl.  Fürbitten  u.  Pomsatiren 

Passio  Francorum  sec.  Flemingos 
123  f.;  JudaeorumPragensium  124f., 
iustitiariorum  122;  cuiusdam  mo- 
naclii  172  ff.;  raptorum  de  Slape- 
nicz  125;  domini  pape  sec.  mar- 
cam  auri  et  argenti  58 ;  sacerdotum 
129  ff.;  Scotorum  periuratorum  122  f. 

Pastor  vgl.  Fürbitten 

Paulisper,  Pseudo-Hei liger  109  f. 

Pavo  121 

Pegaletti  93 

Pelster,  F.  108,  127 

Pertz,  G.  H.  241 

Peter  von  Ailh  92  f. 

—  von  Blois  145,  172,  2141 

—  von  Corbeil  166  f. 

—  von  Limoges  240 

—  Patheshull  245 

—  de  Riga  189 
Pfaffensteuer  130 
Pfarrer  vgl.  Fürbitten 
Pharraphat  112 
Philipp  von  Greve  215 
Phyllis  u.  Flora  170 
Piers  Plowman  125 


I 


Register 


251 


'Plange  lingua,  detestando  12 
Tlenitudo  temporis,  venite,   exulte- 

mus'  225 
Plodricius  95  f. 
Poppel,  van  77 

Prandellus  —  Hildebrandus  96 
Predigten,  scherzhafte,  parodistische 

40,  112,  139,  206  f,  241  ff. 
Prenperger,  G.  112 
Primas  203.  Vgl.  auch  Arehiprimas, 

Hugo  u.  Surianus 
Priester,  arme  vgl.  Fürbitten 
'Primo  veris  tempore'  150 
Prior  vgl  Fürbitten 
'Prisciani  regula  penitus  cassatur* 

159  ff. 
Pröpste  vgl.  Fürbitten 
'Propter  Sion  non  tacebo'  52 
Provincial  vgl.  Fürbitten 
Pürstinger,  Berthold,  Bischof  von 

Chiemsee  53 

Quadrat!  124  f. 
Quarkemboldus  95 
Quasimodogeniti  142,  146  f. 
'Quicunque  vult  esse  f rater'  180 
'Qui  potest  capere'  73 
'Qui  seminant  in  lacrimis'  71 
'Qui  seminant  in  loculis'  70 
'Quondam  fuit  f actus  festus'  188 

Radulfus  240  f. 
'Regula  bursalis'  220 
Regula  b.  Libertini  221 
Reisende  vgl.  Fürbitten 
Remiremont,   Liebeskonzil   von   156 
Rezepte  zu  Scherz  und  Spott  41, 100  f., 

168,  231  f.,  242 
Ribaldi  199,  204,  206 
Pichard,  Goliarde  217 
Rokyzana,  Simon  von  127 
Romsatiren  43  ff. 
Rumor  novus  Angliae*  159  ff. 
Ruodlieb  41 
'Rusticus  dum  asinum'  234 

Sackur,  E.  50 

SaHmbene  39,  61,  86  f.,  184 

salmo  —  Salomo  189 

Salomo  et  Marcolfus  23  f.,  235  ff.,  246 

salsamenta  —  sacramenta  189 

Satansbrief  92 

Satire  in  EiTgland  121  ff. 

Sauf-  u.  Spielmessen  199  ff. 

Säuferorden  208 

Scherzpredigten  vgl.  Predigten 

Schiffahrende  vgl.  Fürbitten 


Schillmann,  F.  125 

Schmeller,  J.  A.  54  u.  ö. 

Schneegans,  H.  13,  45,  49  f. 

Schneekind  33 

Schreiber  vgl.  Fürbitten 

Schreiber,  J.  224 

Schrijnen,  J.  154 

Schulparodien  40 

Schwelgerabt  189  ff. 

'Scribere  clericulis'  155 

SeduHus  Scottus  30  f.,  229 

Seligpreisungen,  parodistische  69  ff., 
192,  210 

Sermons  joyeux  139 

Seyler,  Job.  133 

'Sex  statuit  casus'  76 

'Si  linguis  angelicis'  147 

'Si  quem  Pieridum'  196  ff. 

'Si  quis  Deciorum'  196  ff. 

Sit  Deo  gloria,  laus,  benedictio  166  ff. 

Spiegel,  N.  218 

Spielerlieder  197  ff. 

Spielermessen  14  f.,  62,  199  ff. 

Spottrhythmen  24 

Stephanus  de  S.  Georgio  240  f. 

Stercorentius,  Stercutius  (für  Gre- 
gor VII.)  96 

Straccali,  A.  16  u.  ö. 

Stramen  —  Amen  oft 

Strecker,  K.  27  f.,  30 

Streitende  vgl.  Fürbitten 

Streitgedichte  156  ff.,  169  ff. 

Studentenleben  206,  208  ff. 

'Sua  Simon  dat  decreta'  72 

Suchier,  Walter  22  f. 

Süßmilch,  H.  16,  148,  222 

Suffragan  vgl.  Fürbitten 

Suger  145 

Surianus  219 

Testamentum  asini  234 

—  porcelh  234  f. 

Teufelsbriefe  62,  85  ff.,  101  f.,  129 
Theele,  J.  244 

Theoduli  ecloga  128 
Theodulf  von  Orleans  30 
Thomas  von  Aquin  145,  245 

—  von  Chantimpre  86  f. 
Thompson,  E.  M.  123  f. 
Tierbrief  121 

Tierdichtungen    30  f.,   41  f.,   104  ff., 

229  ff. 
Titivillus  15 

Tobler,  Andr.  aus  München  208 
Totenfeiern,  parodiert  233 
Traube,  L.  9 
Tricotel,  E.  167 


252 


Register 


Tropus  der  Liturgie,  nachgeahmt  108 
Trinken   139,    141,    vgl.  auch   Sauf- 
messen 
Trinkheder  25,  39,  41,  174  ff. 
Tu  das,  Bache,  loqui'  186 
Türhüter,  päpstliche  51  ff. 
Turbanus  —  Urbanus  96 

Unterhaltungsliteratur  229 
Urkundenparodien  40,  85  ff.,  207  f. 
'Utar  contra  vitia'  59,  73 

Vaganten  36  ff.,  111,  115,  155 

Vagantenorden  217  ff. 

Vaterunser,   parodiert  108,  204,  205 

V^erbum  bonum  et  suave*  175 

Vergil,  imitiert  144 

—  parodiert  32 

'Versa  est  in  luctum'  144  f. 

'Vexilla  regni  prodeunt'  12 

Vincenz  von  Beauvais  86  f. 

'Vinum   bonum    et   suave'   u.    ähnl. 

175  ff. 
'Vinum  dulce  gloriosum'  178 
Virgilius  Maro  grammaticus  21  f. 
Visionen  33,  96 


Vita  Yen.  Odae  145 

—  s.  Oswaldi  regis  metrica  214 
Vogt,  F.  11 

Vornehme  vgl.  Fürbitten 

Wahlen,  parodiert  233 
Walter  von  Chatillon  144 

—  subprior  216  f. 

Walther,  H.  67,  163,  169  u.  ö. 
Wattenbach,  W.  16  f.  und  oft 
Werner,  Jak.  oft 
Wiclif,  J.  126,  128 
Wilhelm  de  Conflatis  217 

—  von  Malmesbury  86 

—  von  Saint-Amour  108  f. 

—  von  Tyrus  235,  237 
Wiimart,  A.  75 

Winterfeld,  P.  von  9,  31  f  u.  ö. 
Wortspielereien  59  ff. 
Wright,  Th.  16  u.  ö. 
Wucherer  vgl.  Fürbitten 

Ysengrimus  104  f.,  229  f. 

Zeno  von  Verona  27 

Zitate,' fingierte  112,  190,  245  f. 


1 


Als  Anhang  zu  dem  vorliegenden  Werke  erscheint: 

BEISPIELE  ZUR 

LATEINISCHEN  PARODIE 

DES  MITTELALTERS 


Inhaltsverzeichnis: 

1.  Geldevangelium. 

2.  Aus  der  Satire  des  Franziskaners  Petrus. 

3.  Nummuskatechismus. 

4.  Mönchskatechismus. 

5.  Bettelmönche. 

6.  Gereimtes  Vaterunser  für  die  Laienbrüder. 

7.  Bauernkatechismus. 

8.  Leidensgeschichte  der  Richter  Edwards  I. 

9.  Leidensgeschichte  der  Franzosen  bei  Courtrai. 

10.  Leidensgeschichte   dei-   schottischen  Eidbrecher. 

11.  Leidensgeschichte  der  Prager  Juden. 

12.  Antihussitische  Messen. 

13.  Erotischer  Grammatikbetrieb. 

14.  Die  Geschichte  vom  ehebrecherischen  Mönch. 

15.  De  diligend  Lieo. 

16.  Verschiedene  Sauf-  und  Spielmessen. 

17.  Spielermesse  des  Benediktbeurer  Codex. 

18.  Bacchantische  Evangelienperikope. 

19.  Geldevangelium  Pariser  Studenten. 

20.  Rezept  gegen  die  Kahlköpfigkeit. 


In   den 

Veröffentlichungen 

der   Bayerischen   Akademie 

der   Wissenschaften   ^   Verlag    der 

Bayerischen   Akademie   der   Wissenschaften, 

in  Kommission  des  G.  Franz'schen  Verlags  (J.  Roth)  ^ 

erschienen  von  Prof.  Dr.  Paut  Lehmann  folgende  Schriften 


I.  Aufgaben  und  Anregungen  der  lateinischen  Philologie  des  Mittelalters, 
IL  Wert  und  Echtheit  einer  Beda  abgesprochenen  Schrift. 
III.  Neue  Bruchstücke  aus  ^ Weingartener"  ItalasHandsciiriften. 
IV.  Mittelalterliche  Handschriften  des  K.  B,  Nationalmuseums  zu  München. 
V.  Ein  Bücherverzeichnis  der  Dombibliothek  von  Chur  aus  d.  Jahre  1457. 
VI.  Haushaltungsaufzeichnungen  eines  Münchener  Arztes  aus  d.  XV.  Jahrh. 
VII.  Holländische  Reisefrüchte  I-III. 
VIII.  Corveyer  Studien. 


GOTTFRIED  SALOMON 

DAS  MITTELALTER  ALS  IDEAL 
IN  DER  ROMANTIK 


Wesen  und  geistesgesdiiditliche  Bedeutung  der  Romantik  stehen  heute 
in  einem  Mittelpunkt  der  wissenschaftlichen  Forschung.  Den  Arbeiten 
von  Ellkuft  und  Nadler  schliefet  sich  hier  weiterführend  Salomon  an  mit 
seinem  „Mittelalter  als  Ideal  in  der  Romantik".  Salomon  legt  die  Ge» 
schichte  dieser  Idealbildung  nach  vorwärts  und  rückwärts  dar  in  ihren 
Wurzeln  und  Ausläufern,  er  greift  bis  in  die  Renaissance  zurück  und 
führt  herab  bis  zum  Sozialismus  und  Positivismus.  Dabei  wird  die  Ro^ 
mantik  nicht  einseitig  literarisch  gefaxt,  sondern  sie  ist  für  Salomon  eine 
universal'geistesgesdiichtliche  Erscheinung,  die  sidi  in  Kunst,  Literatur, 
Recht,  Politik,  Wirtschaft  usw.  auswirkt,  auf  all  diesen  Gebieten  wird  die 
Idealbildung  aufgezeigt.  Salomon  gibt  mehr  als  der  Titel  erwarten  läfet, 
von  seiner  Einstellung  aus  ist  das  Büchlein  eine  anregende,  lebendig 
geschriebene  Übersicht  ü'^er  die  Romantik  und  ihre  Stellung  in  der 
Deutschen  Geistesöeschichte. 


PAUL  ]OACHIMSEN 

DER  DEUTSCHE  STAÄTSGEDANKE  VON 

SEINEN  ANFÄNGEN  BIS  AUF  LEIBNIZ 

UND  FRIEDRICH  DEN  GROSSEN 

LXXXI  und  276  Seiten  Oktav 
(Aus  der  Sammlung:  Der  Deutsche  Staatsgedanke) 

• 

Man  ist  vielfach  geneigt,  nationalpolitisches  Denken  und  Handeln  für  eine 
Frucht  des  neunzehnten  Jahrhunderts  zu  halten.  Da  wird  Joachimsens 
Buch  auf  viele  wie  eine  Entdeci:ung  wirken.  Hier  sehen  wir,  da6  es  be» 
reits  im  Mittelalter  einen  deutschen  Staatsgedanken  gibt,  der  sich  schon 
frühe  deutlich  ausspricht  und  seit  dem  Investiturstreite  sich  mehr  und 
mehr  konsolidiert.  Nur  eine  an  westlicher  Entwiciclung  orientierte  Staats» 
Wissenschaft  konnte  das  übersehen.  Wie  sich  dann  das  Staatsdenken 
theoretisch  und  praktisch  durch  die  Jahrhunderte  hin  entwici<;elt  über 
die  Reformation  zum  Zeitalter  des  Absolutismus,  wie  sich  unter  Friedrich 
dem  Großen  die  Problemstellungen  des  neunzehnten  Jahrhunderts  an=» 
bahnen,  zeigt  die  großangelegte  gehaltvolle  Einleitung  des  Herausgebers. 
Eine  Übersicht  der  Texte,  die  sämtlich  in  deutscher  Übersetzung  geboten 
werden,  mag  ein  Bild  von  dem  Reichtume  des  Dargebotenen  geben. 

Verlangen  Sie  Sonderprospekt  der  Sammlung. 


DEUTSCHE  MARIENLIEDER 

Eine  Anthologie  •  Geschrieben  von  Hans  Pape 
(Aus  der  Sammlung :  Münchener  Scriptor»Drucke) 

Von  einem  der  feinsten  Kenner  der  geistliciien  Dichtung  wurden  die  sciiön» 
sten  Perlen  der  Mariendichtung  ausgewählt  und  von  Hans  Pape  wahrhaft 
würdig  geschrieben  und  mit  schönen,  innigen  figuralen  Vignetten  ge» 
schmückt.  So  entstand  ein  Büchlein,  an  dem  jeder  seine  Freude  haben  wird, 
ein  Büchlein,  welches  in  keinem  katholischen  Hause  fehlen  sollte. 

Die  Sammlung  „Münchener  ScriptorsDrucke"  ist  mit  einmütiger  Zustim» 
mung  aufgenommen  worden.  So  schrieb  z.  B.  Professor  Eichhorn  in  der 
Konstanzer  Zeitung:  „Diese  kleinen  Kunstwerke,  eine  ganz  neuartige 
Sdiöpfung,  sind  im  Geiste  des  alten  Kunsthandwerkes  hergestellt-,  jedes 
Werk  hat  ein  Künstler  eigenhändig  handschrii'tlich  geschrieben,  und  vom 
selben  ist  der  Buchschmuck  und  der  Einband  geschaffen  -,  ein  durchaus  har« 
monisches  Werk. "  Und  Dr.  Hans  Benzmann  urteilte  in  der  Königsberger 
Hartungsdien  Zeitung:  „Es  ist  wirklich  ein  seltener  Genu^,  diese  edel» 
sten  und  einfachsten  Poesien  des  Herzens  in  diesen,  man  kann  wohl  sagen, 
mit  der  Kunst  des  Herzens  ausgefertigten  Schriftzügen  zu  lesen."  Die 
„Deutschen  Marienlieder"  werden  die  früheren  Bändchen  der  Sammlung 
an  Schönheit  noch  übertreffen. 

Verlangen  Sie  den  ausführlichen  Prospefit  über  die  Sammlung. 


G.  P.  SANTE  DA  PALESTRINA 

MISSA  PAP^  MARCELLI 

Herausgegeben    und   eingeleitet   von   Dr.  Alfred  Einstein 
(Aus  der  Sammlung:  Musikalische  Stundenbücher) 

Ein  Meisterwerk  der  Weltliteratur,  das  man  einstweilen  noch  mehr  vom 
Hörensagen  kennt  als  aus  der  Praxis,  das  aber  nunmehr  der  Praxis  wirk« 
lieh  erschlossen  sein  dürfte.  Ein  gewissenhaftes,  gut  orientierendes  Vor» 
wort  hat  Dr.  Alfred  Einstein,  der  bekannte  Münchener  Musikhistoriker,  ge» 
schrieben.  .  .  Der  Notentext  geht  auf  die  Originalausgabe  von  1567  und 
eine  spätere  von  1598  zurück;  die  Partitur  ist  mit  modernen  Schlüsseln 
versehen  und  auf  drei  Systeme  zusammengedrängt.  Basler  Nachrichten 
Die  vollständig  in  übersichtlicher  Stimmführung  nachgedruckte  Messe  wird 
auch  dem,  der  des  Partiturlesens  niciit  kundig  ist,  aber  edler  Musik  begei» 
Stert  anhängt,  eine  Quelle  hohen  Genusses  sein.  Bayerischer  Kurier 
Ein  wahres  Taschenbuch,  das  man  mitnimmt,  um  in  ihm  an  irgendeinem 
stillen  Planchen  mit  Palestrina  zu  beten.  Einsteins  erschöpfende  Einlei» 
tung  ....  behandelt  Legende,  Geschichte  und  Bedeutung  des  Werkes, 
dessen  Vollkommenheit  nur  ein  liebevolles  Studium  erkennen  lä6t. 

Monatsschrift  für  Gottesdienst  und  kirchliche  Kunst 

Verlangen  Sie  den  ausführlichen  Prospefit  über  die  Sammlung. 


G.  Franz'sdie  Budidrudcerei  (G.  Emil  Mayer)  Mündien. 


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